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Ein neuer Anfang
Die Koppeln lagen am Rand einer sich sanft wölbenden Hügelkette und wurden von Stallungen und Wohnhäusern auf der einen, von dichtem Unterholz auf der anderen Seite begrenzt. Der Mond und die vereinzelt heraufziehenden Nebelschwaden tauchten die Szenerie in ein unwirkliches, feenhaftes Licht. Die Stille wurde nur durch das ruhige Atmen und hin und wieder durch ein leises Schnauben oder Scharren der sechs Pferde unterbrochen. Die Fenster des Hauses waren dunkel und die in einiger Entfernung vorbeiziehende Straße zeigte die friedliche Verlassenheit de frühen Morgenstunden.
Die vier Stuten hatten die beiden Fohlen in ihre Mitte genommen und flankierten den Nachwuchs von jeder Seite mit ihren Körpern, von denen die Wärme als sichtbare Schwaden in die kälter werdende Luft der Herbstnacht aufstieg. Die Tiere hatten ihre Köpfe leicht gesenkt und konnten einem flüchtigen Beobachter den Eindruck von Trägheit vermitteln. Bei genauerem Hinsehen bemerkte man jedoch unweigerlich, dass die Ohren der Stuten unablässig in Bewegung waren – ein Zeichen von immerwährender Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft, das die Jahrhunderte der Zähmung durch den Menschen überdauert hatte – der Instinkt, die Herde zu schützen.
Es war dieser Instinkt, der die Ruhe mit Bewegung erfüllte. Eine der Stuten hob plötzlich den Kopf, starrte mit weit aufgerissenen Augen und angelegten Ohren in die Dunkelheit des angrenzenden Waldes und fing an mit den Hufen zu scharren. Das Signal übertrug sich auf die anderen Tiere, die Aufmerksamkeit wurde zu Unruhe, die Unruhe zu Furcht, die sich in einer explosionsartigen Flucht über die gesamte Länge der Koppel entlud. Der stabile Zaun aus weißen Holzbalken setzte dem donnernden Galopp der Tiere ein jähes Ende. Ein kurzes Umblicken zeigte ihnen, daß sie der Ursache ihrer Panik noch nicht entkommen waren.
Das was sich über die mondbeschienene Koppel auf sie zubewegte, trug einen Geruch mit sich, den die Tiere noch nie wahrgenommen hatten. Und doch ließ sie der uralte Instinkt wissen, dass dieser Geruch nichts anderes als den Tod bedeutete.
Der Zaun begann unter der Kraft der rückwärts drückenden Leiber zu ächzen. Als die ersten Balken nachgaben, hatte der Verfolger die Distanz zwischen sich und seinen Opfern auf wenige Meter verkürzt. Das Mondlicht wurde für den Bruchteil einer Sekunde von einem glitzernden Etwas reflektiert, als er zum ersten Schlag ausholte.
Seit Anbeginn der Zeit gehorcht die Natur unter anderem dem Gesetz der minimalen Barmherzigkeit. In Erfüllung dieses Gesetzes geschieht alles was geschehen muss so schnell wie möglich und meist ohne unnötige Grausamkeit. Manchmal jedoch ist diese Barmherzigkeit gerade so groß, dass sie die Grausamkeit lediglich verhüllt. Von den Hügeln her schob sich eine mächtige Wolkendecke heran und verdunkelte den Mond. Allein die Geräusche von splitterndem Holz, die Schmerzensschreie geschundener Tiere, die schnell in ein schwaches, gurgelndes Röcheln übergingen und ein scharfes, schnelles Atmen, das nicht genau zuzuordnen war, ließen die Dinge erahnen, die sich in der Dunkelheit abspielten. Als im Wohnhaus die Lichter angingen, herrschte bereits wieder Stille.
