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Ein letzter Walzer

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08.07.2011
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Ein letzter Walzer

Mich beschleicht das Gefühl, schon viel zu lange auf meine zittrigen Hände zu starren. Behutsam richte ich den Blick auf, bis sich meine Silhouette in der Schaufensterscheibe spiegelt. Der Raum dahinter ist leer. Grauspuren von Möbelstücken zeichnen die leblosen Schatten einer lebendigen Vergangenheit. Der Geruch von Lack, Holz und Kunststoff klebt noch immer an diesem Ort, egal wie sehr sich der Wind bemüht Normalität zu schaffen. Ich hebe meinen Blick weiter zu den weißen Buchstaben, die auf dem roten Backsteinhaus angebracht sind. „Klavierhaus Elisabeth Adelmann & Söhne“. Seit drei Tagen müsste es nur noch „Klavierhaus Söhne“ heißen. Den Rest haben wir heute zu Grabe getragen, mein Vater, mein Bruder und ich.
Wie gerne würde ich dich in diesem Augenblick zum Tanz auffordern. Ein letzter Walzer, knirschendes Holz und eine kratzende Schallplatte. Wir drehen uns inmitten der Abendgesellschaft und die Menschen trinken Champagner aus geschliffenen Gläsern. Verzerrtes Gelächter in einem Dunst aus Melancholie. Doch der Walzer ist verstummt, die Schallplatte zu Ende, die Gäste längst fort. „Immer in Bewegung bleiben“, hast du mich gelehrt, aber wohin treten, wenn sich der Takt verliert und die Schrittfolge aus dem Tritt kommt? Wenn fünf Worte ein halbes Leben einreißen. „Sie ist von uns gegangen“, mehr brachte mein Vater am Telefon nicht über die Lippen.
Klara, ich spüre noch immer deine Hand in meinem Nacken, als ich den Hörer auflegte. Ohne die Worte meines Vaters zu hören, ohne die Worte, die mein Mund nicht formen wollte, umarmtest du mich schweigend. Dabei hattest du es nicht leicht mit deiner Schwiegermutter. Stets warst du die Elster, die das Ei aus dem Nest raubte. Auf der Beerdigung hast du für uns beide geweint, als ich es nicht konnte. Du hast meine Hand umschlungen, als ich mich verloren fühlte und losgelassen, damit ich mich davon stehlen konnte, um meine Wunden zu lecken. Das schwarze Loch in meinen Bauch mit Alkohol zu füllen, weil ich es nicht besser weiß, weil es niemand besser weiß. Dieser Tag kommt im Leben nur ein Mal. Jetzt ist mein Körper betäubt, mein Kummer hingegen noch immer lebendig. Und doch hätte ich es ohne den Whiskey nicht an diesen Ort geschafft.
Im Schaufenster spiegelt sich die alte Hafenbrücke unter dem Laternenlicht. Mit wankenden Schritten trotte ich über die Straße. Noch vor ein paar Jahren, weilte ich regelmäßig an diesem Ort, um zwischen den Klavierstunden in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Die Kinder waren viel talentierter als ich in ihrem Alter. Vielleicht brachte ich ihnen aus diesem Grund jene Geduld entgegen, die du bei mir höchstens beim Üben der Nocturnes von Chopin an den Tag legtest. Dafür hast du mir liebevoll über die Wange gestreichelt, wenn ich mal wieder den Flausen in meinem Kopf umsetzte und Vater mir dafür mit strenger Hand den Hintern bläulich färbte. Die Gnade einer Mutter.
Mein Wechsel zur Musikhochschule traf dich offen ins Herz, aber hinter den harschen Worten verrieten deine Augen, wie stolz du auf mich warst, meinen Weg alleine fortzusetzen. Aus „Adelmann & Söhne“ wurde „Adelmann & Sohn“, aber du hast die Buchstaben nie ändern lassen. Und auch wenn das musikalische Talent meines Bruders Harald nur zur Buchführung genügte, du hast uns nie unterschiedlich behandelt.
Ich stütze mich mit einer Hand auf das Geländer und durchsuche mein Sakko nach Kopfschmerztabletten, finde aber nur Hausschlüssel, etwas Kleingeld, Zigaretten, eine Packung Streichhölzer, zwei Opernkarten und einen verschlossenen Brief. Die Opernkarten wollte ich dir zum Geburtstag schenken, obwohl ich wusste, dass du das Bett nicht mehr verlassen wirst. Ich hoffte auf ein Wunder, doch in der zweiten Reihe im Konzertsaal wird eine Lücke klaffen, die deinen Tod in die Welt hinausschreit, während Orchester und Darsteller das Leben preisen.
