Ein Neuanfang
Da stand er nun bei der Nummer 16. Vor ihm nichts als eine braun-grüne, zertretene Wiese. Sie hatte es sich so gewünscht. Eigentlich sollte nicht einmal er wissen, wo sie begraben war. Aber das hatte er nicht übers Herz gebracht. Er hatte schon auf eine Todesanzeige verzichtet, Niemanden zur Bestattung eingeladen und sie verbrennen lassen, damit die Würmer sie nicht zerfraßen. Sie über dem Meer zu verstreuen war ja in diesem Scheiß-Staat nicht möglich. Aber er wollte sie jetzt wenigstens auch besuchen kommen können. Und nun war er hier. Allein. In weiter Ferne goss eine Frau die beinahe schon vertrockneten Chrysanthemen vor einem schmucklosen Holzgrab. Hier gab es nichts zu gießen. Nur ein Loch in der Erde. Der Bestatter hatte sich diskret zurückgezogen, damit er angemessen Abschied nehmen konnte. Aber wie nahm man Abschied?
Sollte er nicht eigentlich Trauer empfinden? Aber stattdessen war da nur Erleichterung. Er schämte sich für dieses Gefühl der Befreiung. Aber das letzte Jahr seit ihrer Erkrankung war einfach zu kräftezehrend und belastend gewesen. Die ständigen Beschimpfungen und Schläge, wenn er ihr bei der Bewältigung des Alltags helfen musste. Das Wechseln ihrer Unterwäsche, weil sie ihm nicht sagen wollte, dass sie auf die Toilette musste und sich in die Hose gemacht hatte . Ihre Resignation und die Sehnsucht endlich zu sterben. Sein Verlangen, dass sie endlich Frieden im Tod finden möge und der Hass auf sich selbst für diesen Wunsch. „Ich hasse dich!“ war auch wahrscheinlich das Häufigste, was er in den letzten 12 Monaten von ihr gehört hatte. Sie hatte ihn dafür verantwortlich gemacht, dass sie krank geworden war und ihre Freiheit und ihre Selbständigkeit eingebüßt hatte. Daher war seine Hilfe eine Beleidigung für sie gewesen. Und trotzdem war es sein Lebensinhalt geworden, ihr die Tage so gut es ging zu erleichtern. Er hatte darauf geachtet, dass sie ihre Tabletten einnahm, dass sie genug aß und trank und dass sie nicht alleine war. Er war immer an ihrer Seite gewesen. Was hätte er mehr tun können?
Er erinnerte sich plötzlich daran, wie er sie kennengelernt hatte. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war das erste und letzte Mal gewesen, dass er eine Frau unbekannterweise in einer Bar angesprochen hatte. „Hallo, ich heiße Martin. Du bist mir aufgefallen. Hast du vielleicht Lust, dich ein bisschen mit mir zu unterhalten?“ waren seine Worte gewesen. Wie dumm und naiv er damals gewesen war. Sie hatte ihn gemustert und trocken erklärt: „Nein danke, ich unterhalte mich nicht mit Verlierern!“. Und sie hatte Recht gehabt. Sie war schon damals weit außerhalb seiner Liga gewesen. Mittellange blonde Haare, kristallblaue Augen, ein Lächeln, das die Welt umarmen konnte, und immer bis in das letzte Detail perfekt gestylt. Dazu eine scharfe Intelligenz, die beizeiten grausam sein konnte. Er hingegen war ein typischer Philosophiestudent gewesen. Langes, eher fettiges Haar. 10 Kilo zu viel Gewicht und immer der Meinung, das ganze Wissen der Welt in sich zu tragen. Lachhaft. Wie hatte er nur der Meinung sein können, dass jemand wie Sophie sich für ihn interessieren konnte. Aber der Abend war der Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Er hatte angefangen Sport zu treiben und mit so vielen Frauen geschlafen, wie er konnte, nur um Sophie zu beweisen, dass er kein Verlierer war. Der Sophie, die nur einen Satz zu ihm gesagt und ihn wahrscheinlich schon längst wieder vergessen hatte. Als er der Meinung gewesen war, dass er nun gut genug aussah und genug Erfahrung im Umgang mit Frauen hatte, hatte er jeden Abend immer wieder dieselbe Bar besucht, in der er sie getroffen hatte. 6 Monate lang. Ein Wahnsinn. So etwas würde er heute bestimmt nicht mehr tun. Leider.
Schließlich hatte er sie in einer dunklen Ecke sitzend entdeckt. Er beobachtete, welches Getränk sie zu sich nahm und wartete bis sie ausgetrunken hatte. Dann bestellte er dasselbe und ging zu ihr hin: „Hallo. Ich habe gesehen, dass dein Glas leer ist. Du kannst mein Getränk haben, unter der Bedingung, dass ich mich 5 Minuten mit dir unterhalten darf“. Sie gab ihm die 5 Minuten und er ließ seinen Charme spielen. Es funktionierte. Sie saßen den ganzen Abend zusammen und redeten über Gott und die Welt. Ein wunderbarer Abend. Am Ende fragte er sie nach ihrer Handynummer, die sie ihm bereitwillig gab. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen.
