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Ein Nachruf
„Ich hatte fast vergessen, wie du früher aussahst“, murmelte er, als er das Portrait gefunden hatte, und setzte sich. Sein Rücken schmerzte vom langen Suchen in den vielen Kisten und Truhen auf dem staubigen Dachboden.
„Wusstest du, dass ich alle übrigen Bilder von dir weggeworfen hatte? Ich hatte schon lange nicht mehr an dich gedacht, und heute stand dein Tod in der Zeitung.“
Das stimmte nicht, und er wusste es.
„War sicher nicht schön, in dem Auto zu verbrennen, oder warst du bereits tot? Wohin warst du unterwegs? Musstest du dich wieder selbst finden, oder warst du auf dem Weg, um irgendwo für den Frieden in der Welt zu predigen? Dir war es immer ein Anliegen, für das Wohlergehen aller einzutreten, stimmt‘s? Nur was aus mir wurde, das kümmerte dich nicht, meine Sehnsucht, meine Verzweiflung, die anschließende Depression. Du wurdest nicht in Zusammenhang gebracht mit meinen Taten, dein Ruf blieb unbefleckt!
Sie waren dir ähnlich, diese Frauen … Aber ich sorgte dafür, dass sie niemals so handeln würden wie du, dass sie niemals jemanden so zurücklassen konnten, wie du mich. Abgestellt, nutzlos, so kam ich mir vor. Hättest du mich auch nur einmal so angeblickt, wie deine zahlreichen Anhänger – ich glaube, ich hätte dir alles verzeihen können!
Hast du den Knall im Motor gehört? Hast du gewusst, dass du sterben würdest, als er explodierte? Ich hoffe es, denn dann hast du etwas gemeinsam mit diesen Frauen: Sie wussten es alle, jede Einzelne. Aber ich tat ihnen den Gefallen, es schnell zu machen, sie mussten nicht verbrennen, erst nach ihrem Tod. Seltsam, nicht wahr? Als hätte ich gewusst, dass auch du verbrennen würdest – ein merkwürdiger Zufall. Genauso wie die Tatsache, dass dein Auto stehen blieb, als ich auf dieser Strecke Pannendienst hatte. Du hast mich nicht erkannt, nach all den Jahren, du ahntest auch nicht, wie gut ich mich mit Motoren auskenne … während du mit deinem Fahrer im Rasthof Kaffee getrunken hast.
Du bist alt geworden, Mutter, siehst in den Zeitungen nicht mehr so jung aus wie auf diesem Bild. Ganz zerbrechlich wirkst du, aber das warst du nie.
Aber jetzt bin ich frei von dir, jetzt brauche ich dich nicht mehr!“
Gleichgültig ließ er das Bild zu Boden fallen, als er aufstand. Ein abgebrochener Splitter des filigranen Silberrahmens blitzte im Licht aus dem Dachfenster auf.