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Ein roter Schal

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29.06.2014
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Ein roter Schal

Du sitzt in dem gleichen Cafe wie jeden Tag zur gleichen Stunde. Der Tisch ist heute jedoch ein anderer, diesmal auf der Terrasse vorne links, direkt am Gehweg, die vielen übergroßen Kübel mit noch kleinen, weil jungen Tuja-Buschpflanzen bilden eine Art „natürliche Grenze“ zwischen Café und Straße.
Um dich herum hörst du das übliche Getippe auf Notebooks, Gelächter in Mobiltelefone, die Klage über das verspätete Essen oder den zu warmen Weißwein nicht mehr. Irgendetwas in dir nimmt es zwar auf, registriert es irgendwo weit hinten, doch ist es für dich zu alltäglich geworden, sodass du deine Augen nicht mehr hebst und du deinen Kopf in die Richtung drehst, in der sich gerade der Ton des Gastes gegenüber der Bedienung ändert. Du verharrst bei deinem Darjeeling, die Augen auf die Tasse gerichtet, die Hände um sie geschlungen, die Zunge das Aroma des Schluckes schmeckend, den du gerade schlürfend genommen hast.

Du scheinst ihn schon aus den Augenwinkeln bemerkt zu haben, sonst hätte sich dein Blick nicht gehoben. Von links kommend eilt ein Mann am Cafe vorbei, ungefähr in deinem Alter. Sein dunkles Haar ist kurz geschnitten und mit Hilfe entsprechender Styling-Präparate zu einem wieder-modischen Seitenscheitel frisiert. Er trägt einen grauen Trenchcoat, graue Stoffhosen, sogar seine weite Umhängetasche ist grau. Es sind also keine offensichtlichen Gründe auszumachen, warum du deine Konzentration vom Darjeeling losgeeist hast.
Während der Mann fast schon die gesamte Front des Cafes passiert hat, realisierst du, dass es ein spezielles Accessoire ist, welches deinen Blick an sich bindet: sein Schal, vielmehr: dessen Farbe. Es ist ein Rotton, den du schon fast als `bräunlich´ definieren würdest. Die Farbe hat eine Intensität, eine Stärke, die den schnellen Bewegungen des Mannes neben all den gräulichen Farbmustern seiner Kleidungsstücke eine Art Fixpunkt entgegensetzt, der auch von weitem noch zu sehen ist, selbst dann noch, als der Mann schon viele Hundert Meter weiter vom Gewimmel der Menschen verschluckt worden zu sein scheint.

Dein Blick muss einen speziellen Ausdruck haben, nachdem sich die Situation aufgelöst hat, vielleicht eine Mischung zwischen fragend und verstört. Jedenfalls guckt dich die vollschlanke, sich jenseits der 70 befindliche Dame im feinen Nerz vom Nebentisch schon fast bemitleidend an und sagt: Hallo, aufwachen!
Du versuchst dir ein haha-ertappt-ich-bin-glaube-ich-etwas-überarbeitet Gestammel abzuringen und widmest dich wieder deinem Tee.

Ungefähr 23 Stunden später sitzt du wieder an gleicher Stelle, sogar am selben Tisch wie gestern. Diesmal stehen ein Baguette mit Ziegenkäse und Honig sowie ein Café au lait vor dir auf dem Tisch. Du hast eine Zeitung mitgebracht und liest gerade einen Artikel über genmanipulierte Bananenstauden in Burkina Faso.
Wieder registrierst du erst die Situation, nachdem deine Sinne bereits reagiert haben: Dein Kopf hat sich bereits gehoben, dein Blick hat sich justiert, doch erst jetzt begreifst du, dass der Auslöser dessen wieder der herbeifliegende, grau gekleidete Mann von gestern, vielmehr der ins braun gehende rötliche Schal von ihm ist. Als ob ein unsichtbarer Regisseur die rewind-Taste gedrückt und/oder dich wieder ins gestern zurückgeschickt hat. Die rationale Instanz in dir fragt sich, ob das gerade real ist, was vor deinen Augen abläuft, ob eine Situation im alltäglichen Leben dupliziert und in einen späteren Zeitpunkt verpflanzt werden kann.
Gleichzeitig bemerkst du jedoch, dass die emotionale Instanz beginnt eine Frage auszuformulieren: Wer ist dieser Mann?
Du bemerkst schnell, dass der Wunsch, mehr über diese Person zu erfahren, nicht einfach aus dem Nichts auftaucht. In dir herrscht eine Art Folgerichtigkeit: Jetzt reißt dich dieser rote Schal schon zum zweiten Mal aus der Normalität des Tages heraus, du kannst, sollst, musst somit nun auch wissen, warum.

