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Ein Sommermorgen
Sie schlägt die Augen auf. Albin ist nicht mehr da. Sie ist allein.
Er hat ihn aus ihren Armen genommen, seinen letzten Atemzug aus ihm herausgepresst und den leeren Körper ihr überlassen. Sie ist ihm so nah gewesen, dass er im Vorbeistreifen auch einen Teil von ihr mitgenommen hatte. Aber sie muss weiterleben.
Mehr kann sie noch nicht fühlen an diesem Morgen. Ihre Bewegungen sind schlaftrunken, als sie zur Balkontür geht und diese weit öffnet. Die Luft ist mild. Ein lauer Wind verschiebt die zarten Nebelschleier des frühen Morgens hierhin und dorthin, so dass das Licht der Sonne mal gedämpft mal leuchtender zu ihr vordringt.
Wie jeden Morgen brüht sie sich einen Becher Kaffee auf. Sie nimmt den roten Becher mit ins Wohnzimmer. Morgens ist es immer der rote. Er passt genau in ihre Hände und die Farbe dringt über die Augen bis ins Herz. Sie öffnet auch den zweiten Türflügel und schiebt den Sessel davor, setzt sich, zieht die Füße unter sich und schaut über Bäume und Wiesen im Morgendunst. Der Kaffee ist heiß, zu heiß. Trotzdem versucht sie vorsichtig davon zu trinken. Er hilft ihr beim Wachwerden. Der Duft umschmeichelt Nase und Gehirn mit Behaglichkeit und hält die Erinnerung fern.
An diesem frühen Sommermorgen ist es noch still. Draußen zirpt leise ein erster Vogel. Der zarte Ton vertieft die Stille des Morgens. Ebenso wie das Rauschen eines entfernt vorbeifahrenden Autos. Sie schließt die Augen, lässt sich verzaubern und genießt die träge Morgenstunde, die nichts von ihr fordert. Ihre neue Einsamkeit schenkt ihr eine Freiheit, die sie so nie gekannt hat. Sie muss sich nicht mehr kümmern und sorgen. Sie muss nicht mehr bis zur völligen Erschöpfung funktionieren.
"Dolcefarniente", denkt Lena. "Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, das süße Nichtstun und es gefällt mir."
Langsam schafft es die Sonne den Dunst zu vertreiben. Sanft erwärmt sie ihr die Glieder und die Seele. Sie fühlt die Trauer aus dem Herzen aufsteigen. Noch ist es eine weiche, erlösende Trauer, die ihre Augen überfließen lässt.
Abrupt steht sie auf, mehr als diese weiche Trauer kann sie nicht ertragen, will sie nicht fühlen. Lena geht ins Bad und wäscht die Tränen ab. Den Stein in der Brust kann sie nicht abwaschen, aber zudecken, wegschieben. Sie versucht es jedenfalls. Jetzt könnte sie alles tun, wofür sie vorher nie Zeit hatte, aber sie kann sich nicht aufraffen; sie hat keine Kraft mehr. Sie geht zurück ins Wohnzimmer und lässt sich wieder auf den Sessel fallen.
Die Türglocke schrillt. Sie will niemanden sehen. Aber der drängende Ton der Klingel zwingt sie aufzustehen, drängt sie dazu, die Tür zu öffnen.
Sie blickt in sein altes Gesicht, auf dem sich tausend Lachfältchen ausbreiten, als sie es anschaut. Seine blaugrauen Augen leuchten warm und seine Hand streckt ihr eine Schale mit Erdbeeren entgegen.
"Guten Morgen, ich war auf dem Markt, die sind für dich."
Mit beiden Händen nimmt sie die Schale entgegen und tritt unwillkürlich zurück, als er sich ins Zimmer schiebt.
"Wie geht es dir?"
Seine Stimme ist rau und laut. Viel zu laut. Sie kratzt auf ihrer Seele.
" Das Wetter ist so schön."
Sie kann nur flüstern: "Ja", sagt sie und geht mit den Erdbeeren in die Küche.
"Hoffentlich geht er bald wieder", denkt sie. Ihr Kopf und ihr ganzer Körper sträuben sich gegen sein Drängen.
"Kommst du mit an den Strand?" fragt er.
Langsam steigt ein ärgerliches Gefühl in ihr auf und verdrängt die Melancholie aus ihrem Herzen.
"Ich weiß, nicht", murmelt sie nur und wendet sich ab.
"Komm doch mit. Es wird dir gut tun."
