Ein sinnloser Mord
Ich stehe am Fenster und sehe zu, wie der Abend in die Strasse eindringt. Mein Kopf an die Fenstervorhänge gelehnt, betrachte ich die nach Hause eilenden Leute. In meiner Nase ist der Geruch von Männerparfüm. Es ist das Parfüm meines Mannes, des Mannes, den ich einst vergötterte und der meine Tochter umgebracht hat. Ich hasse diesen Geruch. Ich ziehe den Pullover aus, der danach riecht, und schmeisse ihn in den Abfalleimer. Tränen rollen mir über die Wangen, und ich spüre die Wut wieder in mir hochsteigen. Zwei Tage ist es nun her, seit ich hier bin, mich hier verstecke.
Anita war ein fröhliches Mädchen. Mit ihren goldblonden Locken sah sie aus wie ein Engel. Sie war erst drei Jahre alt, und ich liebte sie sehr. Tom, mein Mann, war da leider anderer Auffassung. Er wollte zwar unbedingt ein Kind, aber nicht ein Mädchen, sondern einen Jungen. Mädchen seien, wie er sagte, zu nichts nütze. Eines Tages würden sie ja doch heiraten und fortziehen. Alle meine Versuche, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterten.
Tom wünschte sich sehnlichst einen Jungen, der später in seiner Firma seine Nachfolge antreten konnte und somit die Tradition fortsetzen würde. Ich achtete nie so sehr auf seine Reden, ich freute mich einfach auf das Kind, als ich schwanger wurde- mir war egal, ob es jetzt ein Mädchen oder ein Junge würde. „Wenn es ein Mädchen wird, wird es Tom doch auch lieb haben“, dachte ich. Doch es war nicht so. Schon bei der Geburt merkte ich, dass er enttäuscht war. Enttäuscht von mir und dem kleinen, hilflosen Ding, das ich im Arm hielt und das doch auch nichts dafür konnte, dass es ein Mädchen war.
Tom kümmerte sich nie sehr um Anita, wurde zusehends übellauniger und liess seine ganze Wut an mir und ihr aus. Er war oft wegen irgendwelcher Kleinigkeiten wütend oder wenn irgendwas im Geschäft nicht ganz so lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Oft betonte er in seinen Wutanfällen, dass er viel ausgeglichener wäre, wenn er einen Sohn hätte. Langsam registrierte ich, dass es ihm wirklich ernst war mit seinem Jungen. Wollte ich ihm am Abend etwas über meinen Tag mit Anita erzählen, wandte er sich ab und hörte mir nicht zu oder lief einfach weg.
Ich wollte kein weiteres Kind mehr, das sagte ich ihm schon vor der Geburt. Schon mit Anita fühlte ich mich manchmal überfordert, doch ich liebte sie- im Gegensatz zu Tom, von dem ich mich zusehends zurückzog. Ich dachte schon lange daran, mich von ihm zu trennen, hatte aber nie den Mut dazu. Tief in mir keimte noch immer die Hoffnung, es würde einmal wieder so sein wie früher.
Doch es wurde nie mehr so wie früher, und nach einigem Hin und Her nahm ich allen Mut zusammen, sprach ihn eines Abends darauf an und sagte ihm, dass ich mich von ihm scheiden lassen wollte.
