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Ein schlechter Freund
Ich habe Sie gehört. Neinnein, gehen Sie nicht, jetzt ist es eh zu spät. Setzen Sie sich.
Sie sind doch hergekommen weil Sie neugierig sind, oder etwa nicht? Warum auch sonst. Also nehmen Sie Platz und hören Sie zu. Genau das wollen Sie vermutlich.
Hat Lester Sie hereingelassen? Wahrscheinlich, sonst hätten Sie mich nicht gefunden.
Sind Sie ein Kollege von ihm? Oder ein Freund?
Ich war mal sein Freund. Sein bester Freund. In gewisser Weise sind wir immer noch Freunde, zumindest sind wir sehr verbunden. Aber er hat mich sehr verletzt und es ist anders als vorher. Ganz anders.
Ich würde Ihnen gerne eine Tasse Kaffee anbieten während Sie hier sitzen, ich weiss, es ist nicht sehr gemütlich hier. Ich habe aber gerade keinen da und wie Sie sicher ahnen wäre es mir jetzt auch nicht möglich Ihnen einen zuzubereiten. Aber ich hoffe, Sie bleiben trotzdem ein wenig und hören mir zu. Es hört mir selten jemand zu.
Lester hört mir manchmal zu. Nun, viele Menschen bekomme ich außer ihm auch nicht zu Gesicht. Und auch er hat nie viel Zeit für mich, er ist zu beschäftigt. Naja, das werden Sie vermutlich wissen.
Es ist nur schade, weil wir uns einmal besser verstanden haben. Viel besser. Und es tut weh wenn man merkt, dass sich die Zeiten ändern.
Lester und ich waren gute Freunde. Und mehr noch. Die besten Freunde.
Sie werden diese Art von Freundschaft kennen. Man lernt sich im Kindergarten kennen, man sitzt in der Grundschule nebeneinander, man geht nach dem Unterricht mit dem anderen nach Hause, man trifft sich, man besucht gemeinsam die Highschool.
Les war bei mir als ich meinen ersten Milchzahn verlor.
Er war bei mir, als ich meinen ersten Liebesbrief an Katleen aus der Nachbarklasse schrieb.
Und er war bei mir, als ich meinen ersten Wagen gegen einen Baum fuhr.
Was man eben so unter einem echten Freund versteht.
Wir waren recht unterschiedlich, aber wir machten das Beste daraus.
Er war immer der Zurückhaltende von uns beiden, weswegen ich ihm bei den Mädchen auf die Sprünge helfen müsste. Dafür war er stets der Klügere von uns und stand mir in allen Schulbereichen zur Seite.
Sein Spezialgebiet waren die Naturwissenschaften.
Ich sagte ja bereits, dass er und ich nicht viel gemeinsam hatten.
Tja, das hatten wir tatsächlich nicht. Noch heute habe ich kaum eine Ahnung von Biologie, Les dagegen konnte jede freie Minute mit Sezieren von Fröschen und unappetitlichen Würmern verbringen. Für ihn waren Autopsieen von verendetem Kleintier ungefähr das gleiche wie ein Footballspiel und ein Mädchen im Arm für mich. Verstehen Sie, was ich meine? Les war ein guter Kerl, aber eben völlig anders als ich.
Wir verstanden uns trotzdem gut, weil uns ergänzten. Aber es störte mich schon, dass er immer wieder in seinem Zimmer über einem Haufen Bücher und einem Mikroskop hockte um winzige Organismen zu katalogisieren. Sein Eifer war schon fast Besessenheit. Das beste Spiel der Saison, die Premiere eines neuen Kino-Hits, das Baseball-Training - für Les eher Nebensache, wenn er stattdessen etwas Neues erforschen konnte. Er war in diesen Dingen einfach hoffnungslos verschroben. Verschroben, aber liebenwert.
Les hat übrigens nie geheiratet, wussten Sie das? Nun, wen wundert es - welche Frau, außer Marie Curie vielleicht, hätte es neben ihm ausgehalten? Aber wissen Sie was, ich glaube irgendwie nicht, dass ihm eine Frau wirklich fehlte. Seine Erfahrungen hat er gemacht und er erkannte, wer seine wahre Braut war - die Wissenschaft.
