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Ein Riss in der Tapete
"Mir geht es gut, wirklich."*
Er spürte, wie seine Ohren erröteten. Spätestens an diesen roten Ohren hatte seine Mutter in seiner Kindheit oft erkannt, dass er nicht die Wahrheit sprach.*Instinktiv berührte er mit der linken Hand sein Ohrläppchen, versuchte es in seiner Faust zu verstecken.
Die weißen Wände hätten für die Enthüllung der Wahrheit genug gereicht oder der Geruch von Desinfektionsmitteln und Gummi. Diese unerträgliche Sterilität, die in einem krassen Gegensatz zu seinem Lebensdrama stand.
Zum Glück konnte sie ihn nur hören.*
"Ja, Hendrik geht es gut. Die Grundschule macht ihm Spaß. Nur mit den Hausaufgaben ist das ein kleines Problem."
Gut . Er fühle sich gut im Krankenhaus, wo die Zeit schleppend an ihm vorbeiging. Inmittem dem gräßlich hellem Zimmer, dessen weiße Farbe eine entblößende Wirkung hatte. Wie wohl konnte man sich den unter Menschen fühlen, die sich verzweifelt am Leben klammerten oder ihr Dasein nur noch fristeten.
Diese Wände. Sie hatten ihn seit seiner Kindheit verfolgt. Immer war er empfindlicher als die anderen Kinder gewesen. Freunde hatte er kaum. Überhaupt ist es ein Wunder, dass er seine eigene Familie aufbauen konnte. Natürlich dauerte dieses Wunder auch nur kurz.
Er konnte sich noch genau an sein erstes und letztes Fußballspiel erinnern. Man hatte ihn dazu aufgefordert, in der Abwehr zu spielen weil er ziemlich groß war. Mit seinen zehn Jahren überragte er bereits seinen Vater, der 1,75 maß, und wirkte auf die meisten sehr einschüchternd. Als er den Ball an einen Mitspieler zupassen wollte, fühlte er wie ein stechender Schmerz von seinen Zehenknöcheln aufstieg und sich im ganzem Bein ausbreitete. Wie der Ball von ihm wegrollte und auf das darauffolgende Piepen in seinen Ohren die gedämpften Stimmen der anderen Kinder und verschwommene Bilder folgten. Immer noch hallte sein gellender Schrei in seinen Ohren, wenn er Albträume hatte. Heute, als ein erwachsener Mann , der als Vater gefälligst stark zu sein hatte, unterdrückte er diesen Schrei.
Das Röntgenbild seines Schienbeins lag auf dem Tisch am Fenster. Mit heuchlerischer Empathie hatten ihm die Ärzte die Abbildung übergeben. Er empfand es als besonders sadistisch, dass man ihm einen Weihnachtsengel auf den Nachttisch gelegt hatte. Engelmann-Syndrom nannte sie den Fluch, der ihn nicht loslassen wollte.
"Ob ich Sorgen habe? Nein, Mutter. Meine Frau ist eine starke Frau. Wir kommen schon klar."
Er guckte auf das zerknüllte Papier, was neben ihm lag. Hätte seine Mutter nur reingeschaut oder die fett gedruckte Überschrift gesehen, wüsste sie, dass er log. Sie war ganz bestimmt nicht stark.
"Alles wegen dir", hatte seine Frau geschrien, "Du hast meinem Sohn diese verfluchte Krankheit vererbt. Du hast mir 10 Jahre lang etwas vorgemacht. "
Ab dem Moment wusste er, dass Hendrik's Geburt kein Geschenk für ihn war. Denn er hätte nicht als sein Sohn auf die Welt hätte kommen dürfen. Fast hätte er geweint, aber seine Stimme hätte ihn verraten.
Er hätte nicht lügen müssen, aber eine Wahrheit ließ ihn nicht los.
Seine Mutter erzählte ihm weiterhin, wie sein Vater sich als Rentner im Garten beschäftigte, von den schönen Geranien aber er hörte nicht zu, denn er sah einen Riss in der weißen Tapete über seinem Bett. Die Fläche war sehr klein, aber die graue Betonwand trotzdem sichtbar. Wie ein Tropfen Tinte sich im Wasser ausbreitete, breitete sich diese graue Farbe aus.
Er fühlte sich auf eine merkwürdige Weise ertappt und die Frau am anderen Ende bemerkte sein Schweigen.
"Markus", sagte sie besorgt, "Was ist los?"
"Ich will nicht mehr, " war seine Antwort, wobei er es nicht vermeiden konnte, dass sich seine Stimme überschlug.*
In seinen Erinnerungen echote die Stimme seiner Mutter :
"Ich will nicht mehr diese Qualen ertragen. Dieses Kind ist mein größtes Elend." Alles hatte sie an seinen Vater gewandt hinter einer Betonwand geflüstert. "Ich ertrag das nicht länger. "
Gleichzeitig flüsterte er mit der selben seltsam erstickten Stimme :
"Ich will nicht mehr länger lügen. "
"Ich kann nicht mehr."
Und schlug sich mit der Faust auf den Mund um ein Schrei zu unterdrücken.
Die Frau am anderen Ende überhörte willig seinen erstickten Schrei und legte auf.
Nüchtern erzählte sie ihrem Mann die halbe Geschichte, der nur nickte, denn es war dieselbe Geschichte, die er immer wieder zu hören bekam.
Am selben Abend, als die Pflegerin dabei war, das Licht im Bettzimmer auszuknipsen und ihr Mann längst eingeschlafen war, machte sie ein Geständnis :
"Mein Sohn und ich", sagte sie , "Wir lügen uns gegenseitig an."
Die Pflegerin verkrampfte sich, denn ihre Schicht hätte schon vor einer Stunde enden müssen. Trotzdem blieb sie stehen und tat, als würde sie gerne zuhören wollen.
Die kugelrunden Augen der Frau hingen an der Decke fest. Ein seltsamer Ausdruck lag in ihnen und es war, als spräche sie zu sich selbst. Sie lag im Bett wie gelähmt. Nur ihr Mund bewegte sich :
"Wir führen ein Spiel, dessen Regeln nur wir kennen, obwohl wir sie nie ausgesprochen haben."
Die Lippen der Pflegerin wurden schmaler. Ein klares Signal.
"Heute wollte er eine Regel brechen. Er wollte die Wahrheit sagen. "
"Und was haben Sie jetzt vor?", fragte die Pflegerin mit zynischem Unterton, denn sie konnte die Antwort erahnen.
"Ich werde es vergessen."
Eine Träne rollte von ihren Wangen herab.
Und das Licht wurde ausgeknipst.