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Ein sicherer Ort
Ich faltete den Zettel wieder zusammen und machte mich genervt auf den Weg zu unserem Treffpunkt. Wir treffen uns dort, wo wir uns immer getroffen haben, wo es immer sicher war.
Es war nicht so, dass mir diese Formulierung ein Rätsel aufgegeben hatte. Vielmehr störte mich einfach ihr Hang zum Theatralischen. Es störte mich, dass ich jetzt schon wusste, dass sie sich nicht verändert hatte. Und am meisten störte es mich, dass ich nicht wusste, was der Grund dieser Kontaktaufnahme sein könnte. Beide Eltern lebten noch, so viel mir bekannt war und auch das andere Schwesterchen erfreute sich bester Gesundheit. Vielleicht hatte sie vor zu heiraten, überlegte ich, als ein turtelndes Paar an mir vorbeischlenderte. Das war es, ganz sicher.
Es fing gerade an zu schneien, als ich die Altstadt erreichte. Die Vorweihnachtsstimmung war auf ihrem Höhepunkt, überall leuchtete es und duftete nach Glühwein. Ein junger Mann schob ein schlafendes Kindchen über die Straße, Familien trugen Kinder auf ihren Schultern heim und noch mehr glückliche Pärchen turtelten mir was vor. Ich ließ mich nicht von ihnen provozieren. Die sind zwar alle perfekt, aber nicht halb so glücklich wie sie aussehen, sagte ich mir und meine Schritte wurden schneller.
Ich erreichte den Domplatz, als sich im Schnee schon deutlich meine Fußstapfen abzeichneten.
Noch einemal holte ich tief Luft und tauchte zurück in meine Kindheit. Ich musste nicht tief tauchen. Kaum hatte ich den Dom betreten, waren alle Gefühle wieder da. Doch sie rauschten nicht unkontrolliert auf mich ein, um mich sentimental zu stimmen. Sie waren einfach wieder parat, sodass ich mich besser erinnern konnte. Denn zweifelsohne würde das Treffen mit meiner Schwester Katharina auch auf die eine oder andere Erinnerung abzielen.
Ich ließ meinen Blick über die wenigen Besucher wandern. Kurz fragte ich mich, ob ich sie vielleicht nicht erkennen würde, wenn sie vor mir stände. Doch die Sorge war unbegründet, denn die pausbackige, rothaarige Frau, die hinter einem der Pfeiler hervortrat, war eindeutig meine Schwester. Sie lachte leicht auf, als sie mich sah, bahnte sich umständlich einen Weg zu mir durch die Sitzreihen und zog mich dann an ihre ausladende Brust.
„Mein lieber Alex“, sagte sie mir überschwänglich an mein Ohr.
Es machte keinen Sinn sich zu fragen, womit ich diese herzliche Begrüßung verdient hatte. Sie war einfach so.
„Hallo Schwesterchen“, antwortete ich bemüht freudig und schob sie gleichzeitig ein gutes Stück von mir weg. „Ist ja ewig her.“
Sie nickte und ließ sich auf einem der Holzstühle nieder. „Na los, setz dich.“
Ich tat ihr den Gefallen.
„Wie geht es dir?“, legte sie los.
„Ganz gut und dir?“ Darauf hatte sie gewartet.
„Auch! Stell dir vor, ich werde heiraten! Er heißt Christoph und ist echt ein ganz Lieber. Und er arbeitet bei der Bank, wie du.“
„Ich freu mich für dich, Katharina.“ Im Gedanken machte ich einen Haken hinter die ganze Sache. Sie wollte also, dass ich zur Hochzeit kam. Mir würde schon eine Ausrede einfallen.
„Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich sehen wollte.“
Der Haken verschwandt. „Tatsächlich?“
„Ja … was glaubst du denn?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich.
Sie runzelte die Stirn und sah mich aus ihren kleinen, funkelnden Augen an. Wie oft schon hatten mich diese gutgläubigen Augen so betrachtet. Dann wandte sie den Blick ab und faltete die Hände, wie immer, wenn sie nervös oder unsicher war.
„Ich hätte nicht gedacht, dass unser Kontakt abbricht, als ich weggezogen bin“, meinte sie schließlich. Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können. Naives, dummes Katharinchen, dachte ich nur und ließ meinen Blick durch den Dom wandern. Sie bemerkte es und tat es mir gleich. „Weißt du noch früher?“, frage sie. „Wie oft wir hier waren als Kinder? Wie gerne wir uns hier versteckt haben, wenn Hannah uns nach Hause zum Abendbrot holen sollte. Und sie hat uns nie gefunden, Alex. Das hier war unser sicherer Ort.“
„Ich weiß, Katharina.“ sagte ich leise.
