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Ein Lichtlein soll brennen
Es war Nachmittag und ich begleitete meine Mutter. Die Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Dunkelheit. Es duftete nach Tannengrün und Glühwein. Es wimmelte von Menschen, die es eilig hatten. Auch Mutter hatte mich gebeten, mit in den Discounter zu kommen, um mit meiner Hilfe die Einkäufe schneller erledigen zu können.
Auf einem breiten Tisch im Gang zwischen Würstchen und Milch standen Nikoläuse. Dicht an dicht. Meine Mutter schob den Einkaufswagen weiter zur Kasse.
„Kati, bis Weinachten sind es noch vier Wochen“, sagte sie, als sie mein Zögern bemerkt hatte, ihr zu folgen. Ich holte tief Luft. Vier Wochen! Das hörte sich unendlich an. Bedeutete: Warten, jetzt nicht, später. Fühlte sich an, als käme es nie.
Von der Kasse aus waren die Auslagen immer noch gut zu sehen. Nicht nur Weihnachtsmänner warteten in Reih und Glied darauf vernascht zu werden. Auch Printen, Marzipan und Dominosteine lockten. Ich fühlte Weinachten als einen unvergleichlichen Schmelz auf der Zunge. Wieder zu Hause begann ich nach dem Adventsschmuck zu kramen. Meine Mutter hatte noch kein Gesteck gekauft und ich dachte, ein bisschen Stimmung und Vorfreude würde uns gut tun.
An Heiligabend war es immer schön gewesen. Meine Eltern hatten mit mir gespielt, während in der Küche Kochschwaden geheimnisvoll um Töpfe und Pfannen waberten. Wir hatten nach Geräuschen gelauscht, sie hatten mich geneckt, als ich aufgestanden war und mein Ohr an die Wand des Schornsteins gepresst hatte.
Warten auf Weihnachten.
Ich saß in einem heillosen Durcheinander aus Kartons und Papier, sah den Staub, den ich aufgewirbelt hatte. Und warum? Weil ich Schokoweihnachtsmänner gesehen hatte? Plötzlich Appetit auf Gänsebraten mit Rotkohl hatte? Weil Weihnachten entzaubert war, seit ich wusste, der Weihnachtsmann ist eine Erfindung von Coca Cola und eigentlich wird doch die Geburt Jesus gefeiert.
Jahr für Jahr begannen die Proben für das Krippenspiel bereits im September und zogen sich wie Kaugummi durch die Zeit. Immer war Kira die Maria und ich war der bärtige Hirte im Hintergrund. Die Geschichte von Maria und Josef wirkte auf mich unecht. Eine Schwangere, die Gottes Sohn in einem Stall gebären musste, auch wenn Kira wunderschön aussah in ihren Lumpen mit der Babypuppe im Arm, Jesus wurde in ein Schicksal hineingeboren, das niemand richtig scheckte, ob er es überhaupt so gewollt hat. Die andern haben einfach bestimmt, er sei Gottes Sohn. Und damit basta. Hatte er eine Wahl? Hätte er heute eine Wahl? Weil man ihn später ans Kreuz genagelt hatte, sei Jesus ein Märtyrer gewesen.
„Was sind denn Märtyrer?", hatte Frau Eberle, die Religionslehrerin, uns gefragt. Ich dachte an die Schmerzen, die ich hatte, als ich auf ein Brett gelatscht war, und dabei ein Nagel meinen Fuß durchbohrte. Es tat unheimlich weh und ich war auch wütend, dass mir das passiert war, dass irgend ein Arsch das Scheissbrett mit dem Nagel hat rumliegen lassen und dass ich dem am liebsten das Brett mit dem Nagel an die Stirn gehauen hätte.
„Leistungsverweigerer", hatte Hendrik geantwortet und alles lachte.
„Heute nennt man die Leistungsverweigerer Versager, sagt mein Vater", hatte Kira in das Lachen hineingerufen. Alles grölte. Ich lachte nicht.
Wut. Zorn. Geballte Fäuste.
Oh du fröhliche Weihnachtszeit. Gnadenbringende Weihnachtszeit.
Geschenke, Wünsche, die in Erfüllung gehen mögen, oder auch nicht. Mein Vater ist arbeitslos. Schon seit mehr als einem Jahr.
Mein Herzenswunsch ist ein Hund. Vielleicht ein kleiner ..., der nicht soviel frisst.
Traurigkeit, Hilflosigkeit, stilleTränen. Trotz.
Ich habe mir die Eltern nicht ausgesucht.
Meine Mitschülerin, Kira, fliegt mit ihrer Mutter dieses Jahr in der Vorweihnachtszeit übers Wochenende nach New York zum X-mas Shopping und Sightseeing. Sie darf sich Ihre Geschenke im Macy`s aussuchen. Ihre Eltern sind geschieden. Daher darf sie in den Weihnachtsferien mit ihrem Vater in den Urlaub fahren. Südafrika. Kira und ihre Reisen sind das Pausenthema Nummer Eins. Die Impfungen sind doch sehr lästig, hat Kira erzählt und die rote Beule an ihrem Oberarm ist ausgiebig bewundert worden.
Ich erzähle, dass meine Eltern mit mir nach Kanada reisen, zum Ski fahren. Kira hat nur die Augenbrauen hochgezogen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, erzähle ich, dass ich auf meine Geschenke verzichte, um den ärmeren Kindern in Afrika zu helfen. Kira hat den anderen einen Vogel gezeigt.
Stille Nacht. Heilige Nacht. Wunder werden wahr. Ich brauche eins.
Es hatte geschneit.
Eiskristalle glitzerten in der Morgensonne. Ohne lang zu überlegen zog ich mich an und lief in den unberührten Schnee hinein. Die Luft war schneidend kalt, ich stieß weiße Wolken aus, als ich durch den tiefen Schnee stapfte. Es war anstrengend, mir wurde richtig warm, trotz der Kälte. Am Haus unter dem Schlafzimmer meiner Eltern war eine Schneewehe. Ich ließ mich hineinfallen und versank. Versank in einer Wolke, die nach echter Reinheit roch. Ich saß in einer Schneekugel und wünschte mir, ich könnte den Schnee für immer festhalten. Und irgendwie hoffte ich, dadurch würde alles gut. Vielleicht musste ich nur Frau Eberle fragen und dieses Weihnachten dürfte ich die Maria spielen. Ich würde meinen Sohn nicht im Stall gebären, sondern in einem vernünftigem Krankenhaus. Ich würde ihm helfen, dass er sein kann, was er will und nicht das, was die anderen sich von ihm wünschen. Er würde nicht mit Schmerzen an einem Kreuz hängen. Etwas steifbeinig geworden stand ich wieder auf, klopfte mir den Schnee ab und trollte mich ins Haus. Es war der erste Advent. Ich wollte wenigstens eine Kerze für Jesus auf den Tisch stellen.