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Ein Schwein hinter Gittern
„Es gab eine Zeit, in der wir euch so behandelten, wie ihr uns jetzt“, hauchte ihr letzter Atemzug in sein Ohr.
Das Gesicht erstarrte und der Blick ging ins Leere, unter ihrer Brust wurde es still. Plötzlich biss einer der Menschen in sein Bein und er ließ den regungslosen Körper in seinen Armen zu Boden gleiten. In dieser Sekunde umzingelten ihn die Kreaturen. Er schrie auf, seine Augen weit aufgerissen. Sein Atem war gehetzt, das Herz raste, Schweißperlen benetzten seine Beine. Die Bettdecke lag auf dem Boden. Das Zimmer roch nach tiefem Schlaf. Das dringende Bedürfnis nach frischer Luft trieb in hinaus in die Kälte. Seine Stirn war in Falten gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen. Draußen wurde jeder Schritt seiner Hufe geräuschvoll von dem Schnee kommentiert. Ein paar Straßen weiter trat er durch ein hohes, verrostetes Parktor. Trotz Dämmerung war es durch die üppige, weiße Bodenbedeckung hell genug. Urplötzlich drang ein mickriges Weinen in seine Ohren, was keinem Tier zuordenbar war. Leise folgte er der Unruhe. Dann eine rote Spur auf dem Weiß, die gleiche Richtung wie das Wimmern. Etwas schrie auf und zappelte am Boden. In seinem Blickfeld erschien ein Menschenkind. Vorsichtig näherte er sich der schmächtigen Person.
„Alles gut! Ich werde dir nichts tun!“ sagte er ruhig.
Seine Klaue strich dem Geschöpf behutsam über den Kopf. Es zuckte zusammen und begann zu zittern. Die zarten Hände waren in ein dunkles Rot getränkt und umfassten das eigene Bein. Entschlossen riss er sich ein Stück von seinem Schal ab und verband die offene Stelle damit.
„Hier kannst du nicht bleiben, sonst erfrierst du“, sagte er.
Das Menschlein schaute ihn mit großen Augen an und das Zittern ebbte ab. Im Vergleich zu dem Kleinkind war er ein Riese. Er versteckte es unter seinem Mantel und trabte zurück.
So gut es ging versuchte er das Wesen unter dem Mantel verborgen zu halten. Vor dem Mietshaus stand ein alter Ziegenbock mit einer dicken Zigarre im Maul. Gelbe Augen huschten auf alles, was sich bewegte. Die Begrüßung dem Hornträger gegenüber fiel flüchtig aus. In der Wohnung angekommen schlich er an einem Zimmer vorbei. Er stolperte über eine Tasche und konnte sich und das Kind gerade noch halten als die Tür neben ihm aufsprang. Ein Huhn stand vor ihnen.
„Hey, gut, dass du da bist, Dakil! Was ein Sauwetter, was? Sag mal, kannst du mir etwas Geld leih...?“, sagte die Henne.
Dann registrierte sie das Kind.
„Iiih, was ist das denn? Hast du jetzt wieder so ein Vieh mitgebracht? Das letzte ist dir doch auch schon weggestorben!“ gackerte sie und wich zurück.
„Ach, mach ‘n Abflug, Luise!“ sagte Dakil verstimmt.
Er marschierte weiter den Flur entlang. Die Tür flog zu, Schlüsselgeräusche. Im nächsten Moment war ein lautes Picken und Flügelflattern an der Badezimmertür hörbar.
„Dieses Ding da ist sicher nicht geimpft! Waschen hilft auch nicht gegen Tollwut! Wir leben alle gemeinsam in dieser Wohnung und ich will, dass das verschwindet!“ kreischte Luise.
Das Gackern auf dem Flur ging weiter, während Dakil sich taub stellte und das Kind achtsam badete.
„Hör' nicht auf sie! Behauptet ständig auf Menschen allergisch zu sein, isst euch aber als gäbe es keinen Morgen mehr! Ich habe sie noch niemals auch nur niesen hören in der Gegenwart von euch“ wirbelten seine Schnauzenflügel.