Eine neue Umgebung ist immer einem neuen Anfang gleichzusetzen. Auf jeden Fall trifft das auf mich zu. Vor drei Monaten hatte ich meine Zelte in der Stadt abgebrochen, nachdem ich vergeblich versucht hatte, aus meiner eingeschlafenen Beziehung zu Sandra noch irgendetwas herauszuholen. Zu wenig, wie sich herausgestellt hatte. Totgelaufene Beziehungen sind wie leere Kühlschränke. Das einzige was sie zu bieten haben, ist Kälte. Gerade als ich vor den Scherben meiner/unserer Zukunft in die Knie zu gehen drohte, stolperte ich über diese Anzeige, in der eine „Gemischtpraxis in ländlicher Gegend“ zum Verkauf angeboten wurde. Es klang auf Anhieb verführerisch. Kurzum, ich schaffte es binnen weniger Wochen, meinen urbanen Kleintiertempel nebst Inventar zu Geld zu machen und sprang ins kalte Wasser. Das kalte Wasser namens „Ländliche Gegend“ bedeutete eine radikale berufliche Umorientierung. Meine Patienten wurden größer und die meisten von ihnen liefen auf Hufen oder Klauen, anstatt auf Pfoten. Einige von ihnen gaben Milch und nicht wenige wurden gegessen. Mittlerweile bin ich einer dieser Tierärzte, die es genießen, jeden Tag mehrere Stunden durch die Gegend zu fahren, von einem Wehwehchen zum nächsten. Wie steht es in der Bibel: Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, dann muss der Berg...? In der Vergangenheit hatte ich nie besonders viel übrig für diesen James-Herriot-Quatsch, aber Menschen ändern sich, oder? Mein Kollege, von dem ich die Praxis übernehmen sollte, ließ es sich nicht nehmen, mich sechs Wochen lang zu begleiten, mich als seinen Nachfolger vorzustellen und meine etwas eingerosteten Kenntnisse bezüglich der medizinischen Versorgung von landwirtschaftlichen Nutztieren und Pferden ein wenig aufzufrischen. Nicht einmal die Freude auf einen wohlverdienten Ruhestand konnte ihn davon abhalten.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich kann erst gehen, wenn ich mir sicher bin, dass das was ich aufgebaut habe in den bestmöglichen Händen ist“, erklärte er mit einem breiten Grinsen, das sein faltiges, wettergegerbtes Gesicht alleine zu beherrschen schien, auf einer unserer ersten gemeinsamen Fahrten. Ich lernte sowohl seine fachliche Kompetenz als auch seine Gegenwart binnen kürzester Zeit schätzen und so empfand ich es beinahe als einen kleinen Verlust, als er mir eines Abends eröffnete, dass die eben beendete Runde die letzte gemeinsame gewesen wäre und dass ich ab dem nächsten Tag die Praxis endgültig als die meine betrachten könnte. „und lasen Sie sich bloß nicht von den Pferdeleuten auf der Nase herumtanzen! Die wissen grundsätzlich alles besser und wenn's dann ans Zahlen geht, können die feilschen, dass Sie glauben, Sie wären auf einem orientalischen Basar“, waren seine Abschiedsworte. Als er in seinem schon antiken Pickup auf einer schnurgeraden Straße einer sorgenlosen Zukunft entgegen fuhr, musste ich unweigerlich an John Wayne denken, der in hunderten von Filmen in hunderte von verschiedenen Sonnenuntergänge geritten war und ich wünschte sowohl meinem scheidenden Kollegen als auch mir selbst viel Glück.
Seine Warnung vor den „Pferdeleuten“ war berechtigt gewesen. Nur hatte er eine Sache vergessen: Egal weshalb sie anrufen – es ist immer ein Notfall. Mit dieser Erkenntnis beschloss ich auch heute morgen nach einem mehr als verwirrten Anruf, dem ich lediglich entnehmen konnte, daß etwas „ganz schreckliches“ passiert war, mich zu bemühen, schnell vor Ort zu sein, ohne jedoch dabei mein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Mein Ziel, ein kleiner aber ansehnlicher Gutshof, lag etwas außerhalb der Ortschaft. Es gab dort nicht außer Hügel, Wälder, Pferde und natürlich Pferdeleute. Nach zwanzig Minuten erreichte ich das malerische Gut und versuchte mir mit einem leichten Grinsen auszumalen, welche Art Notfall mich dieses Mal erwarten mochte. Umso erstaunter war ich, als ich feststellen musste, dass ein Polizeiwagen in der Hofeinfahrt parkte. Einer der Beamten vergewaltigte gerade das Funkgerät, während ein zweiter in Begleitung des Gutsverwalters um die Ecke der Scheune auf das Fahrzeug zuwankte. Beide Gesichter zierte eine erschreckende Bässe, gepaart mit einer Miene, die gleichermaßen Grauen und Ekel ausdrückte. Ich stieg aus und ging mit fragendem Blick auf die Versammlung zu.