„Ach Sophie! Ich werde deine Launen vermissen. Weißt du noch, wie wir zusammen den großartigsten Urlaub in der Geschichte der Menschheit in der Toskana verbracht haben? Ein Hotel in den Weinbergen, Picknick nachts um 12 unter einem sternenklaren Himmel mit dem köstlichsten Wein, den man sich vorstellen kann. Der italienische Amateur-Maler, der mitten im Nirgendwo seine traumhaft schönen Bilder für einen lächerlich geringen Preis verkaufte, nur um seine Kinder ernähren zu können, aber nicht um reich zu werden. Und du? Dir war das Wetter zu heiß und das Essen zu kalt. Die Einheimischen zu aufdringlich und die Touristen zu laut. Ach Sophie! Du warst immer schon etwas Besonderes!
Er guckte sich um und registrierte erleichtert, dass niemand seine laut ausgesprochenen Worte gehört hatte.
Waren das nicht die Erinnerungen, die er jetzt ausschließlich im Kopf haben sollte? Sollte er nicht Wehmut und vor allem Trauer empfinden? Aber seine Gedanken kreisten auch immer wieder um die letzten Monate. Das Gebrüll, weil er angeblich die falsche Medizin gekauft hatte. Das Aufschreien mitten in der Nacht vor lauter Schmerzen, die er nicht lindern konnte und die sie ihm ankreidete. Der Hass, den er in ihren Augen sah. Oder sich einbildete. Unwichtig. Für ihn war er da. Das Blut. Die Fäkalien, die er wegwischen musste. Diese Eindrücke hatten sich festgesetzt. Sie bekam er nicht mehr gelöscht.
Er nahm ein wenig Erde aus dem neben ihm aufgestellten Behälter und schüttete sie auf die Urne. Er hatte eine unauffällige Urne gewählt in gedämpftem Weinrot mit zwei untereinander parallel verlaufenden weißen Linien. Hätte er etwas Auffälliges genommen (z. B, die Urne mit dem aufgedruckten Herzen), wäre sie bestimmt noch einmal aus ihrem Grab auferstanden, nur um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Sie hasste alles was in ihren Worten „grell“ war.
„Mach es gut, Sophie! Ich weiß, du hast jetzt deinen Frieden gefunden, den ich dir nicht mehr geben konnte. Warte nicht auf mich!“
„Warte nicht auf mich!“ Was hatte er denn damit sagen wollen? Warum sollte sie auf ihn warten. Was für ein Unfug.
Er ging den Weg zurück bis zum Eingangstor des Friedhofs. Nathalie saß noch im Auto und wartete auf ihn. Er nahm ihre Hand und küsste sie auf den Mund.
„Und? Wie war´s?“
„Wie soll es schon gewesen sein. Bedrückend würde ich sagen“
„Es ist besser so.“ flüsterte Nathalie und küsste ihn auf die Wange.
„Ja. Ich weiß“. „Wo fahren wir hin?“
„Heute ist doch unser zweiter Jahrestag. Lass uns zu Antonio´s gehen!“
„Ok.“
Antonio begrüßte sie wie immer und führte sie zu ihrem gewohnten Tisch. Er bestellte Spaghetti mit Meeresfrüchten. Nathalie eine Pizza Vierjahreszeiten. Seine Spaghetti schmeckten fantastisch. Aber die Pizza war kalt. Außerdem hatte Sophie Pizza gehasst.
„Wie konntest du nur Pizza bestellen?“ schrie er Nathalie plötzlich an, kurz bevor das Dessert gereicht werden sollte. „Wie kann überhaupt irgendjemand an diesem Tag Pizza bestellen?“ brüllte er noch und stürmte aus dem Lokal.
Der Abend war angenehm warm. Kein Mensch war auf der Straße. Der Wind blies in regelmäßigen Abständen die herabgefallenen Blätter in die langsam anbrechende Dunkelheit. Die letzten Sonnenstrahlen verbreiteten ein verblassendes dunkelrotes Licht. Ein wunderschöner romantischer Ausklang des Tages.
„Wie konntest du mir das antun?“ schrie er in den Himmel. „Wir hatten noch so viel vor! Verdammt, du warst erst 33! Wir wollten Kinder, ein Haus am Meer und nach Australien fahren! Das ist nicht fair!“
Er konnte sich nicht mehr halten. Er lehnte sich an den nächsten Laternenpfahl und brach in Tränen aus. Nathalie kam hinterher und nahm ihn in den Arm.
„Ist schon gut. Sie weiß, dass du sie geliebt hast. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dir vergeben. Komm her!“.
Sie nahm ihn bei der Hand und half ihm auf. Zusammen gingen sie zurück zum Auto und fuhren in die zurück in die Wohnung. Nur der stetig vorwärtsschreitende Sekundenzeiger der Wanduhr macht sich bemerkbar. Nicht einmal das Holz in den antiken Möbeln wagte es, die nahezu zeremonielle Stille zu stören.
Kurz vor dem Einschlafen musste er plötzlich lachen und konnte nicht mehr aufhören.
„Was ist los Martin?“ fragte Nathalie mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Ich……….Ich………“
„Martin, du machst mir Angst! Hör auf zu lachen!“
Langsam bekam er sich wieder unter Kontrolle.
„Weißt du was das Absurde an der ganzen Sache ist, Nathalie?“
„Nein, was denn?“
„Ich habe sie eigentlich nie wirklich betrogen. Ich habe immer an sie gedacht, wenn ich mit dir geschlafen habe. Ist das nicht zum Schießen?“ Und schon musste er wieder lachen.
Nathalie guckte ihn nur traurig an und deckte ihn zu, als er schließlich doch eingeschlafen war. Sie küsste ihn auf die Stirn und flüsterte:
„Ich liebe dich, auch wenn ich niemals Sophie sein kann.“