Ich betrachte die Handvoll Zigaretten in der Schachtel, gekauft vor wenigen Stunden. Die erste Schachtel seit vier Jahren. Von den beiden restlichen Streichhölzern löscht das erste der Wind, das zweite bricht ab und der Zündkopf sinkt ins schwarze Nichts. Frustriert schmeiße ich die Zigarette hinterher.
Das Einzige, an dem heute Nacht nicht die Bedeutungslosigkeit nagt, ist dein Brief. Ich habe eine Heidenangst, ihn zu öffnen. Sobald ich ihn gelesen habe, wird zwischen uns alles gesagt sein. Ich reiße das Kuvert auf, schwankend, wie ein angezählter Boxer. Deine Worte sind wie immer knapp und präzise. Ich krampfe meine Hand um den kleinen Zettel, steige auf das Geländer und springe.
Das schwarze Wasser verschluckt mich. Die Tinte verschwimmt, im Gegensatz zur Deutlichkeit meiner Gedanken. Für eine Sekunde existieren weder Schmerz noch Verlust, nur Eiseskälte und der unbändige Drang zu atmen. Deine Worte übergebe ich dem Strom, er wird sie weitertragen. Ich stoße durch die Wasseroberfläche, lasse mich an den Brückenpfeiler treiben und umarme ihn, wie einen alten Bekannten. Mein Körper ist eng an das kühle Metall geschmiegt. Ein Schiffbrüchiger des Lebens, mit Land in Sicht und kalten Füßen. Aufraffen, hochziehen, einen Meter klettern, durchatmen, zwei Meter klettern, durchatmen, es fühlt sich an wie Morgens aufzustehen.
Zurück auf der Straße, rauschen zwei Lichtkegel an mir vorbei. Ich tauche nur für eine Sekunde als unerwarteter Schatten auf. Ein untersetzter, durchnässter, mittelalter Mann mit tiefen Augenringen. Der Minivan bremst, weiße Rückfahrleuchten durchdringen die Nacht. Auf meiner Höhe angekommen, fragt mich ein besorgtes Gesicht, ob alles in Ordnung sei. Ich antworte nicht, die Frage ist zu komplex.
„Könnten sie mich bitte nach Hause fahren?“
Die Fahrerin ist in meinem Alter. Durch das Licht der vorbeiziehenden Straßenlaternen erkenne ich einen Kindersitz auf der Rückbank. Aus dem Autoradio dringt klassische Musik und meine Augen füllen sich mit Tränen. Irgendwann wird auch für ihr Kind dieser Tag kommen.
Sie ist barmherzig, fragt nicht nach, liest alles, was sie wissen muss, in meinem Gesicht und dem schwarzen Anzug. Stillschweigend folgt sie meinen Richtungsangaben. Vor dem Haus angekommen, wende ich mich mit einer letzten Bitte an sie: „Würden sie mir die unendliche Freude bereiten und einen Walzer mit mir tanzen?“
Vielleicht ist es die Zerbrechlichkeit in meiner Stimme, die sie aus dem Wagen steigen lässt.
„Ich muss sie warnen. Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr getanzt“, sagt sie.
Ich greife nach ihrer linken Hand und lege meine rechte auf ihren Rücken. Als Begleitmusik summe ich die Wiener Blut Operette 354 von Johann Strauß. Eine Sekunde später drehen wir uns auf der dunklen Straße und tanzen durch die Nacht. Lang-kurz–kurz, links-rechts-links, rechts-links-rechts. Ein letzter Walzer nur für dich.
Erschöpft streife ich den nassen Anzug ab und lege mich ins Bett. Klaras Atem lauschend, tröstet mich ein Gedanke. Ich könnte dich nicht so sehr vermissen, nicht diese Leere spüren, gäbe es nicht die Erinnerungen an deine Engelsgüte, an dein Licht in meinem Leben. Ohne dich gäbe es mich nicht. Ohne dich hätte ich es in dieser Welt nicht geschafft. Heute habe ich meine Mutter zu Grabe getragen.
Ich höre dich in Gedanken Johann Pachelbels Kanon in D-Dur auf dem Klavier spielen und umschließe den hochschwangeren Bauch meiner Frau. Tränenbenetzt denke ich an deine letzte Botschaft an mich. Auf dem kleinen Zettel stand alles, was eine Mutter ihrem Sohn sagen muss: Ich liebe dich.