Sie antwortet nicht, zieht sich wieder in Ihren Sessel zurück, aber die Morgenstimmung läßt sich nicht wieder herbeiholen. Die Sonne scheint jetzt grell und heiß auf ihren Lieblingsplatz. Sie schließt die Augen. Wenn er mich bloß in Ruhe lassen würde.
Er zieht sich einen Stuhl heran und legt seine Hand auf ihre. Vorsichtig streicht er mit der anderen über ihr vom Schlaf zerzaustes blondes Haar.
"Nimm den Badeanzug mit, das Wasser ist ganz warm."
"Später", sagt sie "vielleicht."
Er steht auf. "Ich hole dich in einer halben Stunde ab!"
Endlich ist er fort. Sie sitzt in der Sonne, die heiß auf sie herunter brennt. Jetzt ist ihr Körper aus seiner verschlafenen Taubheit erwacht. Sie spürt, wie ihr Blut pulsiert. Sie spürt das Pochen ihres Herzens und ein angenehmes Ziehen in den Lenden. Erstaunt nimmt sie die Regungen ihres Körpers wahr.
Während sie noch bemüht ist die Gefühle ihrer Seele zuzudecken, reagiert ihr Körper schon wieder. Unangebracht, wie sie findet. In ihrem Kopf tauchen bruchstückhafte Erinnerungen auf an die dunklen Stunden, in denen sie über ihn gewacht hatte. Der Sarg, der langsam im Feuer verschwindet. Die Trauerfeier hatte sie überstanden, ohne Gefühle aufkommen zu lassen.
Lena steht auf, eine Abkühlung wäre vielleicht gut. Sie zieht den Badeanzug an und ein Strandkleid darüber, schlüpft in die Sandalen, legt sich ein Handtuch um die Schultern.
Bevor die Türklingel wieder schrillt, geht sie nach draußen. Dort steht sie wartend im Halbschatten, den die kleinen Blätter einer Birke auf den Gehweg werfen. Sie lehnt wartend an dem warmen Stamm, doch am liebsten würde sie wieder umkehren. Sie will diesen Mann nicht. Und sie will nicht erinnert werden. Es ist zu früh. Es geht zu schnell. Sie will alleine sein, ohne Ziel die Zeit verinnen lassen. Unbemerkt hinüber gleiten in ihr neues Leben.
Langsam löst sie sich vom Stamm, den Kopf gesenkt, die Augen schwimmen.
Behutsam nimmt er ihre Hand. Sie schaut ihn nicht an, sie will nicht weinen. Ganz langsam geht er mit ihr den abschüssigen Pfad hinunter. Eine leichte Briese trocknet ihre Augen und spielt mit ihrem Haar. Nicht weit, am Fuße der sanft abfallenden Düne, liegt glitzernd das Meer. Wo der Meeresboden zum flachen Strand ansteigt, bricht sich leise rauschend die flache Dünung. Sie löst ihre Hand aus seiner und geht vorsichtig durch den heißen Sand. Unterwegs streift sie Kleid und Schuhe ab.
Dann taucht sie ein in das blaugrüne, klare Wasser. Sanft, wie mit hundert kleinen Händen berührt es sie, jedes Fleckchen ihrer Haut. Angenehm und kühl. Lena spürt, wie das Meer sie trägt, auch den Stein in ihrem Innern.
Beide, Trauer und Mißmut, sind besänftigt, als sie aus dem Wasser steigt. Er erwartet sie und reicht ihr das Handtuch. Die Geste rührt sie, auch wie er fürsorglich ihre Schuhe aufsammelt und sich auf eine Bank am Rande der Dünen setzt. Mit einer Handbewegung bietet er ihr den Platz neben sich an. Lena streift das Kleid über und setzt sich auf ihr Handtuch. Leise fragt er sie, wie es ihr jetzt gehe. Sie lächelt:
"Viel besser", sagt sie. Dann schweigen beide.
Lena zieht die Beine an, legt die Arme um die Knie. Sie schaut über die weite glitzernde Wasserfläche, spürt die zarte Brise und lässt ihre Gedanken fließen.
Das Schlimmste, was passieren kann, ist schon passiert. Sie hat es erlebt, ohne zu zerbrechen. Sie ist ihm begegnet, dem Tod, er hat ihr viel genommen, ihre Welt verändert. Aber er hat auch etwas gegeben: die Freiheit, einen neuen Weg zu suchen.
Sie seufzt tief auf, nimmt die Füße von der Bank und steht auf.
"Wollen wir dort im Strandpavillon ein Eis essen?", fragt er mit seiner rauhen Stimme. Sie nickt.