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Ein Mondscheinmärchen

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10.12.2001
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Ein Mondscheinmärchen

Die Hügel, die teils bewaldet, teils gerodet und kultiviert waren, umschmiegten das Dorf beschützend, und der Boden war schwarz und fruchtbar, und die Siedlung gedieh in Wohlstand, die Gemeinschaft war stark und glücklich, und es gab viele Feste auf dem kleinen Platz in der Mitte des Ortes. Nur ein junger Mann, der allein in einer kleinen Kate am Dorfrand lebte und mit dem niemand im Ort eine Verwandtschaft verband – seine Eltern waren einst aus der Ferne zugewandert -, nur er teilte nicht die Gemeinschaft, das Glück der anderen. Er kam nicht oft in das Dorf und sprach dann nur das Nötigste mit den Einwohnern. Auf Festen stand er allein abseits und blieb auch nicht lange, nahm niemals am Tanz teil. Ob dieser merkwürdigen Fremdartigkeit, begann man sich im Dorf seltsame Geschichten über ihn zu erzählen, in denen man glaubte zu wissen, daß er in seiner Hütte dunkle Rituale durchführen und den Teufel beschwören würde, und je mehr sich diese Gerüchte herumsprachen, umso weniger ließ er sich im Ort blicken und umso wilder wurden die Gerüchte wiederum. Einige Dorfbewohner hielten ihn gar für einen Dämon, ja den Teufel persönlich. Schließlich betrat er das Dorf gar nicht mehr, blieb den ganzen Tag in seiner Kate. Nur in klaren Vollmondnächten, sah man ihn auf der Kuppe eines Hügels auf einem großen Stein sitzend, der unter dem weiten Geäst einer vereinzelten Eiche stand, und einige Einwohner, die ihn aus der Nähe gesehen haben wollten, erzählten, er würde dort die ganze Nacht stumm verharren und den Vollmond anstarren, seine Augen voll Schwachsinn und in seinem Gesicht - Besessenheit.