 

Hallo Moody

Überrascht folgte ich dem Blick auf die Hände. Bei einem Walzer ist der ganze Körper einbezogen, doch hätte ich da, vom Titel noch befangen, die Erwähnung der Füsse vorab erwartet. Doch ist es nicht die einzige Denkwürdigkeit, der ganze Text wird von der Melancholie einer Trauer geprägt.

Der Geruch von Lack, Holz und Kunststoff klebt noch immer an diesem Ort, egal wie sehr sich der Wind bemüht Normalität zu schaffen.

Er muss äusserst intensiv sein, dieser Geruch aus der Werkstatt des Klavierhauses, dass er selbst auf der Strasse noch wahrnehmbar ist. Aber vielleicht steht ja auch die Ladentüre offen?

Seit drei Tagen müsste es nur noch „Klavierhaus Söhne“ heißen.

Da wird die Behörde aber Einspruch erheben und eine juristisch korrekte Namensbezeichnung verlangen. Vielleicht „Klavierhaus Adelmann“ oder „Klavierhaus Adelmann Söhne“. Ist der Beamte verständig, wird er anregen, es so zu belassen „Klavierhaus Elisabeth Adelmann & Söhne“, den traditionellen Namen bewahrend. Nur aus den offiziellen Geschäftsunterlagen müsste dann auch der Name des Inhabers hervorgehen.

Sobald ich gelesen habe, wird zwischen uns alles gesagt sein.

Sobald ich ihn gelesen habe, ...

„Ich muss sie warnen. Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr getanzt.“

Wem sind diese Worte zuzuordnen? Wahrscheinlich, denke ich, der sehr hilfsbereiten Autofahrerin.

Als Geschichte fand ich es eigen, die düstere Gedankenwelt des Trauernden durchspielend. Nicht ohne Reiz und trotz Übersteigerungen, ein Kammerspiel in den grauen Novembertagen einfühlbar inszeniert.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Die Kritik von Anakreon einmal außen vor gelassen, finde ich den Text sehr berührend. Dieser Verlust ist wohl einer der Schlimmsten im Leben, die man zu vermerken hat.

Bei dieser Textpassage habe ich persönlich kurz eine Pause gemacht. Irgendwie fehlte mir die Botschaft. Jedoch wurde das mit dem Schlusssatz ausgemerzt.

Sobald ich ihn gelesen habe, wird zwischen uns alles gesagt sein. Ich reiße das Kuvert auf, schwankend, wie ein angezählter Boxer. Deine Worte sind wie immer knapp und präzise. Ich krampfe meine Hand um den kleinen Zettel, steige auf das Geländer und springe[...]
Auf dem kleinen Zettel stand alles, was eine Mutter ihrem Sohn sagen muss: Ich liebe dich.

 

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