Was ist neu

Ein Nachruf

Mitglied
Beitritt
02.04.2003
Beiträge
496
Zuletzt bearbeitet:

Ein Nachruf

„Ich hatte fast vergessen, wie du früher aussahst“, murmelte er, als er das Portrait gefunden hatte, und setzte sich. Sein Rücken schmerzte vom langen Suchen in den vielen Kisten und Truhen auf dem staubigen Dachboden.
„Wusstest du, dass ich alle übrigen Bilder von dir weggeworfen hatte? Ich hatte schon lange nicht mehr an dich gedacht, und heute stand dein Tod in der Zeitung.“

Das stimmte nicht, und er wusste es.

„War sicher nicht schön, in dem Auto zu verbrennen, oder warst du bereits tot? Wohin warst du unterwegs? Musstest du dich wieder selbst finden, oder warst du auf dem Weg, um irgendwo für den Frieden in der Welt zu predigen? Dir war es immer ein Anliegen, für das Wohlergehen aller einzutreten, stimmt‘s? Nur was aus mir wurde, das kümmerte dich nicht, meine Sehnsucht, meine Verzweiflung, die anschließende Depression. Du wurdest nicht in Zusammenhang gebracht mit meinen Taten, dein Ruf blieb unbefleckt!

Sie waren dir ähnlich, diese Frauen … Aber ich sorgte dafür, dass sie niemals so handeln würden wie du, dass sie niemals jemanden so zurücklassen konnten, wie du mich. Abgestellt, nutzlos, so kam ich mir vor. Hättest du mich auch nur einmal so angeblickt, wie deine zahlreichen Anhänger – ich glaube, ich hätte dir alles verzeihen können!

Hast du den Knall im Motor gehört? Hast du gewusst, dass du sterben würdest, als er explodierte? Ich hoffe es, denn dann hast du etwas gemeinsam mit diesen Frauen: Sie wussten es alle, jede Einzelne. Aber ich tat ihnen den Gefallen, es schnell zu machen, sie mussten nicht verbrennen, erst nach ihrem Tod. Seltsam, nicht wahr? Als hätte ich gewusst, dass auch du verbrennen würdest – ein merkwürdiger Zufall. Genauso wie die Tatsache, dass dein Auto stehen blieb, als ich auf dieser Strecke Pannendienst hatte. Du hast mich nicht erkannt, nach all den Jahren, du ahntest auch nicht, wie gut ich mich mit Motoren auskenne … während du mit deinem Fahrer im Rasthof Kaffee getrunken hast.

Du bist alt geworden, Mutter, siehst in den Zeitungen nicht mehr so jung aus wie auf diesem Bild. Ganz zerbrechlich wirkst du, aber das warst du nie.
Aber jetzt bin ich frei von dir, jetzt brauche ich dich nicht mehr!“

Gleichgültig ließ er das Bild zu Boden fallen, als er aufstand. Ein abgebrochener Splitter des filigranen Silberrahmens blitzte im Licht aus dem Dachfenster auf.

 

Hi Existence,

ja, der Prot. hat mehrere Frauen umgebracht.

Der Grund dafür ist in seiner Vergangenheit zu suchen, in der unbewältigten Problematik der Beziehung zu seiner Mutter - übersteigerte Eifersucht und eine Form des Ödipus-Komplexes. Es sollte genau das angedeutet werden, was Du meinst!

Aber freut mich, dass sie Dir gefällt!

 

Hi Aragorn,

ich finde es schön, wie du diese geschichte langsam aufbaust, wie man Satz für Satz mehr über deinen Protagonisten erfährt, bis du am Ende offenbart, dass es sich um die gekränkte Seele eines Kindes handelt, die sich im mordlüsterdnen Hass auf Frauen auslebt.
Sehr geschickt, sehr strukturiert, und sehr spannend erzählt.
Vor allem gefällt mir, dass man sich in diese kranke Seele versetzt, dass an mit ihr lebt, das man zum Mittäter ihrer taten wird. und so vielleicht auch ein Stück Verständnis für die Psyche eines Verbrechers lernt, dessen Taten natürlic zu verurteilen und zu ahnden wären.

Lieben Gruß, sim

 

Hi Sim,

danke für Dein Lob!