Draußen vor der Tür war Luises Stimme verstummt. Die Lippen des Kleinen formten ein Lächeln.
„Danke“, sagte das Kind.
Dakil schreckte hoch und schnappte sich die Toilettenbürste. Das Kind kauerte sich in der Wanne zusammen.
„Tut... tut mir leid“ sein Arm senkte sich „ich will dir natürlich nichts tun, nur ich... ich habe noch nie einen Menschen reden hören! Könnt ihr das etwa alle?“ fragte er.
Die Bürste war wieder an ihrem Platz.
„Nein... Viele Zunge weggeschneidet“, sagte das Kind.
Es klopfte.
„Mit wem redest du da drin? Lass mich rein, ich muss pinkeln“, blökte es durch die Tür.
Dakil warf ein breites Badetuch über das Kind. Er öffnete und ein Rind kam an ihnen vorbeigeprescht.
„Na, worauf wartest du? Raus und Tür zu!“ sagte das Rind.
„Das Menschending schau' ich mir gleich genauer an!“ fügte er hinzu und verzog das Maul.
Der bullige Mitbewohner stellte dem menschlichen Wesen viele Fragen und nickte gelegentlich. Dakil hantierte mit Desinfektionsmittel sowie Verbänden an der Wunde des Kindes. Das Kleine gestikulierte und es fielen Wörter wie Röhrchen, schlimmes Licht, Nadeln, böse Gesichter, Schreie. Es erzählte von seiner Großmutter, die zur Kosmetikfirma L'Ochséal verfrachtet worden war.
„L’Ochséal? Da arbeitet doch Luise!“ sagte Dakil.
Das Rind und Dakil versprachen dem flehenden Kind bei der Befreiung der alten Dame zu helfen.
Die Henne platzte ins Zimmer.
„Los, schaltet den Fernseher ein!“ sagte sie.
Auf dem Bildschirm lief ein Bericht über ein verschwundenes Kind. Auch beim Umschalten zeigten alle anderen Sender die gleichen Nachrichten. Es ging um einer der ersten Menschenklone namens Molly. Gegen einen hohen Finderlohn wurde um Hilfe zur Ermittlung nach dem Mädchen gebeten.
„Seht ihr das Foto, was sie einblenden? Das sieht ganz genauso aus wie das da! Bringen wir es zurück!“ sagte Luise mit funkelnden Augen.
Die Mundwinkel von Molly schlugen in die Tiefe aus, ihre Augen bekamen einen glasigen Film und sie schüttelte vehement den Kopf.
„Meine Güte, du kleiner Raffzahn! Und nun sieh dir an, was du mit Mollchen gemacht hast! Auf keinen Fall! Wir haben ihr etwas versprochen!“ sagte Dakil.
„Ich habe ihr gar nichts versprochen!“ sagte Luise.
Dakil stieß dem Rind in die Rippen.
„Ähm... ja genau versprochen... ist versprochen. Mollchen braucht uns!“ blökte das Rind verkrampft.
„Mollchen?! Als ob, Ben! Du hast noch nie was auf Menschen gegeben!“ sagte Luise scharf.
Laut schellte die Türklingel durch die Wohnung. Ein graziler Schnabel lugte durch den Vorhang zur Straße hinaus.
„Hühnerkacke, die Bullen! Und da! Der alte Ziegenbock! Der will selbst die Kohle einkassieren! Der hat uns verpfiffen, dieser miese...“, sagte Luise.
„Jaja, immer die bösen Bullen! Los! Macht dass ihr wegkommt ihr beiden! Ähm... durch das Fenster im Bad!“ sagte Ben.
Dakil griff sich Molly und sie flohen über den Hof durch ein anderes Haus, raus auf die Straße. Völlig außer Atem verschnauften sie in einer dunklen Gasse bis etwas auf seinen Mantel klopfte.
