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Ein Loch, das keiner zuschaufelt, läuft voll.
Müde starrte Matell auf den Kratzer im Armaturenbrett. „Fuck.“
Er schloss die Augen und harrte in der Schwere des aufgeheizten Wageninnenraums. Ein Klacken schob sich durch die Ritzen seiner Belüftung. Es war niemand da, dem er diese Kerbe in die Schuhe schieben konnte. Die Minuten vergingen. Wie gestoßen, schreckte Matell aus dem Halbschlaf. Seufzend prüfte er die Uhr und sah, dass die Zeit bereits an ihm vorbeizogen war. Unwillig kroch er aus dem tiefen Sitz seines 3er Wangenkoch und verstaute die Fäuste in den Jackentaschen, als ihm der Dezemberwind zur Begrüßung entgegenpreschte. „Fuck“, pfiff er und spannte die Muskeln an. Bloß nicht atmen, bringt schon was. Das Kinn hielt er gegen das Schlüsselbein, als eine weitere Böe über ihn hinweg blies. Sein erhitztes Gesicht prickelte unter dem Trommeln der Winde. Die Bäume zeigten sich einheitlich kahl.
In weißen Wolken zerstob sein Atem in den Winterhimmel während Matell der krakeligen Wegbeschreibung auf der Serviette folgte. „Natürlich“, murmelte er und konnte sich einem resignierten Grinsen nicht verwehren, als sich die mannshohe Steinmauer eines Friedhofs hinter einer Biegung auftat. Natürlich, das passt.
„Was glaubst du?“
Matell hörte sie nicht. Sein Blick lag auf den orangefarbenen Lichtern, die seine Fensterscheibe schwach durchstachen. Regentropfen zogen darauf in ausgefransten Linien nach unten.
„Matell?“
„Hm?“
Er stand auf.
„Was glaubst du? Was kommt nach dem Tod?“
„Nichts. Wahrscheinlich“, antwortete er mit belegter Stimme und kramte nach der Zigarettenschachtel in den Falten des Klamottenhaufens vor dem Bett.
„Wie langweilig.“
„Nicht meine Schuld.“
Matell fand diese Antwort cool. Bevor er das Zimmer verließ, erspähte er aus dem Augenwinkel, wie die Frau in seinem Bett darauf reagierte. Er erschrak. Ihre Augen starrten selbstvergessen in das Zwielicht des Raums. Und auch ihre schmale Silhouette schien in diesem Halbdunkel zu vergehen.
Gut, also, du bist jetzt tot, ja?
Das Gesicht verzog er zu Grimassen, um die Kälte von seiner Wangenpartie zu vertreiben. Neben ihm ruhte ein gelber Bagger an dessen Schaufel feuchte Erde klebte. Die Scheiben waren vereist.
Das war klar. Weißt du? Ich meine. War halt klar… mehr nicht.
Er starrte in das Loch inmitten des reifbedeckten Rasens vor ihm. Es war kein Grund darin zu erkennen. So schien es ihm schrecklich unwirklich. An den Seiten lagen andere, noch leere Grabstellen. „VIP-Plätze sind das“, zischte er leise und erinnerte sich dabei an ihr spitzes Lachen. Das fand er stets unsäglich aufreibend. So neben dir, legte er nach und leckte sich über die rissige Unterlippe. Es brannte.
Nach einer Weile erschienen einige trüb dreinblickende Mitarbeiter des Friedhofs. Sie trugen einen schlichten Sarg. Diese schmucklose Holzkiste vor Augen, verzog Matell die Mundwinkel.
„Warum hast du so ein Auto?“
„Es ist chic. Cool.“
„Was willst du damit kompensieren? Das ist peinlich.“
„Dein Unwillen geschmackvoll zu sein, ist peinlich! Du hast keinen Stil!“
„War es teuer?“
„Pass auf das Armaturenbrett auf, verdammt!“
„War es teuer?“
„Alle guten Sachen sind teuer.“
„Du bist ein Trottel. Wirklich, Matell.“
Nach diesem Gespräch schwiegen beide, bis er sie vor ihrer Wohnung absetzte. Diese lag an einer Straßenecke inmitten eines Industriegebiets. Als er zurück in die Hauptstraße bog, dachte er daran, wie er sie nach ihrer dritten Nacht erstmals nach Hause gebracht hatte. Lachend hatte er sie deshalb aufgezogen. „Hier wohnst du?“, hatte er gefragt und auf eine Traube Fabrikarbeiter vor einem Würstchenstand gezeigt.
„Nachts ist hier keiner“, hatte sie ihm lächelnd entgegnet und dabei auf die großen Schornsteine gedeutet, die erhaben ihre langen Schatten über die Straße warfen. Das hatte er nicht verstanden und bot ihr scherzhaft an, bei ihm einzuziehen. Daran erinnerte er sich auch jetzt genau, denn die ganze Rückfahrt über, hatte er dieses Gespräch Revue passieren lassen. Schrecklich nervös war er gewesen, ob sie seinen Scherz nicht vielleicht als ernstgemeinte Einladung verstanden haben könnte.
„Bald fängt es an zu regnen! Macht hinne, Jungs!“
Mit ernster Miene griffen die Männer nach ihren Schaufeln und stießen damit emsig in den aufgetürmten Erdhaufen. Einer nach dem anderen ließ eine Schippe Erde polternd in die Tiefe stürzen. Matell stand am Rand des geschäftigen Treibens und fragte sich, ob es angebracht wäre, etwas zu sagen. Es war keine Predigt, nicht eine Rede gehalten worden. Außer ihm war niemand gekommen. Er fand das trostlos, doch schien ihm diese Situation ehrlicherweise nicht angebracht, mehr daraus zu machen.