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich nicht um die gekränkte Seele eines Kindes, sondern um eine in ihrer Kindheit gekränkte Seele ...

Und wenn es mir gelungen ist, einen Blick in die verdrehte Psyche eines Serienmörders einzufangen, bin ich mehr als zufrieden.

 

Hallo Aragon,

ja, dieser Einblick ist dir sehr wohl gelungen. Die Atmosphäre, die du in der Kürze dieser Geschichte (ich liebe diese verdichteten Texte sehr) aufbaust, ist stimmig oder um nicht selbst in den Verdacht zu geraten, eine mörderische Seele zu sein, sag ich besser: diese Atmosphäre wirkt auf mich stimmig und nachvollziehbar.

Etwas fand ich jedoch ein wenig unrund in der Darstellung, nämlich, dass diese Mutter an einer Stelle als Predigerin für den Weltfrieden aufgebaut wird, um an anderer Stelle ihr vorzuhalten, sie habe ihre Liebhaber liebevoller angeschaut als ihr Kind. Klar gesteh ich dir zu, dass das eine (Weltfriedenspredigerin) durchaus mit dem anderen (Liebhaber) vereinbar ist, es gibt keine Einbahnstraßenleben. Aber gerade, weil es hier eine Kurzgeschichte ist, mußt du diese Vielschichtigkeit kappen und solltest nicht zu viele Details in einer Geschichte unterbringen.
Mein Vorschlag wäre daher, du läßt den Protagonisten nicht sagen, dass ihre liebevollen Blicke den Liebhabern galten, sondern bleibst bei der Zielgruppe der Friedensanhänger. Du könntest es so darstellen, dass diese Mutter diese Menschen, denen sie predigte, mehr Gefühl geschenkt hat, als dem Kind.
Ich denke, das würde die Situation sogar noch mehr auf das Problem fokussieren können.

Aber ganz grundsätzlich will ich dir hier nicht deine Geschichte auseinander nehmen, sondern nur Verbesserungsvorschläge machen, denn ich find die Geschichte gut.

Etwas mußt du mir aber bitte noch genauer definieren, denn du schreibst als Antwort:
" Es handelt sich nicht um die gekränkte Seele eines Kindes, sondern um eine in ihrer Kindheit gekränkte Seele ..."

Bitte, ich steh wahrscheinlich im Moment auf dem Schlauch, aber ich sehe inhaltlich null Unterschied.
Welchen siehst du?

Lieben Gruß
lakita

 

Hi lakita,

die Idee, die Liebhaber durch die Friedensanhänger zu ersetzen, gefällt mir. Ich suchte nur nach einer Möglichkeit, seine Eifersucht zu formulieren.

Und zu Deiner Frage: Ich wollte klarstellen, dass es sich nicht um ein Kind, bzw. um einen Jugendlichen handelt, der zum Mörder geworden ist, sondern um einen erwachsenen Mann - deshalb wollte ich die Formulierung differenzieren.

Schön, dass sie Dir gefällt!

 

Liebe lakita, Aragorn hat recht, ich hatte mich unklar ausgedrückt.
Es ist ein erwachsener Mensch, dessen Seele in der Kindheit Schaden genommen hat. So wie ich es ausdrückte, wäre der Prot noch ein Kind.

Sorry Aragorn.

ups, CrossPosting, du warst schneller ;)

 

Hallo Aragorn!

Ich bin etwas zwiegespalten bei Deiner Geschichte. Einerseits gefällt sie mir, weil sie zeigt, wie sehr die Kindheit Einfluß auf die spätere Psyche eines Menschen hat. Andererseits ist mir das alles zu wenig Begründung für die Tat. Allein dadurch, daß man von seiner Mutter nicht beachtet wird, wird man meiner Meinung nach noch nicht zum Mörder. Da müssen in meinen Augen noch viel mehr Dinge passieren. Da denkt man vielleicht dran, macht sogar konkrete Pläne, aber führt es nicht aus. - Zumindest sagt das meine Erfahrung... ;)

Ich würde die Geschichte also noch weiter ausführen, sodaß der Mord eher gerechtfertigt ist.