„Hab‘ ich euch! Konnte Luise weismachen, dass ich Molly zurückbringe, wenn wir den Bullen nichts verraten und damit der Bock nichts abkriegt, haha“, sagte Ben.
„Klasse! Das verschafft uns etwas Zeit. Trotzdem sollten wir uns beeilen!“ sagte Dakil.
Dakil und Molly folgten dem Rind zu einem Auto. Sie fuhren durch die Stadt und die Lichter zogen an ihnen vorbei bis ein riesiges Gebäude zu erkennen war. Obenauf leuchtete in beachtlicher Schrift „L'Ochséal“ auf. Ben und Dakil mit Molly unter dem Arm schlichen zum Hintereingang. Dort ging es ein paar Stufen nach unten Richtung Keller. Der Bulle holte eine Plastikkarte hervor und steckte sie in einen Schlitz seitlich der Tür. Es klickte leise und sie gingen hinein.
„Hoffen wir, dass das dumme Huhn nicht so schnell Wind von der Sache bekommt“, sagte Ben.
Er schnappte sich einen Besen.
„Falls wir dem Sicherheitspersonal begegnen“, fügte er bei und zwinkerte den beiden anderen zu.
Daraufhin zog Ben zwei kleine Taschenlampen aus seiner Jacke und gab Dakil eine davon. Die Drei gingen einen spärlich beleuchteten Korridor entlang, die nächste Tür war am anderen Ende. Ein merkwürdiges Raunen kam aus den Rohren, die die Wände überwucherten und ein modriger Geruch stieg ihnen in die Nasen. Molly presste sich unter dem Mantel dichter an Dakil heran. An der zweiten Tür angekommen, hörte man die erste sich erneut öffnen. Schnell huschten sie hindurch und flitzten die Stufen zu ihrer rechten nach oben, durch die nächste Tür. Finsternis umhüllte sie. Dakil schaltete seine Taschenlampe ein. Jetzt standen sie in einer riesigen Lagerhalle. Sie hielten sich links und bogen bei der nächsten Möglichkeit rechts, in einer der vielen turmhohen und vollgepackten Regalkolosse ein.
„Wir brauchen einen Lageplan!“ sagte Dakil schnaufend.
„Besser wir teilen uns auf! Ihr sucht die Oma und ich halte hier die Stellung. Da vorne müsst ihr links abbiegen“, sagte Ben und verschwand hinter den Regalen.
Dakil ging schnell. Er war mitten im Gang und sah noch mehr Bretter, noch mehr Balken, mehr Bretter, mehr Balken, Bretter, Balken. Da zeigte seine Lichtquelle linker Hand eine Öffnung. Eine Tür. Endlich. Tempo. Während er in den nächsten Flur eilte hörte man in der Halle jemanden sprechen. Sogleich schloss Dakil kaum vernehmbar den Zugang hinter sich. Rechts und links ging es in die Dunkelheit. Direkt vor seiner Schnauze flackerte ein Schild mit „Labor“ auf. Langsam drehte er an dem Türknauf und ging hindurch. Er löschte das Licht seiner Taschenlampe.
„Wir wo?“ hustete es leise aus seinem Mantel.
„In einem Labor. Sei bitte still! Ich glaube, dass uns jemand gefolgt ist“, flüsterte Dakil.
Von Schatten umringt ging er dem einzigen Licht im Zimmer entgegen, was durch eine Jalousie gehemmt wurde. Grüngelbe Lichtlinien zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Sacht drehte Dakil die Rillen auf und erkannte, dass das kein Licht von Draußen war. Durch das Fenster sah er unzählige riesige Käfige und die dürftige Beleuchtung spendete eine winzige Lampe an der Wand. Eine Brüstung befand sich oberhalb der Zwinger und in der Mitte eine Tür, die auf derselben Ebene war. Dakil verengte seinen Rundblick bis er plötzlich direkt vor ihm ein fremdes Augenpaar aufblitzen sah. Er schreckte stumm ein paar Schritte zurück und stieß gegen einen Tisch. Das Geräusch entstehender Scherben durchbrach die Stille. Auf der Scheibe sah Dakil den Atem seines Gegenübers. Ein gewaltiger, regungsloser Umriss eines Menschen, der ihn im Halbdunkel anstarrte. Dieser stand in einem Gefängnis hinter dem Glas. Zugleich waren nebelhafte Bewegungen in der ganzen Szenerie wahrnehmbar. Weitere Menschen. Weitere Gefangene.
