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Ein Mal
Es war einmal ein Mal. Groß und dunkel wohnte es über einer wulstigen Oberlippe. Ein feistes, braunes Haar ragte wie eine Antenne daraus hervor. Das Mal und die Lippe konnten sich nicht recht leiden. Kein Tag verging, ohne daß die zwei sich nicht stritten. Ein Grund war schnell gefunden: „Du stinkst“, sagte das Haar zu dem Mal. „Ich stinke seitdem du dich auf mir breitgemacht hast“, entgegnete das Mal. So fing es an. Das schaukelte sich hoch und es dauerte nicht lang, da lagen sich die beiden im Haar. Meistens gewann das Haar. Es war flinker und wich den Angriffen ohne Mühe aus. Das Mal hatte es schwerer. Weil es plump und unförmig war, wurde es mit volller Wucht getroffen. Dann schwoll es zur doppelte Größe an und schmollte für die nächsten Tage. Kein Wort sprach es mehr mit dem Haar. Stattdessen lästerte es mit der Oberlippe, wie grau das Haar doch zu werden begann. Jene war froh, wenn sich jemand mit ihr unterhielt. Sie wurde gemieden. Zugegeben, sie war schon arg wulstig. Selbst die Pickel, die hin und wieder vorbeischauten, gingen ihr aus dem Wege. Das will etwas heißen, den Pickeln graute es normalerweise vor gar nichts. Die einzige, die sich mit ihr gut verstanden hätte, weil sie genauso aussah, wäre die Unterlippe gewesen. Aber die befand sich zu weit weg. Getrennt durch eine große Klappe, die den ganzen Tag speerangelweit geöffnet war.
Also, das Mal und das Haar verbrachten ein Leben in immerschwelenden Konflikt, ausgelöst durch alberne Sticheleien. Nicht selten kam es vor, daß sich niemand an den Zankapfel erinnern konnte. Mitten im Gefecht fragte das Haar das Mal: „Warum streiten wir uns eigentlich?“ Das Mal hob die Schultern: „Weiß nicht.“ Und verlegen ließen sie voneinander ab. Eine Weile kamen sich beide kindisch vor, bis sie sich kurz darauf wieder aufeinander stürzten.
Eines Tages triezte das biegsame Stück das Mal besonders arg. Es war ziemlich schlecht gelaunt. War es mit der falschen Schuppe aufgestanden oder war etwas über ihre Leber gekreucht- keine Ahnung. Jedenfalls mußte es seine üble Laune irgendwo loswerden. Das Mal war eine willkommene Deponie. Scheinheilig flötete es:
„Ich kenne da ein Mal,
das fraß einst einen Aal.
Der Aal war überhaupt nicht frisch
so dünstet‘s nun nach Fisch, Fisch, Fisch.“
Da es nur ein Mal auf dem ganzen Gesicht gab, war es ziemlich eindeutig, wen das cheveux de lettres in ihrem Verslein meinte. Der dunkle Punkt fühlte sich auch sofort angesprochen und schnappte: „Du bist so fies, ich hab dir doch gar nichts getan.“ Es war bereits so weit angeschwollen, daß es nicht einmal die Arme beleidigt vor der Brust verschränken konnte. Unbeirrt fuhr das Haar fort. Es kam richtig in Fahrt:
„Und weil es so gestunken hat,
so stank es alle Leute platt.
Selbst Fische, wie der Rochen,
sind vor ihm davongekrochen.“
„Jetzt ist aber Schluß“, schimpfte das Mal, „Nur weil du zufällig reimen kannst heißt es lange nicht, daß du sowas sagen darfst.“ Aber das garstige Haar war immer noch nicht fertig:
„Und auch der blöde Barsch
roch lieber seinen ...“
„Seit still!“ Das Mal dampfte. Das Haar rieb sich diebisch die Hände. Seine üble Laune war wie weggeblasen. Dafür hatte sich das Mal vor Wut schwarzgeärgert. Zu schwarz fand der Mann, dem das Gesicht mit dem Mal gehörte. Es gefiel ihm nicht mehr. Eigentlich hatte es ihm noch nie gefallen. So kam es, daß sich der Mann einen Termin beim Hautarzt geben ließ. Der sollte ihm das Ding von der Lippe schaffen.
„Warum will er mich loswerden?“. fragte das Mal. Es bekam plötzlich ganz furchtbare Angst. Das Haar grinste frech, fast mußte es lachen. „Da fragts du noch? Du bist groß, dick, unappetitlich, grausig, schwarz und“, das Haar holte Luft, „du stinkst.“ Das Haar konnte es kaum erwarten, die Oberlippe endlich für sich allein zu haben.
Krank vor Angst fieberte der dunkle Punkt dem Tag seines Endes entgegen. Jener begann viel zu schön und wollte gar nicht zu den Umständen passen. Vogelgezwitscher riss die Gesichtbewohner aus ihren Träumen. Altbekannter Dampf moderte aus dem breiten Spalt zwischen den beiden Lippen. Der Nasenflaum wiegte sich im Morgenhauch, das Grübchen rieb sich den Talg aus den Poren und das Haar räkelte sich genüßlich. „Uäh“, gähnte es laut. Eine trügerische Idylle. Das Mal hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Es war wach gelegen und hatte die rotleuchtenden Wimmerl gezählt, in der Hoffnung in den Schlaf zu finden. Vergeblich. „Hast du angenehm geruht“, säuselte das Haar. Selbst wenn es gewollt hätte, hätte das Mal nicht antworten können. Ein dicker Kloß hockte in seinem Hals. Der Furchtkloß. Während des Mals letzte Stunde naherrückte, pfiff das Haar ein heiteres Liedchen. Es war ganz furchtbar.
Doch es kam alles anders. Beim Hautarzt, Aug in Aug mit dem funkelnden Skalpell, da wurde es dem Mal sehr komisch. Der Doktor mit den weißen, bärigen Augenbrauen konnte sich nicht helfen: „Ja wo ist es denn, das Mal?“ War das Mal tatsächlich vor lauter Schreck erbleicht. Was ein Glück, das es auf so käsigem Untergund hauste. Welch einwandfreie Tarnung. Der Mann blickte in den Spiegel. Fassungslos. Der Punkt, er war verschwunden. „Kaum zu glauben“, stammelte er. „Sie müssen mich für verrückt halten. Ich war mir totsicher. Wo ist es nur hin?“ Der Arzt schnappte sich ungeduldig eine Lupe und inspizierte das corpus delicti. „Das einzige was ich hier sehe“ beganner er, „ist ein dickes, speckiges Haar.“ „Aua“, quietschte der Mann. Der Doktor hatte es ihm ausgerupft.
Und die Moral von der Geschicht?
Liegt der Wohnort im Gesicht,
Ärgere die Male nicht.
Wenn doch, versichre dich davor,
daß du lebst auf einem Mohr.