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Ein neues Leben
Die Sonne brannte auf das Dach seines Dodge Durangos und verursachte Carl stechende Kopfschmerzen. Kopfschmerzen, die durch das pausenlose Geschnatter der Frau an seiner Seite noch verstärkt wurden. Seiner Frau, auch wenn es ihm zuweilen unvorstellbar schien, dass er sich mal grunzend vor Lust mit ihr auf dem Teppich gewälzt hatte. Er schielte zu ihrem Doppelkinn und den schlaffen Brüsten hinüber, die verschwitzt unter dem T-Shirt hin und her pendelten. Sie redete ohne Punkt und Komma von der neuen Einbauküche, die sie sich bald leisten wollten. Deine Einbauküche, dachte er hämisch, wenn du wüßtest.
” Wir haben ja jetzt so an die zwanzigtausend, das wird schon reichen da können wir auch noch den Weinkühler mit reinnehmen und vielleicht noch den Abzug, was meinst du, sag doch mal was, es soll dir ja auch gefallen, aber vielleicht nehmen wir ja doch die Granitoberflächen, Benjamin lass deinen Bruder in Ruhe!”
Sie griff ruckartig nach hinten und riss seinem jüngsten Sohn die Papierfahne aus der Hand, mit welcher dieser seinen Bruder traktiert hatte. Sofort fing er an, wie am Spieß zu brüllen.
“Daddy, ich muss mal pinkeln!” meldete sich sein anderer Sohn vom Rücksitz.
Ich halte das nicht mehr aus, dachte Carl, ich kann nicht mehr länger warten. Er strich sich über die Hemdtasche und hörte das beruhigende Knistern des wertvollsten Papieres seines Lebens. Schon allein die Berührung verursachte ein Prickeln in ihm. Dieser Vertrag, die Hoffnung seines Lebens. Der Vertrag, welcher genau die Summe für die alberne Einbauküche geschluckt hatte, auf die sich seine Frau so freute, und die sie, wenn alles klappte, nie besitzen würde.
Der Vertrag, der ihm ein neues Leben bescheren würde, ein besseres in einer besseren Zeit. Ohne die ganzen Idioten, die in diesem Jahrhundert den Planeten bevölkerten, seine Frau und sein Chef an allererster Stelle. Ein neues Leben in einer Zeit, in der es Mittel gegen Haarausfall und Bauchspeck gab, gegen Krankheiten und Altern, einer Zeit in der alles möglich sein würde, was ihm jetzt nicht vergönnt war.
Vor genau zwei Jahren hatte ein Zufall seinem Leben diese unglaubliche Wendung gegeben.
Er wartete damals im Kaufhaus auf seine Frau, die mal wieder stundenlang in den Sonderangeboten wühlte, und vor lauter Langeweile kaufte er sich am Kiosk ein Magazin. Das Sportmagazin, was er sonst zu lesen pflegte, war nicht zu finden und so nahm er kurzentschlossen “Wissenschaft heute”. Anfangs hatte er lustlos die Seiten durchblättert, doch dann war er auf diese unglaubliche Anzeige gestoßen.
“Träumen Sie von einem Leben in der Zukunft? Hoffen Sie auf Heilung Ihrer Krankheit durch die Medizin der Zukunft? Haben Sie den Mut zu einem Neustart in der Zukunft? Wir machen Träume wahr! Rufen Sie uns an- Bodyfreeze Corporation 1800 246245.”
Belustigt hatte er das Magazin in die Tasche gleiten lassen, aber die Anzeige war die ganze Woche lang in seinem Kopf herumgespukt und schließlich, nach einem besonders unerträglichen Tag im Büro, hatte er seinen Mut zusammengenommen und die Nummer angerufen. Es handelte sich beileibe nicht um einen Scherz, wie er halb erwartet hatte, sondern um eine durchaus seriöse Firma, die Tochtergesellschaft einer angesehenen Biogenetik-Corporation. Dem Anruf folgte schließlich das erste Treffen, bei dem ihm die Tragweite dieses unvorstellbaren Wunders der Technik bewusst wurde.
“Sehen Sie”, hatte ihm Dr. Richards in seinem beeindruckendem Büro erklärt, “es ist eigentlich ganz einfach: Sie zahlen uns die angegebene Summe und zu einem von Ihnen ausgewählten Zeitpunkt kommen Sie in unserer Zentrum, wo wir Sie in einen Gefrierschlaf versetzen. Den Behörden genügt ihre offiziell beglaubigte Erklärung, dass es sich hierbei um einen freiwilligen Akt handelt.“
“Meine Frau kann auch nicht darauf bestehen, mich wieder aufzuwecken?” hatte Carl misstrauisch gefragt, aber Dr. Richards hatte ihn beruhigt.
“Der Vertrag schließt andere Personen aus. Nur Sie allein sind legal berechtigt und verantwortlich. Nur Sie allein werden, zu dem Zeitpunkt, wenn es unsere Technologien erlauben, in den Genuss kommen, unsere Welt in der Zukunft zu erleben. Ich kann Ihnen gar nicht genug zu Ihrem Entschluss gratulieren.”