„Ich denke, ich weiß jetzt, wo deine Großmutter ist“, sagte Dakil.
Seine Sehorgane weigerten sich von dem Hünen zu lassen. Der kleine Begleiter aus Dakils Mantel löste sich. Der monströse Mann schlug gegen die Gitter seines Verlieses. Daraufhin spähte alles auf ihn. Umgehend standen sämtliche Gestalten in den hinteren Käfigen auf.
„Da! Omiii!“ rief Molly.
Die zwergenhafte Figur rannte vor die Stahlschiebetür, die sich automatisch öffnete, und hastete in den Raum. Molly stand nun vor einem der Käfige, gefüllt mit einer Handvoll Menschen, und griff mit den Armen hindurch. Zwischen ihnen lag eine ältere Frau, die Atmung schwer. Dakil sputete hinterher. Kaum dass er über die Schwelle trat, fing ein seltsames Brummen an. Der düstere Chor wurde von dem Monstrum angeführt. Molly zog an den Händen sowie Armen der grauen Dame und versuchte verbissen, ihre Großmutter durch die Eisenstangen hindurch zu ziehen.
„Omi?“ fragte Molly.
Ihr Mund begann zu bibbern und sie wendete sich Dakil zu.
“Hol sie! Bitte!“
„Es gibt sicher einen Schlüssel!“ sagte Dakil.
Das Knurren der Menschen wurde immer lauter, umso mehr er sich regte.
„Was ist mit denen los?“ fragte Dakil.
„Hassen Schwein!“
„Vielleicht kannst du denen mal klar machen, dass ich einer von den Guten bin?!“
„Alle verrückt.“
„Das kannst du laut sagen!“
„ALLE VERRÜCKT.“
„Psst, bist du verrückt? Du kennst wohl keine Redewendungen?!“
Alles verstummte. Wie aus dem Nichts gingen die großen Lichter an. Oben sprang die Tür auf und ein paar Tiere in Weiß und Luise betraten die Brüstung. Dakil packte sich Molly und stürmte zur Schiebetür, die sich stur keinen Millimeter mehr rührte. Einer der weißen Kittel überreichte Luise und Ben, der verschämt in der Tür stand, jeweils ein Stück Papier.
„Vielen Dank für ihre Unterstützung. Sie können nun gehen.“
„Tut uns echt leid, Alter, aber wir brauchen die Kohle...“, murmelte Ben.
Ein Schuss fiel. Ein aufschreiendes Mädchen erschallte. Ein dumpfes Geräusch auf dem Boden gefolgt von Stillschweigen. Dakil blinzelte.
Winseln rauschte in seine Gehörgänge. Neben ihm lag Mollys Großmutter. Nur das Licht der kleinen Lampe leuchtete. Sämtliche Tiere und Molly schienen verschwunden zu sein. Schemenhaft umkreisten Dakil gigantische schwarze Spieße und er realisierte, dass er selbst ein Insasse der Zelle geworden war. Behutsam nahm er die alte Frau in den Arm.
„Es gab eine Zeit, in der wir euch so behandelten, wie ihr uns jetzt“, hauchte ihr letzter Atemzug in sein Ohr.
Das Gesicht erstarrte und der Blick ging ins Leere, unter ihrer Brust wurde es still. Plötzlich biss einer der Menschen in sein Bein und er ließ den regungslosen Körper in seinen Armen zu Boden gleiten. In dieser Sekunde umzingelten ihn die Kreaturen.