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- Anmerkungen zum Text
Ich lebe seit einigen Jahren in einem kleinen Pflegeheim und habe zwei kleine Geschichten aus dem Heim geschrieben: Abschiedsfeier und Rastlos . Bewohner und Pflegekräfte kennen sich und sprechen sich mit Namen an. Die Atmosphäre ist eher familiär und Fremde fallen sofort auf.
Ein neuer Bewohner
Kurz vor der Mittagsmahlzeit betrat ein älterer Herr den Essraum und Schwester Christiane wies ihn auf einen freien Stuhl. Er hatte sich gerade hingesetzt, da krähte Frau Prosel: "Da können Sie sich nicht hinsetzen, das ist der Platz von Frau Walzer."
"Aber Frau Walzer ist doch tot", erwiderte Frau Richard.
"Ganz richtig", warf Schwester Christiane ein. "Herr Lubert ist ein neuer Bewohner und in das Zimmer von Frau Walzer eingezogen."
Dann wandte sich Schwester Christiane an Herrn Lubert: "In der Woche haben Sie die Auswahl zwischen zwei Gerichten. Heute gibt es Currywurst mit Schmorkartoffeln und gelben Bohnensalat oder gefüllte Paprikaschote mit Reis und Tomatensauce."
"Ich hätte gerne die Schmorkartoffeln ohne Wurst."
"Das schmeckt doch nicht, Currysauce ohne Wurst", warf Herr Weber in der gewohnten Lautstärke ein. Niemand reagierte auf den Einwand, nur Frau Prosel fragte: "Was hat er gesagt?"
Das Essen wurde ausgeteilt und der letzte Bewohner bekam seine Mahlzeit erst, als Frau Richard schon aufstand.
"Es gibt noch Nachtisch", wandte sich Anja an sie.
Da Frau Richard nicht reagierte, antwortete Schwester Christiane: "Frau Richard isst keinen Nachtisch."
Nach dreißig Minuten hatten alle Bewohner ihre Mahlzeit beendet. Einige gingen in ihre Zimmer, andere in den Aufenthaltsraum. Bis zum Kaffee war jetzt Mittagspause. Frau Kleen ging mit ihrem Rollator an den aufgereihten Bewohnern vorbei, blieb dann aber vor Herrn Lubert stehen: "An der Tür ist das Wochenprogramm angeheftet. Es gibt jeden Tag Angebote."
Herr Lubert ging zu dem Aushang und sah den Aushang sorgfältig durch. Nach dem Kaffeetrinken kam er dann zum Gedächtnistraining, das heute angeboten wurde.
Zehn Bewohner saßen im Kreis um Schwester Ulrike. Herr Lubert setzte sich auf einen freien Stuhl und schon ging es los: "Wir spielen Wortkette. Ich sage ein zusammengesetztes Wort und sie bilden mit dem letzten Teil ein neues Wort. Ich werfe dann den Ball und wer den Ball fängt, darf seine Lösung sagen. Los geht es mit Tierarzt."
Frau Lohberg hüpfte auf ihrem Stuhl, aber der Ball landete bei Frau Richard: "Arztpraxis."
"Das ist ein schweres Wort. Wer weiß etwas?" Schwester Ulrike wiegte den Ball in ihrer Hand und als sich Herr Weber meldete, warf sie ihm gezielt den Ball zu: "Praxisklinik", warf Herr Weber in den Raum. "Das gibt's doch gar nicht", erwiderte Frau Richard. "Doch", sagte Herr Weber", ich war im letzten Jahr in der Praxisklinik Baden-Baden."
Schwester Ulrike warf den Ball, der bei Herrn Gauger landete: "Klinikbett", war sein Wort. Das Spiel nahm Fahrt auf: "Bettwanze", "Wanzenjäger", "Jägermeister". Alle schmunzelten, war doch allgemein bekannt, dass Frau Prosel gerne Jägermeister trank.
Nach einer Viertelstunde ließ die Aufmerksamkeit der Mitspieler nach und Schwester Ulrike schlug vor, ein Lied vor der nächsten Spielrunde zu singen. Alle sangen mit, in ihren Tonlagen und mit den Noten, die sie im Kopf hatten.
"Und jetzt spielen wir Sprichwörterquiz, wir fangen an mit "Auge um Auge."
Schwester Ulrike warf den Ball und Her Lubert fing ihn: "Zahn um Zahn."
"Sehr gut. Und nun der frühe Vogel."
Frau Prosel fing den Ball: "ist immer müde." Alle lachten, war doch bekannt, dass Frau Prosel morgens gerne lange schlief.
Diesmal fing Frau Lohberg, die es kaum auf ihrem Stuhl hielt, den Ball: "fängt den Wurm."
"Richtig. und was sagt man anstatt "Alles in Ordnung"?
Schweigen. Dann hob Herr Weber zögernd seine Hand. "Weiß es noch jemand?"
Frau Leisenstein meldete sich und bekam den Ball zugeworfen: "Alles in Butter."
"Sehr gut. Und als letztes Sprichwort "Alte Liebe".
Der Ball landete bei Herrn Gauger: "rostet nicht."
"Danke fürs Mitmachen. Morgen gibt es Brettspiele im Aufenthaltsraum."
Einige blieben sitzen, andere standen auf und gingen fort. Herr Lubert schaute auf seine Uhr: Knapp zwei Stunden bis zum Abendbrot. Was kann man hier denn gegen die Langeweile unternehmen? Da ihm niemand zuhörte, musste er wohl versuchen, die Antwort alleine zu finden. Da hatte er dann wohl einiges zu tun.