„Was ist passiert?“
„Was passiert ist?“, schluchzte der Verwalter, „Er hat zwei von meinen Pferden erwischt. Die Rappstute und das Fohlen! Er hat... Er...“
„Er hat sie aufgeschlitzt“, mischte sich einer der beiden bleichen Polizeibeamten ein. „Mein Gott, ich hab' sowas noch nie... All das Blut!“ Er rannte hinter die Scheune und die zu uns dringenden dumpfen, würgenden Geräusche ließen keine falschen Rückschlüsse auf sein momentanes Befinden zu. Nach einigen Minuten stakste er hinter seiner Deckung hervor, offenbar fest entschlossen, mich und den Verwalter, der sich mittlerweile etwas gefangen hatte, zum Tatort zu begleiten.
Ich hatte derartige Dinge schon öfter gesehen, konnte mich aber auch noch gut an die Anfänge meiner Karriere erinnern und so ziemlich genau nachvollziehen, was in dem Verwalter und den beiden Polizisten vorgehen musste. Vor mir auf dem Gras lagen auf relativ großer Fläche verteilt die Überreste von zwei Pferden. In diesem Kontext von Kadavern zu sprechen, wäre falsch gewesen. Kadaver suggerierte immer etwas Ganzes, etwas Zusammenhängendes. Hier hing kaum noch etwas zusammen. Der geborstene Zaun, die Wiese, das Fleisch, die Eingeweide fügten sich zu einem surrealen Gemälde aus Rot, Weiß und Grün zusammen, das ein gigantische Fliegenschwarm mit einem Schleier aus Grau und Schwarz überlagerte.
„Haben Sie sowas schon einmal gesehen, Herr Doktor?“
„Öfter als nötig. Was ist mit den anderen Tieren?“
„Die konnten eingefangen werden. Haben es Gott sei Dank geschafft, den Zaun niederzureißen. Aber das hier. Das muss doch... Das kann doch kein...“
„Für die hier kann ich nichts mehr tun. Das fällt in Ihren Bereich“, sagte ich an die Polizisten gewandt, „Ich werde mal die anderen unter die Lupe nehmen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich auf der Flucht die eine oder andere Verletzung zugezogen haben.“
Nachdem ich die Schrammen der übrigen Pferde versorgt hatte, hatte ich genug Zeit, mir die Geschichte des Verwalters anzuhören, der eigentlich nichts bemerkt hatte. Er hätte auf seinem Rundgang um halb Sieben Uhr morgens die Tiere und die Koppel in eben diesem Zustand vorgefunden und hätte zuerst die Polizei, dann mich gerufen. Bis die Polizei angekommen war, hätte der Stalljunge - „Gottlob hatte der Kleine das nicht gesehen! Ich hab' ihm strengstens verboten, sich hier blicken zu lassen!“ - die vermissten vier Pferde in nicht allzu großer Entfernung auf einer Lichtung gefunden und nach Hause führen können, obwohl den Tieren die Todesangst nach wie vor an den Augen abzulesen gewesen war.
„Glauben Sie, daß einer dieser Pferdeschlitzer jetzt bei uns“; stammelte der Verwalter, „Man hört doch in letzter Zeit... Sogar im Fernsehen haben sie gesagt, daß überall...“
„Für mich ist der Fall ganz klar“, posaunte der Kleinstadt-Dirty-Harry, dessen Gesicht mit jedem Schritt, den wir uns vom Ort des Geschehens entfernten, etwas gesünder aussah, „Es handelt sich mit Sicherheit mach meiner Erfahrung um irgend so einen Irren, dem einer abgeht, wenn... wenn..., na wenn er so was macht!“
Ohne seine „Erfahrung“ weiter hinterfragen zu wollen ging ich schweigend neben den Beiden her. Auf die Bitte (den Befehl?) der Ordnungshüter hin veranlasste ich den Abtransport der Überreste an das Institut für Pathologie der nächstgelegenen Universitätsklinik. „Zur Sicherstellung von Indizien“, wurde mir erklärt.