Der Mann, der wehende Schal um seinen Hals, bewegt sich nun in etwa auf gleicher Höhe zu deinem Tisch. Du schaffst es, sein schnelles Lauftempo zu drosseln. Du beginnst zu erkunden, wer er ist.
Der Mann arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft an der hiesigen Universität. Er schreibt gerade seine Promotion über die Verwendung autobiographischer Muster in den Romanen von Günter Grass. Der Mann wohnt alleine in einer geräumigen 2-Zimmer-Wohnung im Stadtkern. Er liebt Heißgetränke jedweder Art, Kaminfeuer und Dampfbäder. Er verabscheut Rosenkohl und Politiker im Allgemeinen. Die Semesterferien zwischen Winter- und Sommersemester verbringt er schon seit Jahren bei seiner Tante an der Ostsee. Dort mag er es, Strandspaziergänge zu machen und auf der Terrasse des Strandhotels „Kurfürsten Hof“ zu sitzen und herbes Pils zu trinken. Er mag Katzen, jedoch keine Hunde. Er mag Günter Jauch, RTL jedoch nicht. Er mag es, Fußball zu spielen, jedoch verabscheut er den Kommerz, der mittlerweile diese Sportart regiert und schaut sich deshalb keine Fußballspiele im Fernsehen an.
Er scheint ein ganz normaler Mann zu sein. Ein normaler Mann mit rotem Schal.
Der Mann zieht sein Schritttempo an, er passiert die Terrasse und ist wenige Momente später wieder in der amorphen Menschenmasse versunken, nur sein Schal leuchtet noch hier und da signalartig auf.

Du bist verwirrt. Die rationale Instanz in dir fragt sich: Wie kann ich das alles wissen? Wieso kann ich wissen, was dieser Mann mag, nicht mag, wohin er fährt, was er da tut? Was hat mir diese Details und Informationen über den Mann eingehaucht, zur Verfügung gestellt, gegeben?

Die emotionale Instanz jedoch ist euphorisch, enthusiastisch. Ich konnte erkennen, wer er ist, sagt sie. Du zahlst deine Rechnung und gehst heim. Langsam wächst ein Gedanke in dir zu einem Wunsch und einem Vorhaben heran: Du willst wissen, wer dieser Mann WIRKLICH ist, was ihn als Menschen ausmacht, seine Beweggründe und Wesenszüge. Das Wort „Macht“ beginnt sich in dir aufzubauen. Du hast die Macht, ihn als Menschen zu erkennen. Diese willst du nutzen. Das Verlangen danach, einen Menschen sozusagen zu durchleuchten hattest du schon lange nicht mehr. Doch nun ist es da, dir sozusagen zugespielt worden.
Dein Blick fällt auf dein Bücherregal, genauer: auf den Buchrücken mit dem Titel „Das Häuten der Zwiebel.“ Schale um Schale abziehen, den Kern mehr und mehr freilegen, bis er dir in all seiner Nacktheit vorliegt. Du fragst dich gar nicht, OB du den Mann mit dem roten Schal wieder sehen wirst, du weißt es genauso wie du weißt, dass sich nach der langsam hereinbrechenden Nacht ein heller Morgen erheben wird.

Der nächste Tag, die übliche Uhrzeit. Du sitzt auf der Terrasse des Cafes, deine übergroße Aufregung lässt diesmal nur einen Espresso zu, keine Speise. Du malst dir alles Mögliche aus, mögliche Aspekte seiner Person, die du siehst, überraschende wie auch weniger überraschende. Im Vergleich zu gestern ist die Luft deutlich milder, du entledigst dich deines Schals und deines Mantels und legst die Sachen auf den Stuhl rechts von dir. Der Espresso wird serviert, du wirfst ein Stück Würfelzucker hinein, rührst um und nimmst einen Schluck.

Wie die Tage zuvor sind deine Sinne schneller als du. Sie sehen den Mann schon von weitem, er nähert sich von links dem Cafe, grauer Trenchcoat, graue Hose, graue Tasche – roter, fast ins bräunliche gehender Schal, der in der Luft zu stehen scheint ob des Tempos, das er läuft. Deine Aufregung weicht einem neuen Gefühl. Du kannst es nicht so recht definieren, eine Art Magnetismus macht sich in dir breit, der den Mann anzuziehen scheint.
Wieder ist dr auf gleicher Höhe mit dir. Wieder verlangsamst du seinen Schritt. Wieder schaust du in ihn.

Du siehst, dass er im Alter von 6 Jahren Vater und Mutter bei einem Verkehrsunfall verlor und er heute noch nachts aufwacht und von einer übergroßen Trauer darüber erfüllt ist, dass er nicht mit im Wagen saß und deshalb dieses Leben alleine leben musste, während alle seine Freunde mit ihren Eltern in den Urlaub fuhren, essen gingen oder sich zumindest streiten konnten.
Er wuchs bei seinen Großeltern auf und sein Großvater verwechselte oft Rat geben mit grün und blau schlagen. Oft musste er zur Strafe stundenlang in den unbeheizten Keller, mitten im Winter und „mal über den Mist nachdenken, den er da verzapft hat“. Dort sprang er dann von einer Wand zur anderen, um sich warm zu halten, die ganze Zeit, bis seine Großmutter ihn nach oben in die warme Stube holte, nachdem sein Großvater in die Wirtschaft gegangen war. Dies war die Zeit, in der er anfing, sich seine Parallelwelt zu schaffen. Sein Vehikel hinüber waren seine Bücher. Sie waren das einzige, was er von seinen Eltern mitnehmen konnte, das einzige, was ihm noch die Gewissheit gab, dass sie kein Phantasma waren, sondern WIRKLICH gelebt und WIRKLICH gestorben waren. Er fuhr hinüber in diese Welt, erst auf Kinder- und Jugendbüchern, dann auf den großen Dramen und Romanen der Weltliteratur, später auf den theoretischen und philosophischen Werken, die allesamt versuchten das zu erklären, was der Alltag dennoch wieder Stück für Stück zerbröckeln ließ.
Mit der Zeit erkannte er jedoch, dass ihn diese Parallelwelt schon nahezu verschlungen hatte. Er hatte keine Freunde, keine Liebschaften, er hatte nur sein Zimmer und seine Bücher. Er wollte Herr dieser Kräfte werden, wollte das zerlegen, was ihn einnahm, und studierte nach dem Abitur Literatur. Doch je mehr er in die Welt der Wissenschaft eintauchte, umso weiter weg rückte er von allem, was angeblich das „echte“ Leben ausmachte.
Er las, studierte und träumte. In seinen Träumen sah er seine Eltern, den Keller seiner Großeltern und wachte auf. Er spürte den Schmerz in der Herzgegend, der ihm den Atem zu nehmen schien und fing an zu lesen. Er wurde ruhiger. Das war sein Kreislauf.
Manchmal saß er alleine auf seiner Couch und sah ins Leere. Dann kamen tausend „Was wäre, wenn…“ –Fragen, die er auf sich niederregnen sah. Erst nach einigen Minuten war er in der Lage, die Augen zu schließen, um exakt zwei Tränen den Weg entlang seiner Wangen bahnen zu lassen.

Der Mann zieht das Tempo wieder an, er schreitet an der Terrasse vorbei, doch heute blickst du ihm nicht nach. Du starrst an die Stelle, auf der er gerade noch scheinbar unbeweglich war. Erst jetzt bemerkst du dein Schluchzen. Du weinst, wie du es von dir nicht kennst.
Nein, beginnst du zu dir zu sagen, nein, nein. Nein, das wollte ich nicht. Nein, das wollte ich nicht sehen, das war zu viel, das wollte ich niemals zu sehen bekommen. Du bist traurig. Du bist verängstigt. Du hast Wut. Irgendjemanden oder irgendetwas klagst du an, das wollte ich nicht sehen, verdammt. Deine Gedanken werden zu einem leisen Brabbeln, du willst diesen Ort verlassen, schnell weg von hier, du legst viel zu viel Geld auf den Tisch, packst deine Sachen, stehst auf und bist schon auf halben Weg weg von diesem Ort, als eine Männerstimme laut ruft: „Ähm, entschuldigung!“
Du drehst dich um. Ein älterer Herr kommt auf dich zu und sagt: „Hier. Das ist wohl ihrer! Nicht vergessen, soll wieder kälter werden“, und dabei hält er dir einen Schal hin, dessen rote Farbe schon fast ins bräunliche übergeht.

 

Lieber TeeDee,

habe neulich hier eine (inhaltlich) vergleichbare Geschichte gelesen - Der Doppelgänger - von wander. Kennst Du die schon?
Ich finde Deine Erzöhlung gut lesbar und sinnvoll strukturiert. Ich konnte mir die Szenerie im Café gut und bildhaft vorstellen und ich fand auch die farbliche Darstellung - grau/rot als Metapher schön. Mir kommt allerdings schon relativ früh der Verdacht, dass es sich bei der Begegnung um eine Projektion handelt, bzw. ist das die einzige Erklärung, wenn man nicht an Übersinnliches glauben mag. Eigentlich sollte die Überraschung ja wohl erst am Schluss mit dem Schal kommen, der nachgetragen wird. Vielleicht könntest Du vorher etwas geheimnisvoller bzw. mehrdeutiger bleiben.
Für meinen Geschmack ist die Darstellung der Lebensgeschichte des Mannes zu unpoetisch. Es werden die Fakten mitgeteilt und seine Empfindungen darüber geschildert. Aber dem Leser bleibt kein Raum, davon berührt zu werden, eigene Schlüsse zu ziehen... Man kriegt quasi die inhaltliche Interpretation gleich mitgeliefert. Und es bleibt einem nur ein Seufzer - tja, der hat's nicht leicht gehabt und ist dem Muster so und so gefolgt.

Mich stören auch manche Formulierungen, z.B.:

Du sitzt in dem gleichen Cafe wie jeden Tag zur gleichen Stunde.

vielleicht besser: Wie jeden Tag sitzt du zur gleichen Stunde im selben Café.

Irgendetwas in dir nimmt es zwar auf, registriert es irgendwo weit hinten, doch ist es für dich zu alltäglich geworden, sodass du deine Augen nicht mehr hebst und du deinen Kopf in die Richtung drehst, in der sich gerade der Ton des Gastes gegenüber der Bedienung ändert.

weit hinten - ist sehr umgangssprachlich und unkonkret.
Man versteht auch nicht genau, ob er jetzt den Kopf dreht oder nicht.

Jedenfalls guckt dich die vollschlanke, sich jenseits der 70 befindliche Dame im feinen Nerz vom Nebentisch schon fast bemitleidend an und sagt: Hallo, aufwachen!

...eine Dame jenseits der 70... würde reichen.

Wieder registrierst du erst die Situation, nachdem deine Sinne bereits reagiert haben: Dein Kopf hat sich bereits gehoben, dein Blick hat sich justiert, doch erst jetzt begreifst du, dass der Auslöser dessen wieder der herbeifliegende, grau gekleidete Mann von gestern, vielmehr der ins braun gehende rötliche Schal von ihm ist. Als ob ein unsichtbarer Regisseur die rewind-Taste gedrückt und/oder dich wieder ins gestern zurückgeschickt hat. Die rationale Instanz in dir fragt sich, ob das gerade real ist, was vor deinen Augen abläuft, ob eine Situation im alltäglichen Leben dupliziert und in einen späteren Zeitpunkt verpflanzt werden kann.

Das find ich richtig gut! Auch die Idee mit den "Instanzen" ist ja nicht schlecht, die hättest Du dann aber wohl konsequenter verfolgen müssen. Denn bei dem Absatz über die Kindheit des Mannes und was daraus folgt, geht beides - rationales und emotionales - ungünstig zusammen und verliert dadurch an Kraft (s.o.).

Mir fällt auf, dass ich manche Passagen wirklich gut geschrieben finde! Vielleicht gehst Du ja stellenweise noch mal 'rüber...

Liebe Grüße
Cleng

 

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