„Sie sind Matell, oder?“
Ertappt bei seinen Gedanken, drehte sich Matell um und blickte in das erschöpfte Gesicht eines ihm unbekannten Mannes.
„Matell mein Name“, sagte der Fremde und sah peinlich berührt an Matell vorbei.
Hinter ihnen schaufelten die Friedhofsarbeiter das Grab der Frau zu. Warum sie nicht den Bagger dafür nahmen, wunderte sich Matell noch und rieb sich über das erkaltete Gesicht.
Sie fuhr ihm durch das Haar. Ihre Finger waren schmal und kühl. Matell war schon seit einer Weile wach, doch hielt er die Augen geschlossen.
„Du hast da einen schwarzen Fleck, Matell. Ein Loch.“
„Wo?“
„Auf dem Rücken. Rund ist es. Und so groß.“
„Aha.“
Er hörte, wie sie ihre Position veränderte. Spürte nun ihre Knie an seiner Hüfte.
„Du solltest es zügig stopfen. Sonst regnet es früher oder später hinein und läuft voll.“
„Mit deinen Tränen, nehme ich an?“, lachte er und wand sich unter ihrem Haar, das in seinem Nacken kitzelte. So schwiegen sie, bis er lange ausatmete.
"Wenn es mal so sein sollte, umso besser, dann ist es ja kein Loch mehr. Sondern eine Pfütze... oder sowas."
Sie kicherte und der Ton hing im Raum. Wie vergessen mitzunehmen. Er sagte nichts.
„Wie viele Frauen lagen hier schon, Matell?“
„Mit dir eingerechnet?“
Sie streichelte ihn weiter. Ihre Finger fuhren auf und ab, langsam über seinen Rücken. Es war ein schönes Gefühl.
„Ich weiß nicht. Wie viele Männer lagen denn in deinem Bett?“
Wieder kicherte sie spitz.
„Lass das.“
Die Frau beugte sich über ihn. Ihre Brüste drückten sich sanft gegen seinen Rücken. Heiß legte sich ihr Atem auf sein Ohr.
Er musste an diese Nacht denken, als er sein Gegenüber beim Leeren der Kaffeetasse beobachtete. Die beiden Männer waren schweigend in ein Café gegangen. Einfach so war er ihm gefolgt, ohne dass Matell über den Grund dafür nachgedacht hatte. Sein Auto blieb vor dem Friedhof geparkt und dieser Umstand machte ihn jetzt nervös. Aufgeregt zwirbelte er das Ende des Tischdeckchens.
„Wart ihr ein Paar oder so?“, platzte es aus Matell heraus, als die Kellnerin die Rechnungen an den Tisch brachte.
Der Fremde nickte und setzte die Tasse ab. „Und auch ihr, das weiß ich“, lächelte er müde.
„Okay", Pause, "Das ist mir zu abgedreht", Pause, "Was wollen Sie?“
Der Mann, der sich ihm auch als Matell vorgestellt hatte, sah sich um.
„Nichts. Ich wollte… nur reden. Über sie.“
„Ich kannte sie nicht gut. Ich meine… ich weiß nicht einmal wie sie heißt… hieß.“
„Wieso waren Sie dann auf ihrer Beerdigung?“
Matell zuckte mit den Schultern. Er war müde. Zu müde für das.
„Sie bat mich darum.“
„Mich auch.“
„Sie war ja auch verrückt.“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich. Aber war schön mit ihr.“
Matell lag in seinem Bett. Das Treffen mit seinem Namensvetter hatte ihm lange nachgehangen. Jetzt, einige Stunden später, wusste er nicht einmal mehr, wie dieser Mann aussah. „Matell“, murmelte er entnervt und zerknüllte die Serviette, auf die der Fremde seine Telefonnummer notiert hatte. Es war die selbe, auf die die Frau ihm die Wegbeschreibung zu der Beerdigung aufgezeichnet hatte. Das war dein Plan, oder? So ein Pseudo-Philosophiescheiß. Existenziell und so. Schwachsinn.
Matell zog sich die Decke über. Alles zu kalt. Schob sie sich über den Kopf. Alles zu hell. Was soll das überhaupt? Du bist verrückt! Wenn du dich umbringen willst, tu es einfach. Und zerstöre keine Leben! Das ist nervig.“
„Das nervt wirklich!“, rief er dem Gedanken nach und schleuderte die Serviette in das dunkle Zimmer.
„Würdest du denn auch kommen?“, fragte sie leise und zog mit dem Finger weite Kreise über Matells Rücken.
„Wohin?“
„Zu einer Party“, kicherte sie schüchtern.
„Was wird gefeiert?“
„Geburtstag.“
„Klar. Wann?“
„Das sage ich dir nicht.“
Er lächelte leicht. Seine Augen waren geschlossen, das Bett sehr weich. Lange ließ er sich Zeit mit der Antwort. Zäh lag das Wort zwischen seinen Lippen.
„Warum?“
„Weil es eine Überraschungsparty wird.“
„Natürlich“, flüsterte er schwach.
„Keine Sorge“, hauchte sie, „keine Sorge, Matell.“
Einen Augenblick noch und er würde so sicher einschlafen.
„Es wird auch Geschenke geben.“