Ansonsten ist mir noch ein Fehler aufgefallen:
"Sie wussten es alle, jede Einzelne."
- einzelne

Liebe Grüße,
Susi :)

 

hallo aragon - ein kompliment für diese geschichte. dicht und spannungsgeladen, strukturiert und nachvollziehbar. es ist für mich eigentlich unerheblich, ob er all diese frauen WIRKLICH umgebracht hat, oder ob er sie nur IN GEDANKEN "entfernt" hat. die aussage bleibt die gleiche, finde ich, Häferl.

beste grüße
ernst

 

Hi Häferl,

dass die Kindheit allein ein solches Verhalten nicht auslösen kann, ist klar. Aber davon ausgehend, dass ein normaler Mensch ohnehin nicht zum Serienmörder wird, bin ich nicht der Meinung, dass es da noch weiterer Erklärungen bedarf.

- jede Einzelne oder jede einzelne: Ich hab nachgesehen, beides ist erlaubt.


Danke auch an Ernst für sein Lob!

Liebe Grüße,
Julia

 

Sehr gute Geschichte! Oder sollte ich besser "innerer Monolog" dazu sagen?
Auf jeden Fall interessant, packend und zum Nachdenken anregend. In gewisser Weise sogar mit Pointe. Zwei Pointen.
Sie hat das, was ich in deinen Romanen bisher vermisse: Sie löst heftige Emotionen aus. In meinem Fall ein gewisses Beklemmungsgefühl.

Aber in der Rubrik "Seltsam" ist dieser Text irgendwie nicht richtig. Ich könnte sie mir unter "Gesellschaft" besser vorstellen.

r

PS: Bin nur zufällig durch Briefwurfsendung auf diesen Beitrag aufmerksam geworden. Aber nun werde ich ihn empfehlen - hat doch keiner was dagegen, oder?

 

Hallo Aragon!
Auf der "Haben"-Seite aufgefallen ist mir an der Geschichte die Kürze, außerdem die Fehlerfreiheit. Der Konflikt Mutter-Kind ist mir ein wenig platt ausgefallen, warum behandelte sie ihn schlecht, wo sie doch nach außen so positiv wirkte?
Eine schlechte Kindheit macht noch keinen begeisterten Serien-Frauenmörder, und wie man einen Motor totbringend explodieren lässt, weiß hoffentlich kein gelber Engel.
Das wirkt jetzt negativer, als ich die Geschichte empfunden habe, ging mir nur gerade durch den Kopf.
Übrigens ist die Geschcihte nicht unbedingt so "seltsam", dass sie in diese Rubrik passen würde, sondern, von den meinen Quengelleien abgesehen, plausibel.
...para

 

Hi Paranova,

die Kürze der Geschichte war vorgegeben, da ich sie ursprünglich für einen Wettbewerb verfasst hatte, und auf 2500 Zeichen limitiert war.

Dass die schlechte Kindheit nicht der Auslöser sein konnte, ist klar, aber wenn jemand das entsprechende psychische Pontential hat, wird er sich sein Ventil suchen.

Und was den Motor betrifft - ich glaube, ein guter Mechaniker weiß das, allein schon, um keine entsprechenden Fehler zu machen.

Danke für Deine Kritik und Dein Lob!

LG
Aragorn

 

Hallo Aragorn,
deine Geschichte ist sehr gut. Es gefällt mir, wie du die Spannung auf den Ausgang der Geschichte aufrechterhälts mit einfachen Fragen.

Danke dafür!
Maddog1985

 

Hi Aragon,
lass trotzdem die Finger on meinem Wagen. :p
Aber wenn dem so ist, kannst du das besser beurteilen.
Warum tötet er die Frauen in Angesicht zu Angesicht und beschränkt sich gerade bei seiner Mutter, Quell des Übels, auf eine hinterhältige "Fernattacke"?
Bei seinem Hass wäre doch auch der Fahrer...
Aber die Erklärung hast du ja schon gegeben.
Nothing but nörgel (hoffentlich nicht so empfunden)
...para

 

Hi Para,

nö, ich empfinde das nicht als Nörgeln.

Und ich denke, ich ändere auch nichts mehr an der Geschichte, aber ich werde solche Hinweise für andere (noch nicht geschriebene) nutzen!

LG
Aragorn

P.S.: Zum Glück kenne ich mich mit Motoren nur begrenzt aus ...

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom