Ein Sonnenbad
Wenn Alice im Bikini im Garten lag, schützte die Palisade sie vor den neugierigen Blicken der Nachbarin. Sie räkelte sich und turnte, ohne ein lästerliches Gemurmel auszulösen, das zwar nicht hörbar wäre, dessen Inhalt sie aber aus dem flüchtig auftauchenden Stirnrunzelgesicht hätte lesen können. Sie genoss die kleine Geborgenheit auf dem kleinen Rasen vor ihrem kleinen Haus bis zu jenem Augenblick, in dem sie zum ersten Mal spürte, dass ein fremdes Auge auf ihrem Körper ruhte.
Irritiert musterte sie die geflochtene Palisade, um die Schwachstelle zu entdecken, durch die der unerwünschte Blick in ihr Leben eindrang. Da war jedoch kein Loch, keine Ritze zu sehen, nur, sie musste lächeln, ein paar Kurven in der Oberflächenstruktur, die sich zu einem Auge formten. Dieses "Auge" hatte sie wohl beiläufig wahrgenommen und es hatte sich unbeaufsichtigt in ihrem Kopf zu einem Menschen zusammengesetzt. So oder ähnlich mussten jene Naturreligionen entstanden sein, die in allen Dingen eine Seele wähnten.
Erleichtert über ihre Erkenntnis und mit einem Anflug von Übermut ging sie zur Palisade, legte ihre Hände auf den warmen Kunststoff, schloss die Augen und versuchte die "Seele" zu spüren. Würde ein leiser Strom durch ihren Körper wandern, sich im Bewusstsein in ein Wispern wandeln, das von der fremdartigen Befindlichkeit einer Palisade kündete?
Nach einer Zeit, die ihr angemessen erschien, brach sie den Kontakt ergebnislos ab. Wie Alice zurück zu ihrer Liege ging, zurück zu ihrer kleinen Geborgenheit in ihrem kleinen Garten, beschattete sie ein Anflug von Bedauern über das Ende des kleinen Abenteuers.
Da bohrte sich der nächste Blick in ihren Rücken wie ein schwacher Röntgenstrahl, der, weder sicht- noch spürbar, die Haut trotzdem kribbeln liess, weil allein schon die Vorstellung seines zerstörerischen Potenzials einen Effekt erzeugte.
Fest entschlossen, ihre fehlgeleiteten Empfindungen durch eine Begegnung mit der Wirklichkeit zu korrigieren, drehte sie sich um und sah das zweite Auge auf der Palisade.
'Ja klar, auch Palisaden haben zwei Augen', dachte sie lächelnd und versuchte sich einzureden, es vorhin einfach nicht bemerkt zu haben, was ihr nicht gelang, denn die beiden Augen lagen so dicht nebeneinander, dass keines zu übersehen war.
Wäre ihr Blick ein Suchscheinwerfer, er hätte jeden Falter am Nachthimmel aufgespürt, mit solcher Gründlichkeit musterte sie die Palisade, um ja die Geburt des dritten Auges nicht zu verpassen. Doch die Palisade gab sich keine Blösse, was nicht weiter verwunderlich war, da sie wohl nichts besass, was hätte handeln können.
Alice beschlich das unheimliche Gefühl, sich allmählich von ihrem kleinen Alltag zu verabschieden, wenn sie noch lange auf diese Wand starrte. Also beschloss sie, zur Vernunft zurückzukehren, sich auf die Liege zu pflanzen und ihren Geist zu fluten mit dem Gedanken an das Erdbeer-Eis, das sie sich anschliessend gönnen würde.
Als sie nach einem kurzen Schlummer aufwachte, war ihr klar, dass nun ein drittes Auge sie betrachten würde. Sie sah noch nicht hin, versuchte erst den damit verbundenen Schock zu dämpfen, indem sie sich sagte, dass erstaunliche Veränderungen zum Leben gehörten. So entwickelte sich eine kleine, grüne Kugel zu einer grossen, roten Kirsche und ...
Sie ertrug ihr Besänftigungsgeschwätz nicht länger, warf sich herum und empfing den Anblick einer Palisade, die vollständig mit Augen bedeckt war. Während sie sich, aufgespiesst von tausend Blicken, nicht mehr bewegen konnte, schlich das kalte Entsetzen wie eine Schlange in ihren Unterleib.
Ihr Bewusstsein war eingeklemmt zwischen Blöcken aus gefrorener Angst, die jederzeit schmelzen und einen schwärzlichen Fluss bilden konnten, dessen Strömung sie unaufhaltsam dem Strudel des Wahnsinns entgegentreiben würde. Sie atmete flach, damit keine Erschütterung den Schmelzprozess auslösen konnte, und quetschte sich zwischen den Blöcken durch zu einem freien Plätzchen, auf dem bitte irgendein Gedanke wie ein rettendes Floss Gestalt annehmen mochte.
Die Quelle. Das Wort senkte sich wie eine schimmernde Seifenblase auf das freie Plätzchen. Die Quelle, der Ursprung des Übels war diese Palisade. Und dieses Ding war ihr ausgeliefert.
Ihre Beine bewegten sich und trugen sie zum Gerätehäuschen, von wo sie mit einer Säge zurückkehrte, mit der sie die Stützpfosten der Palisade dicht über dem Boden durchtrennte, sodass die dünne Kunststoffwand alsbald vornüber kippte, sozusagen aufs Gesicht, womit den Augen ihre Macht genommen war.
Alice rollte die Palisade ein wie einen Teppich und fesselte sie mit mehreren Schnüren. Sie stellte den rechten Fuss auf ihr Opfer und hoffte, wenigstens ein Echo jenes Triumphes zu spüren, den die Grosswildjäger bei dieser Pose empfinden müssen. Da war jedoch nur ein leichtes Zittern, das ihre Nachbarin zum Glück nicht sehen konnte, wenn auch dieses eine Augenpaar, angesichts der Masse zu ihren Füssen, von geradezu absurder Bedeutungslosigkeit war, sodass Alice ein kurzes Lachen ausstiess, sich aber nicht traute, hinüberzuschauen in jene kleinkarierte Welt aus Missgunst.
Erschöpft von den heftigen Gefühlen, legte Alice sich wieder auf ihre Liege, dieses Mal mit dem Rücken zum Haus. Denn sie hatte dort flüchtig die Form eines Auges wahrgenommen.