Die Jungs aus dem Football-Team an unserer Schule nannten ihn "Franky" hinter seinem Rücken - ein kleiner Doktor Frankenstein im Westentaschenformat. Ich weiss nicht, ob sie es ihm jemals direkt sagten, und selbst wenn es so gewesen wäre, frage ich mich, ob es ihn überhaupt gestört hätte. Viktor Frankenstein war vermutlich für ihn ein Held wie für mich und die anderen Jungs Bruce Springsteen.
Lester war auf seine Weise ja auch ein Held. Er hat immer hart gearbeitet für seine Forschungen, und wie Sie ja wissen hatte er Erfolg damit. Verdienten Erfolg. Sich so der Wissenschaft zu widmen - mein Kompliment. Ich würde meinen Hut ziehen vor diesem Ehrgeiz, wenn ich könnte.
Nun, Frankenstein war auch genial, so wie Mary Shelley ihn darstellte, ebenso wie Doktor Jekyll. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich deren Werke gutheißen kann. Bei Les ist es ähnlich.
Wir kamen in unserer Freundschaft immer mehr an einen Punkt wo ich mich von ihm vernachlässigt fühlte. Aus dem zwölfjährigen Stubenhocker mit dem Mikroskop im Zimmer entwickelte sich erst der eigenbrödlerische Student und später der einsame Wissenschaftler. Ab und zu überredete ich ihn mit mir wegzugehen und neue Leute kennenzulernen, vielleicht ein anderes Hobby zu finden ... aber es war im Großen und Ganzen hoffnungslos. Haben Sie einmal einer Ameise versucht zu erklären wie eine Ente aussieht? So in etwa kam es mir vor. Les lebte immer mehr in seiner eigenen Welt, die mir so fremd war und die ich nicht verstand.
So ging es dann langsam auseinander mit uns. Keine große Sache, nur ein schmerzhafter Prozess. Trotzdem hatten wir höchsten Respekt voreinander, zumindest ich kann das von mir behaupten. Jede von Les neuen Erfindungen und Erkennnissen habe ich mit Hochachtung begrüßt. Und ich glaube, er weiss das auch.
Respekt und Hochachtung hätte ich mir auch von ihm gewünscht. Ich bin mir nicht sicher, ob er so empfand. Wohl eher nicht, denn dann hätte er sich anders verhalten.
Wissen Sie, ich habe nie viele Forderungen an meine Freunde gestellt, und an Les am allerwenigsten. Irgendwann war er nur noch ein skuriller Professor der in seiner Welt der Moleküle und Elementarteilchen lebte, aber ich ließ ihn gewähren, weil er es so wollte.
Von Les hätte ich eigentlich das Gleiche erwartet. Ich war ihm ein guter Freund, und sein Verhalten war nicht fair. Ich habe ihn nicht ausgelacht wie viele andere es taten, ich habe ihn nie verhöhnt oder gar angegriffen. Les war eben Les und ich ließ ihn so wie er war.
Warum hat er das mit mir nicht auch gemacht? Bedeuten ihm denn Versprechen gar nichts?
Wie oft haben wir über diese Sache hier geredet und ich sagte von Anfang an dass sie nicht in Frage käme für mich. Nie habe ich mich überreden lassen, und für mich war das Thema abgeschlossen. Seine Experimente waren großartig, für seine Forschung wird er sicher eines Tages den Nobelpreis erhalten, aber meinen letzten Willen hat er, verdammt nochmal, missachtet!
Als er den Frosch ins Leben zurückholte, hatte ich geahnt, dass er eines Tages weitergehen würde, aber nie hätte ich geglaubt dass er sich an mir vergreifen würde.
Les, du warst immer mein Freund und ich habe dich geliebt, aber wie konntest Du mich nur hierherholen, hierher, in deine Welt, in dein Labor, zu deinen Maschinen und deinen Kabeln ...
"Du wirst wieder leben", sagtest du, aber das war gelogen. Ein Kopf in einem Behälter, angeschlossen an einen Tropf und Millionen von Kabeln, das nennst du leben?!?
Verzeihen Sie, ich halte Sie auf. Jetzt wo Sie Bescheid wissen können Sie genausogut wieder gehen. Sie sehen sowieso aus als wollten Sie nicht länger hierbleiben, oder irre ich mich da?
Wie auch immer, bitte schließen Sie die Tür leise hinter sich, Lester muss nicht merken dass wir uns hier unterhalten haben.
Und bitte löschen Sie das Licht wenn sie den Raum verlassen. Ich kann all die Geräte hier drinnen nicht mehr ertragen. Der Anblick widert mich an.
Ich möchte allein sein.
Lassen Sie mich bitte allein.