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Ein schöner Tag
„Guten Tag.“
„Hallo.“
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Dies ist ein freies Land.“
„Also ja?“
„Ja.“ Der Mann, der mich so unverschämt angesprochen hatte, setzte sich zu mir an den Tisch. Mal ehrlich, wenn ich mich am Nachmittag in einen Biergarten setze, möchte ich nur meine Zeitung lesen, ein Bierchen trinken und ansonsten meine Ruhe. Aber dieser Kerl hier wollte mir unter allen Umständen ein Gespräch aufzwängen.
„Sie lesen die Bildzeitung?“
„Haben Sie was dagegen?“
„Nein, natürlich nicht. Ich bin allem gegenüber prinzipiell offen.“
„Schön.“
„Ja, die meisten Leute halten mich für einen hervorragenden Gesprächspartner.“ Mit diesen Worten öffnete er seine Aktentasche und kramte ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. Ich zeigte keinerlei Regung, auch nicht dann, als er es auffällig unauffällig in meine Richtung schob.
„Lesen Sie.“
„Nein, ich möchte nicht. Ich informiere mich gerade über Bohlen.“
„Das Spiel?“
„Der Dieter.“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Bitte lesen Sie den Brief.“
„Machen Sie’s doch selber.“
„Das brauche ich nicht. Ich habe ihn schließlich geschrieben.“
„Was habe ich denn davon?“
„Das werden Sie dann sehen.“ Ich hatte aber eigentlich gar keine Lust dazu, und das sagte ich ihm dann auch mitten ins Gesicht. Mein Gegenüber schien zunächst ein wenig verärgert, fing sich dann aber wieder recht schnell.
„Ist es nicht ein herrlicher Tag heute?“ fragte er mich dann.
„Ja. Man kann so richtig schon entspannen.“, antwortete ich, in der Hoffnung, er möge den genervten Unterton meiner Stimme hören und vor allem verstehen.
„Ja, ein wirklich schöner Tag. Haben Sie schon mal den Stern probiert?“
„Was?“
„Ob Sie statt der Bild auch schon mal den Stern gelesen haben?“
„Da steht nichts über Bohlen drin.“, meinte ich und damit hatte ich Recht.
„Sie meinen den Dieter?“
„Natürlich meine ich den Dieter.“
„Also interessieren Sie sich nicht für Holzböden?“
„Nein, muß ich das denn? Ich informiere mich nur gerne über Bohlen.“
„Ach so. Das müssen Sie dann schon klarstellen, sonst weiß ich nicht, was Sie meinen.“
„Das täte mir allerdings leid.“ Ich blätterte die Zeitung eine Seite weiter und kam zum ebenso umfangreichen, wie interessanten Sportteil.
„Können Sie die Vögel singen hören?“, fragte mich mein Gegenüber. Ich sah von meiner Zeitung auf.
„Ja. Eine Amsel.“
„Wie bitte?“
„Es ist eine Amsel, die da singt.“
„Ach so. Ja, ich glaube auch. Schön, nicht wahr?“
„Ja, wirklich schön.“ Mein Gegenüber besah sich die Umgebung, schien jeden Geruch, jeden Anblick und jedes Wort um sich herum einsaugen zu wollen. Er genoß diesen Tag wirklich.
„Es wäre furchtbar schade, wenn ich heute sterben würde.“, sagte er dann völlig unvermittelt.
„Sie sterben?“
„Wer weiß. Jeder muß irgendwann einmal sterben. Der eine früher, der andere später. Heute ist so gut, wie jeder andere Tag auch.“
„Wie kommen Sie gerade jetzt auf so ein schreckliches Thema?“
„Ich weiß nicht. Es ging mir gerade so durch den Kopf. Darf ich Sie mal was fragen?“
„Machen Sie schon.“ Ich legte genervt meine Zeitung beiseite, denn meine Konzentration war jetzt sowieso dahin.
„Glauben Sie an die Hölle?“, fragte er mich.
„Nein... nein, warum sollte ich?“
„Ich glaube an die Hölle. Und ich glaube auch, daß ich einmal dort enden werde.“
„Sind Sie so ein schlechter Mensch?“
„Ich bin ein gläubiger Mensch. Und ich bin Realist.“
„Inwiefern?“
„Nun, ich bin der Meinung, daß niemand auf Gottes Erden das Recht hat, in das Paradies zu kommen.“
„Und warum nicht?“
„Weil der Mensch ein böses Wesen ist.“
„Das glaube ich nicht.“
„Sie zweifeln daran? Ich wette, auch Sie wären in der Lage... sagen wir... jemanden zu töten. Vielleicht sogar heute noch.“
„Sicher nicht.“ Langsam wurde mir die Sache ein wenig unheimlich.
„Haben Sie noch nie den Wunsch verspürt, einen Menschen zu töten?“
„Habe ich nicht. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!“ Mit diesen Worten wandte ich mich von ihm ab und beobachtete demonstrativ einige Amseln.