Eines Nachts, als er wieder auf dem Hügel saß und den Vollmond beobachtete, schlich sich eine junge Bauerstochter, die ihm zugetan schien, den Hügel hinauf. Dort fand sie ihn unter der Eiche sitzend, wie man ihn beschrieben hatte. Neugierig und voll jungen Übermutes trat sie näher, um den Grund für diese geheimnisvolle Verhalten zu erfahren. Schließlich stand sie neben ihm, und ihr schwerer Atem donnerte in der Stille der Nacht.
„Du sitzt oft hier oben. Warum schaust du die ganze Nacht den Vollmond an?“, fragte sie zögernd und ängstlich.
Er bewegte sich nicht, starrte weiter nach oben, und sie fragte sich, ob er sie überhaupt gehört habe. Er blieb geistesabwesend, wirkte auf eine seltsame Art schwachsinnig. Kurz dachte sie an die Geschichten, die man sich im Dorf über ihn erzählte. Vielleicht sollte sie besser wieder gehen.
„Der Mond ist ewig“, erwiderte er doch endlich, ohne den Blick zu wenden, „Vielleicht finde ich in ihm meine Träume wieder.“
„Träume? Schöne Träume?“ Sie setzte sich neben ihn auf den Stein. Er hatte sie bemerkt, und seine Stimme klang freundlich, da war nichts Dämonisches, nichts Bösartiges in ihr.
„Schöne?... Schön... ja“, antwortete er, „Glücklich. Und wehmütig. Und quälend. Und schrecklich.“
Seine Antwort wunderte sie. Schön und schrecklich. Wie widersinnig. Er sprach in Rätseln. Wollte er sie verwirren? Schwachsinnig.
„Warum versuchst du dann, deine Träume wiederzufinden, wenn sie so schrecklich sind?“
„Es ist schrecklich, sie verloren zu haben“, gab er zu Antwort, „Und es ist schrecklich, sie zu träumen und doch nicht an sie zu glauben. Es ist schrecklich, das Glück zu sehen und es doch anzuzweifeln. Es ist schrecklich, daß alle Schönheit vergehen muß. Doch der Mond ist ewig. Er streifte schon durch das Himmelszelt, als es mich noch nicht gab, und als ich noch glaubte, und als ich es nicht mehr tat, und er wird noch da sein, wenn ich nicht einmal mehr eine Erinnerung bin. Er wird immer aufgehen und untergehen und wieder aufgehen. Ohne Zweifel. Er ist das Licht in der Dunkelheit. Er ist die Ewigkeit, das Absolutum. In ihm sehe ich Göttlichkeit.“
„Du siehst Gott in ihm?“
Sein Gesicht deutete ein flüchtiges Lächeln an, doch seine Augen blieben weiter starr auf den Mond gerichtet. Sah er wirklich Gott? War er einer der Heiligen, von denen der Dorfpriester so oft sprach? Oder gar ein Engel? Oder ein Dämon? Und warum lächelte er plötzlich und sah sie doch nicht an? Lächelte er über sie? Über ihre Weltlichkeit? Sie fühlte sich klein und dumm.
„Weißt du“, sprach er langsam weiter, „Einst dachte ich, wenn mir etwas Furchtbares geschehen würde, vor dem ich sehr viel Angst hatte, daß dann die Welt untergehen müßte, daß dann alle Sterne erlöschen und die herunterfallenden Himmelstrümmer alle Menschen erschlagen würden. Ich glaubte, daß mein Unglück wie das Höllenfeuer die Welt vernichten müßte. Und dann... geschah das Furchtbare, und die Welt – sie blieb, wie sie immer gewesen war. Der Mond ging auf und unter wie immer, und die Sterne leuchteten weiter am Firmament, und die Menschen lebten weiter, sie hofften, träumten, lachten und weinten wie immer, es wurden weiter Menschen geboren und es starben Menschen, nichts änderte sich. Das Schicksal sprach sein Urteil, und niemand vernahm es. Mir schien, als wäre ich der einzige, der die düstere Wahrheit erkennen mußte, die sich hinter allem Sein verbarg. Der Mond ging auf und unter, Menschen lebten und starben, und all mein Tuen konnte diesen Lauf nicht ändern, ich war hilflos vor den Mechanismen, die die Welt antrieben. Der Mond war gewaltig und majestätisch, und ich, der unter seinem Schein sein Dasein fristete, ich war hilflos und mickrig. Ich erkannte die Wahrheit, die Menschen lebten weiter wie immer, nur ich konnte nicht leben, nicht mehr fühlen wie sie. Ich war unbedeutend, und egal ob ich glücklich oder unglücklich war – es war unbedeutend.“
„Was war das Furchtbare, das dir geschah?“, fragte sie. In ihrer Stimme schwang Mitgefühl. Sie verstand nicht alles, was er gesagt hatte, aber sie ahnte die Traurigkeit, die hinter dem stand. Was lastete nur so schwer auf ihm?
Er schwieg. Seine Stirn runzelte sich. Dann drehte er ihr sein Gesicht zu und blickte sie an, und so er bis jetzt regungslos den Mond angestarrt hatte, schien diese Bewegung so plötzlich und unerwartet, daß sie beinah erschrocken aufgesprungen wäre. Doch sie überwand den Schreck und hielt seinem Blick stand, schaute in seine Augen. Sie waren durchdringend, traurig und liebevoll. Sie strahlten in der warmen Traurigkeit, mit der sie schon so oft die Dorfbewohner beim Tanz beobachtet hatten, wenn er abseits auf einem Dorffest gestanden hatte, Traurigkeit, die sie schon damals in ihren Bann gezogen hatte. Doch diesmal schienen seine Augen nicht verschlossen und abwesend wie einst, sondern sie standen offen und klar vor ihr, ein offenes Tor zu seiner Seele, in dessen Tiefe ein wages Mysterium flackerte, ein uraltes Mysterium, das in ihrem Magen gribbelte. Dort stand auch die Trauer, unwägbar, finster und schwer, so schwer, daß es schien, daß kein normaler Mensch sie ertragen konnte, und sein blasses Gesicht glänzte weiß im Mondenschein, wie das Gesicht eines Heiligen. Doch vor sich sah sie nur einen normalen Menschen, einen normalen Mann, nicht den Dämon, den Teufelsanbeter, für den ihn einige Dorfbewohner zu halten schienen. Er war ein Mensch, den einst eine Mutter geboren hatte, der einst gehofft hatte. Sie sah ihn, er sah sie, und es gab nichts, was mehr bedeutet hätte, sie ergriff seine Hand, und er erwiderte den Griff mit sanftem Druck, und während der Moment voll Bedeutung bebte, erklang über den Hügeln ein entferntes Jaulen.
„Hörst du? Die Wölfe heulen.“, stellte sie mit sanfter Stimme fest...

