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Ein normaler Tag im Herbst
Montag, 5.27 Uhr: Ich hatte den allmorgendlichen Frühsport bereits erledigt und auch mit meinem Frühstück, bestehend aus dünnem Ersatzkaffee, sowie zwei Scheiben nicht sonderlich dick
geschnittenem Brot, das dünn mit Magarine bestrichen war, war ich schon fertig. Meine Arbeitskleidung lag wie immer säuberlich gefaltet auf dem Stuhl und ich musste mich beeilen, denn um 5.40 Uhr hatte ich bei der Sammelstelle zu sein, an der wir jeden Tag von dem Lastwagen abgeholt wurden, um zur Arbeit gebracht zu werden.
Als ich eintraf, zeigte meine Uhr, die ich anlässlich meines 18. Geburtstag von meiner Patentante als Geschenk bekommen hatte genau 5.39 Uhr an und die ersten stiegen schon auf die LKWs. Nachdem ich mich auch zu den anderen dazu gequetscht hatte, fuhren die Lastwagen los. Es war
für diese Jahreszeit schon recht frisch, so dass man trotz der Plane, die man zum Schutz gegen das Wetter über die hintere Ladefläche gespannt hatte, den Atem der anderen Männer, wie kleine Wölkchen aus Watte, in der Luft sehen konnte. Nach einer ruckeligen Fahrt über die geschotterten Straßen, die etwa 20 Minuten dauerte, hielten die LKW´s am Werkstor an und ich stieg ab. Der Mann am Eingang warf einen eher beiläufigen Blick in meine Arbeitskarte und lies mich durch das Tor.
In der Hauptbaracke wurde ich instruiert und begab mich zu dem mir zugewiesenen Gebäude Nummer 37, indem ich immer am Montag und Donnerstag Dienst hatte.
Es war von einer größeren Ladung berichtet worden, die bis zur Mittagspause um 12.30 Uhr
abgefertigt sein musste. Nachdem ich über den Innenhof vorbei an den anderen Baracken gelaufen war, bertrat ich das Gebäude und bereitete alles zum Eintreffen des Materials vor.
Als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, dachte ich an Emma, meine Verlobte, die ich zuletzt vor einem halben Jahr gesehen hatte und der Gedanke an sie fühlte sich sonderbar
und fehl am Platze an - nein ich musste mich voll auf meine Arbeit konzentrieren - nicht auf Gefühle, die mich dabei nur ablenken würden.
Ich wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Gruppe 2 im Untergeschoss die Türe schon geschlossen hatte. Daraufhin legte ich meine Schutzausrüstung an und öffnete mit Hilfe einer Stanze den Deckel der ersten Dose, befestigte den Gummitrichter vorsichtig daran und pünktlich um 7.00 Uhr schüttete ich den Inhalt, in die dafür vorgesehenen Löcher im Fußboden.
Das erst in Gemurmel und dann in panische Angstschreie ausartende Geräusch von unten wertete ich als langsames Wirken der Behandlung. Wir waren darauf gedrillt worden, von der Behandlung, beziehungsweise der Abfertigung des Materials zu Reden und mit der Zeit gelang es mir immer besser, damit seelisch klar zu kommen.
Beim ersten Mal hatte ich die Todesqualen fast lebensecht miterlebt, aber mit der Zeit gewöhnt man sich ja bekanntlich an alles und so genügte mir mittlerweile die "Zigarette danach" und das Gefühl der Menschheit einen Gefallen - einen großen Dienst - erwiesen zu haben, wie der Lagerkommandant das immer bezeichnete.
Wenn ich mir jedoch, was häufig vorkam, den Gedanken ins Gewissen rief, das Franz, einer meiner besten Schulfreunde, noch aus der Zeit vor dem Beginn des Krieges, Jude gewesen war,
ebenso wie jene anderen, die gerade unten im "Brausebad" ihre letzten Minuten auf Erden erlebten, und er eines Tages mit seiner gesamten Familie von seriös wirkenden Herren in langen Mänteln abgeholt wurde, um auf ähnliche Lastwagen verladen zu werden, wie die, die mich jeden Tag zur Arbeit brachten, um nie wieder aufzutauchen, erfasste mich ein tiefes und unbestimmtes Gefühl der Scham, das mich bei längerem Nachdenken in einen monströsen, alles verschlingenden Mahlstrom der Ungeheuerlichkeit zu ziehen und zu verschlingen drohte.
Aber ich tat doch meine Arbeit wie andere auch, präzise und effizient wie ein Uhrwerk und war es nicht meine heilige Pflicht, für mein Land und mein Volk alles zu geben was in meiner Macht stand ? Hatte ich mich in meinem blinden Gehorsam etwa so verrannt ? Konnte ich mich so geirrt haben ? Ich verbannte diesen absurden, aufkeimenden Gedanken, so wie jedes Mal aufs Neue, und ging wieder an meine Arbeit.