Der Pferdemord war schon Gesprächsthema Nummer Eins in der ganzen Stadt, bevor überhaupt die Überreste abtransportiert waren. Nachreichten verbreiteten sich hier schneller als ein Flächenbrand. Jeder ließ bei der Weitergabe der Fakten die ihm zustehende dichterische Freiheit walten, jeder hatte seine eigene Theorie zu der Sache und jeder hatte mindestens einen Hauptverdächtigen auf seiner ganz privaten Fahndungsliste - „Ich habe schon immer gesagt, dass mit dem nicht alles in Ordnung ist!“ Trotzdem rief niemand zur Mörderjagd auf. Das Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Man hatte lediglich etwas, worüber man sich ein paar Tage lang unterhalten konnte.
Die Nacht brach herein und der Mond ging auf über einem kleinen, verschlafenen Nest, dessen Bewohner trotz allem beschlossen hatten, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
Doch in dieser Nacht bewachte der Mond nicht nur den Schlaf der Gerechten. Einem uralten Ritual folgend enthüllte sein bleiches Licht etwas, das sonst verborgen war. Etwas, das nur die Macht des Vollmondes hervorholen konnte. Einen Jäger, der auf leisen Sohlen durch die Schatten der Häuser schlich. Als die junge Frau, die sich offenbar auf dem Heimweg von einem netten Abend befand, sich seiner Gegenwart bewusst wurde, war es zu spät. Ihr Fluchtversuch war von kurzer Dauer und der einzige Schrei, zu dem sie noch fähig war, verhallte ungehört in den einsamen Straßen. Als sie ihrem Verfolger von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, gab es für sie auch keinen Grund mehr zu schreien oder auf Rettung zu hoffen. Das Letzte, was sie in ihrem kurzen und – bis auf ein paar Quickies auf den Rücksitzen verschiedener Rostlauben – langweiligen Leben sah, waren ein paar erbarmungsloser, gelb leuchtender Augen in einem zur Hundeschnauze verzerrten Gesicht und ein vor Geifer triefendes Raubtiergebiss. Das letzte was sie hörte war ein triumphales Siegesheulen, das letzte was sie fühlte, war die Wärme, die von ihr Besitz ergriff. Es ist unwahrscheinlich, dass sie noch dazu in der Lage war, zu erkennen, daß die Wärme von ihrem eigenen Blut ausging, das sich durch eine klaffende Halswunde heiß und hellrot über ihren ganzen Körper ergoss.
Der Anruf aus der Pathologie erreichte mich am folgenden Morgen.
„Respekt, Herr Kollege! Ich bin heilfroh, dass Sie mir dieses – Zeug – nicht zur Klärung der Todesursache überwiesen haben. Ich hätte zehn mögliche in der engeren Auswahl und eine gefällt mir besser als die andere. Suchen Sie sich eine aus! Was gefällt Ihnen besser? 'Die Tiere sind an der Tatsache verendet, dass man ihnen die Eingeweide herausgerissen hat' oder 'Der Tod trat nach Abtrennung des Kopfes vom Rumpf ein'? - Aber Scherz beiseite, bei beiden Tieren trat der Tod als unmittelbare Folge der Durchtrennung beider Karotisarterien mit einem scharfen Gegenstand – Messer vermutlich ein. Mit demselben scharfen Gegenstand wurde bei beiden Tieren Thorax paramedian und Abdomen entlang der Medianebene eröffnet. An Hinterbeinen und Flanke fehlen erhebliche Mengen von Muskelfleisch, das anscheinend als Block herausgeschnitten wurde. Ihr Killer ist ein präzise arbeitender Chirurg“ - Mein Gesprächspartner lachte laut und ausgiebig über seinen Witz. Als er sich wieder gefangen hatte, fuhr er fort: „Aber hier hört es dann auch auf mit der Präzisionschirurgie! Der Rest ist rohe Gewalt. Die viszeralen Organe wurden bei beiden soweit rekonstruierbar mit bloßer Kraft herausgerissen und Zerfetzt. Die Wirbelsäule der Stute wurde zwischen fünftem und sechstem Halswirbel stumpf durchtrennt. Technisch gesehen hat man ihr den Kopf abgerissen, was ich ohne schweres Gerät für nahezu unmöglich halte. Á propos unmöglich, da ist noch etwas: Eine der Lebern, vermutlich die der Stute weist einige sehr merkwürdige Verletzungen auf, die ich nur als relativ typische Bißspuren eines ziemlich großen Hundes interpretieren kann. Wer auch immer das getan hat, hatte noch genug Zeit und Nerven, seinem Hund diese Leber als Leckerbissen zuzuwerfen. Eine kranke Welt. Nun ja, ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen! Würde mich freuen, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten. Kranke Welt!“