“Wer garantiert mir denn, dass all dies wirklich passieren wird, Dr. Richards?”
Dr. Richards hatte sich vorgebeugt und ihn mit seinen ernsten, klaren Augen angeschaut.
“Die ethischen Prinzipien unserer Firma sind unantastbar. Wir halten unser Wort. Dies ist eine Partnerschaft, eine Symbiose, wenn Sie so wollen. Ihr Geld ermöglicht unsere Forschung. Unsere Forschung ermöglicht Ihnen ein Leben in der Zukunft, das ewige Leben sozusagen.”
Nach diesem Gespräch stand sein Entschluss fest. Dies war sein Ticket, seine große Chance, seine einzige Chance noch etwas aus seinem sinnlosen, stumpfsinnigen Dasein zu machen.
Seit diesem Tag hatte er gespart, mit Hilfe seiner unwissenden Frau und einer fiktiven Küche.
“Schatz”, er legte seine rechte Hand auf ihren schwammigen Arm und steuerte mit der linken,”was hältst du von einem kleinen Urlaub im BelaVista Wellness Hotel nächste Woche? Nur ein paar Tage, lass dich mal ein wenig verwöhnen.”
Seine Frau guckte ihn sprachlos an, noch erhitzt vom Streit mit den Kindern auf dem Rücksitz.
Ihr Gesicht bekam einen dümmlich glücklichen Ausdruck.
“Meinst du das ernst Liebling? Können wir uns das denn leisten mit der Küche und allem?”
Zwei Wochen später durchschritt Carl die Empfangshalle von Bodyfreeze Corporation. Es war soweit, alle Formalitäten waren erledigt. War er heute morgen noch aufgeregt und sogar beim Anblick des Photos seiner Kinder fast unschlüssig gewesen, so verspürte er jetzt nichts als Ruhe und Frieden. Ich bin ein Pionier im Dienste der Forschung, dachte er. Keiner seiner Bekannten würde den Fortschritt der Menschheit so erleben wie er. Ich bin auserwählt, ein lebendiges Stück Zeitgeschichte.
Dr. Richards überwachte ihn persönlich und stand neben dem großen sargartigen Metallbett, in welches er sich legen musste.
“Bedenken Sie Carl, welch unvorstellbares Glück Sie haben. Sie werden Dinge sehen, von denen unsere Generation nur träumen kann. Und nun leben Sie wohl”
Das Letzte, was Carl sah, war Dr. Richards freundliches Lächeln. Und das Letzte, was er dachte war, wie seltsam es doch klang, als Dr. Richards von ‘unserer Generation’ gesprochen hatte.
Sein allerletzter Gedanke galt der Erkenntnis, dass er Dr. Richards nie gefragt hatte, ob dieser sich selbst auch einfrieren lassen wollte.
Er machte die Augen auf und musste sie sofort wieder schließen. Er versuchte, sie wieder zu öffnen, aber diesmal ging es nicht. Stattdessen steckte er seine Zunge weit heraus. "Was mache ich denn da", dachte er. Von weit her konnte er Stimmen hören, sie klangen wie Kinderstimmen. Hatte seine Frau ihn also doch wieder wecken lassen! Der brennende Schmerz zuckte wieder durch ihn durch, er riss die Augen auf, steckte die Zunge heraus und wackelte mit den Ohren.
“Ich will auch mal” hörte er eine quengelnde Kinderstimme. Das war weder sein großer noch sein kleiner Sohn.
“Nun lass Jimmy auch mal!” sagte eine liebevolle Frauenstimme, definitiv nicht die seiner Frau.
“Du musst es langsamer machen Jimmy” hörte er wieder das andere Kind, und mit einem Ruck gingen seine Augen auf und blieben diesmal auch offen. Vor ihm stand ein niedliches kleines Mädchen in einem roten Kleid mit einer Art Fernbedienung in der Hand.
“Siehst du, so lässt er die Augen auf”, sie drückte auf die Fernbedienung, “und so macht er lustige Gesichter.”
Neben dem kleinen Mädchen erschien jetzt ein Junge und versuchte, ihr die Fernbedienung wegzunehmen. Ein Weihnachtsbaum wurde hinter ihm sichtbar. Wer waren diese Kinder?
Hört sofort auf, wollte Carl sagen, aber er konnte nicht sprechen. Die Kinder stritten sich und fielen übereinander, dadurch gaben sie den Blick auf einen Spiegel an der Wand gegenüber frei.
Carl wollte schreien, als er in den Spiegel blickte. In einem grossen Glaskasten konnte er seinen Kopf sehen. Nur seinen Kopf, sein Körper war weg. Um ihn herum auf dem Fussboden lag Weihnachtspapier, daneben stand ein grosser Karton mit dem Schriftzug einer ihm wohl bekannten Firma: “Bodyfreeze Spielzeug - Spaß für die ganze Familie!”