„Bitte lesen Sie meinen Brief.“
„Nein, ich sagte bereits, daß ich da keine Lust zu habe.“
„Es wäre mir aber sehr wichtig.“
„Das ändert nichts an meiner Lustlosigkeit.“
„Hier, sehen Sie.“ Er hielt mir ein Foto aus seiner Brieftasche unter die Nase. Es zeigte ihn selber neben einer wunderschönen Frau. Sie saßen auf einer Wiese und neben der Decke, auf der sie saßen, tollte ein kleines Kind herum.
„Meine Tochter... und meine Frau... meine Exfrau...“ Irgendetwas in seiner Stimme verriet, daß er sie sehr vermißte. Plötzlich hatte ich Mitleid mit diesem Mann.
„Das tut mir leid.“, sagte ich deshalb.
„Muß es nicht. Sie tragen keine Schuld daran.“
„Trotzdem. Es tut mir leid für Sie. Sie müssen Ihre Frau sehr vermissen.“
„Sind sie einer von denen, die ständig mit einem schlechten Gewissen rumlaufen? Müssen Sie Ihres unbedingt an meinem Schicksal aufbauen? Meinen Sie, dadurch könnten Sie Ihre niedere Natur besänftigen?“ Das kränkte mich jetzt wirklich.
„Das ist beleidigend.“
„Ja, tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich bin zu weit gegangen. Und Sie?“
„Was? Ich bin nicht zu weit gegangen.“
„Das meinte ich nicht. Ob Sie Familie haben.“
„Nein, hab ich nicht.“, sagte ich und meinte es auch so.
„Also würden Sie keine Kinder hinterlassen?“
„Was soll diese Fragerei? Ich habe nicht vor, so bald zu sterben.“
„Das können Sie nicht kontrollieren. Sie müssen nur auf der Straße ausrutschen und von einem LKW überfahren werden. Oder ein Verrückter rammt Ihnen mitten in diesem Biergarten ein Messer in den Bauch.“
„Wollen Sie mir etwa drohen?“
„Ich will Ihnen nur die Möglichkeiten aufzeigen. Jederzeit können Dinge passieren, die das Leben entscheidend verändern.“ Jetzt war endgültig der Punkt erreicht, an dem mir der Mann Angst machte. Ich machte Anstalten, mich aus meinem Stuhl zu erheben und zu gehen.
„Bleiben Sie doch noch eine Weile. Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.“, sagte er, wobei er nach meinem Arm griff und am Stoff meiner Jacke zog.
„Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe! Sie Sind ja krank!“
„Ja, das bin ich. Aber nicht so, wie Sie vielleicht denken mögen. Lesen Sie bitte den Brief.“ Ich riss mich los, entfernte mich ein wenig von unserem Tisch und machte mich auf die Suche nach einer Kellnerin, denn ich wollte zahlen.
„Sie können Ihrem Schicksal nicht entfliehen! Heute nicht! Heute wird Ihr Leben sich ändern! Sie werden Ihre wahre Natur erkennen. Sie müssen nur meinen Brief lesen.“
„Nein, das werde ich nicht.“
„Tun Sies, verdammt nochmal!“ Die anderen Gäste blickten erschrocken zu uns hinüber. Seine Schreie hatten sie auf uns aufmerksam gemacht.
„Sie arrogantes Arschloch! Jetzt lesen Sie schon meinen Brief!“
„Jetzt lesen Sie schon seinen verdammten Brief! Sonst gibt der Kerl nie Ruhe.“ Das war ein anderer Gast, der mich von der Seite her ansprach. Mein Gesprächspartner erhob sich und kam mit dem Brief in der Hand auf mich zu.
„Ja, lesen Sie meinen verdammten Brief.“
„Verdammt nochmal! Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!“, schrie ich zurück.
„Warum schreien Sie denn so? Sind Sie etwa erregt? Wütend vielleicht?“
„Ja, verdammt! Weil Sie mich nicht in Ruhe lassen.“
Ohne Vorwarnung sprang er in meine Richtung und warf mich zu Boden. Er nahm einen Stein und versuchte, damit auf mich einzuschlagen. Nun, ich bin nicht der Schmächtigste und so gelang es mir, ihn niederzukämpfen. Es lag unter mir und funkelte mich aus irren Augen an.
„Es ist Dein Schicksal... Du kannst ihm nicht entgehen.“, sagte er. Der Mann machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren und trotzdem schlug ich immer wieder auf ihn ein. Ich war in Rage, so etwas ist mir noch nie passiert. Neben mir lag der Stein, den er eben noch in der Hand gehalten hatte. Ich hob ihn auf und schlug ihm damit ins Gesicht. Immer wieder schlug ich zu, bis man sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte und er sich nicht mehr rührte.
Angewidert wandte ich mich ab. Wie konnte mir das nur passieren? Ich habe ihn umgebracht! Mein Gott, ich habe einen Menschen getötet! Die anderen Gäste bildeten den üblichen Kreis Schaulustiger um uns herum. Einer rief die Polizei. Ich ignorierte sie und nahm den Brief in die Hand. Zwei Worte standen dort geschrieben.
Töte mich