Ich bedankte mich und versicherte ihm, dass ich ihn über jede neue Entwicklung informieren würde, legte den Hörer auf und sah aus dem Fenster. In Momenten wie diesem spüre ich immer das Pochen einer Narbe am Oberarm, ein Souvenir aus einer Notoperation an einem äußerst wehrhaften Patienten. Es war in einer dieser Nächte, als die Trennung von Sandra auf Hochtouren lief und ich sowieso in der Praxis übernachtet hatte. Ein paar Jugendliche hatten einen Hund angefahren und offensichtlich hatte Vernunft über schlechtes Gewissen gesiegt, auf jeden Fall standen sie mitten in der Nacht mit diesem leblosen schwarzen Riesenbiest, das aus mehreren Wunden blutete plötzlich vor meiner Praxis. Als ich ihm die Narkose verabreichen wollte, schnappte er nach mir und erwischte mich am Oberarm. Es war nur eine kleine, oberflächliche Verletzung gewesen, kaum der Rede wert. Nur die Narbe pochte eben manchmal.
Der Pathofritze hatte mir nichts wirklich Neues erzählt. Wie sagte er noch? Kranke Welt.
Der Hund damals hatte den OP ohne größere Probleme überlebt, denn der Zwinger, in den ich ihn zum Aufwachen und zur weiteren Verwahrung verfrachtet hatte, war am nächsten Morgen leer gewesen. Leer und ohne sichtbare Spuren von Gewalteinwirkung geöffnet worden. Bald darauf begann ich, die ersten Veränderungen an mir selbst festzustellen. Je näher das Monatsende rückte, desto unruhiger und rastloser wurde ich. Es ist übrigens ein Gerücht, daß sich unsere menschliche Seite nicht daran erinnern kann, was wir in Wolfsgestalt tun. Es ist vielmehr so, daß in uns beide Naturen gleichzeitig existieren. Die meiste Zeit hat der Mensch die Oberhand, bei Vollmond jedoch bricht das Tier heraus und drängt den Menschen zurück. Wir folgen dann dem Instinkt des Jägers, können aber trotzdem in gewissem Rahmen rational handeln. Vor allem in frühen Vollmondphasen klappt das sehr gut. Zumindest habe ich mich in der ersten Nacht eines Zyklus immer noch so weit unter Kontrolle, dass ich ein Skalpell benutze. Natürlich schaffe ich das nicht immer. Je weiter der Zyklus fortschreitet, desto schwächer wird mein Einfluss auf das Tier. Ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe. Zu lernen, was von dem, was über uns erzählt wird zur Legende gehört und was zur Realität. Meine Beute sind Menschen. Ihr Fleisch ist es, von dem ich mich ernähren muss und nicht das von Pferden. Aber wenigstens habe ich es versucht! Das ist die eine Realität. Eine andere ist, wie schon gesagt, dass wir uns erinnern können. Wie könnte ich auch das Hochgefühl vergessen, das mich überkam, als ich dieser Schlampe gestern in die brechenden Augen blickte, während meine Hände (Pranken?) bereits mit ihren Gedärmen beschäftigt waren. Worüber ich mir noch nicht im Klaren bin, ist die Sache mit den Silberkugeln. Aber ich bin mir auch nicht wirklich sicher, ob ich das tatsächlich herausfinden möchte. Egal, ein neuer Ort ist immer einem neuen Anfang gleichzusetzen. Und irgendwie glaube ich, daß das ein guter Anfang sein könnte. Auf jeden Fall ist der Tisch gedeckt – für eine gewisse Zeit.
Ach ja, Sandra! Ich habe wirklich aus ihr herausgeholt, was herauszuholen war. Man kann sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich feststellen musste, dass sie sich im Geschmack um keinen Deut von all den Anderen unterschied. Zumindest das hatte ich erwartet. Schließlich hatte ich sie doch geliebt.