„Alle haben mich immer darum beneidet, dass mein großer Bruder so viel mit mir unternommen hat… Alle meine Freundinnen. Wusstest du das?“
„Nein.“ Nein, das wusste ich tatsächlich nicht. Und ich fragte mich immer mehr, was das hier sollte.
„Ich wollte einfach mal sehen, wies dir so geht.“, meinte sie nach einer weiteren Minute des Schweigens. „Hast du eine Freundin?“
„Nein.“ Sie wandte den Blick wieder ab und begann nun ihre Hände zu kneten. Armes Katharinchen. „Hast du dich gar nicht mal gefragt was aus mir geworden ist?“ Nein. Mir war schon klar, dass du mit fünfundzwanzig einen Christoph heiraten würdest, der bei der Bank arbeitet.
„Doch natürlich. Wohnst du noch in Hamburg?“
„Naja in einem kleinen Vorort. Wir sind vor einem Jahr umgezogen.“ Also auch das Reihenhaus mit Garten.
„Und hast du Kinder?“ Sie schaute mich verblüfft an, dann schüttelte sie den Kopf.
„Das hätte ich dir schon gesagt, wenn du Onkel geworden wärst.“
„Warum?“ Ihre Augen wurden groß. Das Warum hatte ich nicht unbedingt jetzt sagen wollen, aber früher oder später wäre es doch zur Sprache gekommen.
„Na weil du der Onkel meines Kindes wärst! Vielleicht sogar der Patenonkel.“ Oje armer Christoph Junior. Seine Mutter war tatsächlich nicht mal in der Lage einen anständigen Patenonkel für ihn auszuwählen.
„Ich meine, warum treffen wir uns Katharina. Und warum treffen wir uns hier?“
„Es ist ein Ort der uns mal sehr viel bedeutet hat oder nicht?“
„Und? Warum musst du das kaputt machen?“ Wieder der Blick aus diesen großen, unschuldigen Augen, diesmal mit bebender Unterlippe.
„Warum sagst du sowas? Du bist mein Bruder! Und ich wollte einfach nur etwas Kontakt zu dir.“
„Ach Katharina…“ Ich stand auf und wandte mich Richtung Ausgang. Überraschend schnell sprang sie auf und stieß fast noch den Stuhl vor sich um. Die Leute, die vorher allenfalls einen prüfenden Blick auf uns geworfen hatten, wandten sich nun verärgert um.
„Warum denn Alex? Zwischen uns war doch nie irgendwas falsch oder?“
„Nein, Schwesterchen, das war es nie.“
„Warum, willst du gehen?“, fragte sie lauter als nötig und nun rann ihr eine Träne über das volle Gesicht, das ich als Kind wirklich geliebt hatte.
„Ich kann es dir nicht sagen.“
„Und warum hast du dich dann überhaupt mit mir getroffen?“
„Naja, wie gesagt, ich weiß es nicht genau. Als ich den Brief bekommen habe musste ich kurz lachen, weil es einfach so zu dir gepasst hat. Vielleicht hatte ich irgendwie doch gehofft, festzustellen, dass sich wenigstens irgendwas verändert hat.“
Fassungslos und mit leicht geöffnetem Mund blickte sie mich weiter an. Ich konnte diesen Blick einfach nicht länger ertragen. Diese perfekte kleine Frau. Mit dieser perfekten Kindheit und der perfekten Zukunft. Ich war nicht perfekt. Nicht mehr. War es vielleicht nie gewesen oder wollte es auch einfach nicht sein. Ich würde für sie nicht den perfekten, älteren Bruder spielen, auf den alle neidisch sind. Und ich werde nicht der perfekte Patenonkel für ihre Kinder sein.
Ich musste raus aus diesem Dom, der mich an meine perfekte, traumhafte Kindheit erinnerte. Ich wollte raus zu den perfekten Menschen, zu denen ich nicht gehörte. Es hatte einfach diesen Moment gegeben als auf dem Telefondisplay das Wort Hannah aufleuchtete und ich mich dazu entschlossen hatte, nicht ans Telefon zu gehen. Warum auch? Sie würde mir wieder von ihrer verflossenen Liebe erzählen und ihrer tyrannischen Chefin Claudia. Ich kannte diese Claudia. Wusste alles über sie, all ihre fiesen Eigenarten und Oma-Schlüpfer, die sich immer an ihrem zu engen Rock abzeichneten. Auch kannte ich alle Liebhaber meiner Schwester. Pablo mit dem süßen Akzent, Benjamin der Romantische, Victor der Reiche, Henrik von Früher. Diese perfekte Seifenoper.
Scheiße, ich hatte es so satt.