Tom sah mich verwundert an, er hatte keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte. Er beteuerte immer wieder, dass er mich doch über alles liebe, dass er mich brauchen würde und ich ihn nicht verlassen dürfe. Ich versuchte, ihm meine Gründe zu erklären, doch als er kein Verständnis für meine Lage zeigte, eskalierte unser Streit. Ich machte ihm Vorwürfe, er kümmere sich weder um mich noch um Anita. Als wir auf Anita zu sprechen kamen, die friedlich nebenan schlief, konnte sich Tom nicht mehr zurückhalten. „Dieser verdammte Bastard ist doch an allem schuld! Ich wollte dieses Kind sowieso nie! Es drängte sich in mein Leben, machte meine Träume zunichte und nahm mir auch noch meine Frau weg! Ich habe es doch immer gesagt, ein Junge wäre viel besser, der könnte wenigstens mein Nachfolger werden und etwas vernünftiges lernen- stattdessen habe ich ein unnützes Mädchen!“
Ich war geschockt, mir hatte es die Sprache verschlagen. Diese Ideen waren also immer noch in seinem Kopf, diese mittelalterlichen Ansichten, ein Mädchen sei nichts wert und nur ein Junge könnte die Tradition weiterführen. Endlich fand ich meine Sprache wieder. Ich schrie Tom an, warf ihm Schimpfwörter an den Kopf und drohte ihm damit, gleich morgen von hier abzuhauen und mich von ihm scheiden zu lassen.
Toms Wut steigerte sich, als er das hörte. Die Röte stieg ihm ins Gesicht, seine braunen Augen verwandelten sich in die eines Raubtieres, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. So hatte ich ihn noch nie gesehen, so wütend und unberechenbar……
An das, was nun passierte, erinnere ich mich nur mit Tränen in den Augen. Ich versuche es zu verdrängen, aus meinem Gedächtnis zu löschen, einfach nicht daran zu denken, doch es gelingt mir nicht. Es verfolgt mich Tag und Nacht, und ich kann mich nicht dagegen wehren.
Ich sehe es immer wieder wie in Zeitlupe vor mir. Wie Tom aus dem Zimmer geht, mit festen, starken Schritten, entschlossen, unaufhaltsam. Ich stehe da wie gelähmt, kann mich nicht bewegen. Einen Augenblick lang bin ich wie weggetreten. Als Tom dann wieder ins Zimmer tritt, hält er Anita mit beiden Händen um die Taille fest. Er hält sie hoch, schaut mich an. Ein Schatten huscht über sein Gesicht, für einen winzigen Augenblick glaube ich gesehen zu haben, wie sich seine Mundwinkel kurz nach oben bewegten und seinen Mund zu einem hämischen Grinsen formten.
Anita fängt an zu weinen, sie weiss nicht, was nun mit ihr geschieht. Die Hände des Vaters sind ihr nicht vertraut, noch nie hat er sie in die Arme genommen oder auch nur mit ihr gesprochen. Sie ruft nach Hilfe, als er sie schüttelt, sieht mich an, mit verzweifelten, hilfesuchenden Augen. Als Tom mit einer Hand zum Schlag ausholt und Anita mit den Worten: “Halt endlich die Klappe, du Bastard!“ brutal ins Gesicht schlägt, kann ich mich endlich aus meiner Starre lösen. “Er wird sie umbringen!“, schiesst es mir durch den Kopf. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und stürze auf ihn zu- doch es ist schon zu spät, ich muss hilflos mit ansehen, wie er Anita zuerst mehrmals gegen die harte Wand schlägt und dann schliesslich mit aller Wucht auf den harten Steinboden schleudert.
Noch bevor Anita aufprallt, bin ich bei ihm angelangt. Mit Tränen in den Augen nehme ich alle meine Kraft zusammen und stosse ihn mit grossem Schwung nach hinten. Doch es ist zu spät, niemand kann Anita jetzt mehr helfen. Tom taumelt, er hatte nicht erwartet, dass ich ihn umstossen könnte. Mit rudernden Armen und einem gellenden Schrei fällt er nach hinten, kann sich nicht auffangen und schlägt mit seinem Kopf hart auf dem Steinboden auf. Ich höre nur noch einen dumpfen Schlag im Hintergrund, als ich mich zu Anita umdrehe. Sie liegt am Boden, die Glieder seltsam verdreht, das Gesicht blutverschmiert. Ihre starren, blauen Augen sind geöffnet. Ich kniehe über sie, fühle ihren Puls. Immer und immer wieder versuche ich es, doch sie ist tot. Meine Kleine, über alles geliebte Anita ist tot! Ich versuche sie aufzuwecken, sie wieder ins Leben zu holen. In meiner Verzweiflung kann ich nicht mehr klar denken, ich packe sie mit beiden Händen und schüttle sie so fest, bis mir die Arme schmerzen. In meinem Kopf spüre ich, wie mein Herz pocht. Plötzlich wird mir schwarz vor Augen, ich fühle nichts mehr, es ist, als wäre ich weit weg und das alles wäre nie passiert.
Später erwache ich über Anita, die seltsam starr unter mir liegt. Für einen Augenblick lang erinnere ich mich an nichts, doch dann kommt alles wieder hoch. Anita. Meine Anita- er hat sie umgebracht. Ich sehe mich um, sehe Tom, der noch immer auf dem Boden liegt. Ich empfinde nichts mehr für ihn, nur noch Hass und Abscheu. Ich erhebe mich, gehe langsam auf ihn zu und kniehe mich neben ihn hin. Ich strecke meine Hand aus, nehme seinen Arm und fühle den Puls. Er lebt noch.
Ich stehe auf und gehe in die Küche. Wie von etwas Fremdem gesteuert, streckt sich meine Hand aus und greift nach dem Schubladengriff. Langsam öffne ich sie. Eine Reihe von Besteck kommt zum Vorschein, darunter eine grosse Auswahl von Messern. Ganz ruhig wäge ich ab, nehme jedes der Messer in die Hand, drehe sie und streife vorsichtig über die Klinge. Nach reiflicher Überlegung entscheide ich mich für das grosse Fleischmesser. Es liegt gut in der Hand, ich habe oft mit ihm gearbeitet. Immer noch kann ich keinen klaren Gedanken fassen, ich mache alles wie automatisch. Ich drehe mich um und schreite langsam auf die regungslose Gestalt zu, die auf dem Boden liegt.
Blut spritzt, als ich, über ihn gekniet, immer wieder auf ihn einsteche. Anfänglich noch etwas zaghaft, komme ich immer mehr in Fahrt, und mit der Zeit fühle ich mich erleichtert. Immer wieder halte ich inne, um kurz darauf wieder von Neuem mein Messer auf seinen Körper hinabsausen zu lassen. Wie in Butter sticht es in seinen Körper, seine Kleider sind mittlerweile blutdurchtränkt.
Nach einer Weile bin ich erschöpft, mein Rachedurst ist gestillt. Zitternd stütze ich mich auf dem blutigen Boden ab, um aufzustehen. Mit einem letzten, kräftigen Stoss bohrt sich das Messer in seine Rippen und bleibt dort stecken. Völlig ruhig und mit mir zufrieden drehe ich mich ab, ohne noch einen Blick auf mein Opfer zu werfen. Ich gehe ins Badezimmer und sehe in den Spiegel. Ich erschrecke ob der Gestalt, die sich mir im Spiegel zeigt. Über und über mit Blut bespritzt schaut es mich an, dieses Wesen mit den wahnsinnigen Augen, vor dem ich mich plötzlich fürchte.
Die folgenden Augenblicke erlebte ich wie in Trance. Ich weiss heute nicht mehr genau, wie ich aus den blutigen Kleidern gekommen bin, mich gewaschen habe und dann wegging. Erst als ich aus dem Haus geschritten bin, konnte ich wieder klar denken. Ich war wie verwandelt, stieg ins Auto und fuhr in die Stadt, wo wir eine Zweitwohnung besitzen. Hier bin ich immer noch und versuche, meine Erinnerungen zu verdrängen. Morgen werde ich mich der Polizei stellen und ihnen alles erzählen. Vielleicht bringe ich mich auch vorher um, ich weiss es nicht. Ich lebe nur noch im Jetzt, ich habe keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr, mein Leben ist sinnlos geworden. Ich habe alles verloren, was ich geliebt habe- warum sollte ich jetzt noch leben wollen?