Er sah sie an und erkannte einen Menschen. In ihren Pupillen spiegelte sich der Mond, und in diesem Reflex fand er wieder, was er einst vor langer Zeit verloren hatte, was einst in einem Meer aus Kummer versunken war – seine Träume. Und er begriff, daß es auch ihre waren. Er sehnte sich, sie lieben zu können... doch er konnte es nicht, wollte es nicht. Sie suchte nach Glück, doch in ihm war keines mehr, das sie finden konnte, und er wußte, daß er niemals Freude mit ihr teilen konnte. Es war zu spät. Lange Zeit waren die Menschen für ihn nur ferne Schemen gewesen, fremde Geister in seiner einsamen Welt. Doch nun erblühte sie in seiner Hand von einem Schattenwesen zu einem Menschen, und je mehr er in ihr die Hoffnungen und Träume erkannte, umso klarer wurde ihm, daß er ihr nicht seine Liebe aufbürden durfte, denn er hatte nur noch Trauer und Wehmut für diese Welt übrig. Während er sie betrachtete, wuchs ihre Schönheit, wuchs das Brennen in seinem Leib, wuchs der Zauber, durch den er ihr verfiel. Er mußte ihn schnell brechen, sonst wäre sie verloren. Der Zauber – das Heulen in der Nacht.
„Das ist kein Wolf, nur ein reudiger Köter“, entgegnete er kalt, entwandt ihr seine Hand und blickte wieder den Vollmond an...

Was war geschehen? Einige Augenblicke lang hatte er sie gesehen, hatte ihnen die Zukunft offen gestanden, hatte sich Amors Band um sie gewoben. Doch dann hatte er es je zerrissen. Was war geschehen?
Nun saß er wieder wie vorher und starrte regungslos den Vollmond an. Sie faßte erneut nach seiner Hand, und er entzog sie ihr auch nicht, aber sie lag kalt, schlaff und gleichgültig in der ihrigen, wie die Hand eines Sterbenden. Sie sah ihn an und wartete, hoffte, daß er sich wieder zu ihr umdrehen würde, doch er rührte sich nicht. Die Minuten vergingen, lasteten wie Jahre, nichts geschah. Eine Träne quoll aus ihrem Auge, rann glitzernd über ihre Wange zum Kinn, fiel zu Boden, wo sie in der kalten Erde versickerte. Minuten vergingen, nichts geschah. Wie eine Statue saß er auf dem Stein und schaute hinauf, ein Monument der Traurigkeit.
Nach einiger Zeit erhob sie sich und ging...

Er sah, wie sie den Hügel hinunterschritt. Sie blickte noch einige Male hoffnungsvoll zurück, doch dann schaute er hinauf zum Mond, und tat als würde er sie ignorieren. Schließlich erreichte sie das Dorf und verschwand in den Schatten der Häuser, und er wußte: Es war zu spät, es würde immer zu spät sein...

Es vergingen die Jahrhunderte, und auf den Hügeln entstand eine Stadt, mit Häusern, in denen Tausende Menschen wohnten. Doch die Eiche überstand den Sturm der Zeiten, ihre Äste und ihr Stamm wurden breiter und knorriger, und noch heute, wenn der Vollmond tief über den Hügeln hinter der Eiche steht, kann man manchmal einen Leichnam erkennen, an einem starken Ast erhangen, im Wind schwankend, seinen Kopf leblos auf die Brust geneigt, seine Augen erstarrt auf den Mond gerichtet, und unter seinen Füßen erblüht im Mondlicht die dunkelrote Knospe einer Rose, und glitzernder Tau sammelt sich an der Spitze eines Blütenblattes, von wo er schließlich auf den Boden tropft, dort, wo einst die Träne der Bauerstochter versickerte, die einzige Träne, die je für ihn vergossen worden war...

 

Hallo Endymion,

Vertrauen wieder aufzubauen dauert lange. Die Angst vor Zuneigung ist oft so groß, dass wir die zarten Knospen ausreißen, bwvor sie uns gefährlich werden können.
Das hast du in deinem Mondmärchen glaubwürdig erzählt.
Natürlich wäre es für deinen Prot nicht zu spät gewesen. Er hätte nur mehr Geduld mit sich haben müssen. Aber das sagt sich traurigerweise immer leichter, als es sich umsetzen lässt.

Eine schöne Geschichte und es ist schön, dass Illu sie ausgegraben hat.

Lieben Gruß, sim

 

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