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Ein letzter Anruf
„Bist du noch da?“
Ihre Stimme klang rau, wackelig, zitterte. Mit jedem Atemzug wurde der Kloß in ihrer Kehle größer, mit jeder Sekunde, die verstrich, lief sie Gefahr, an ihrer eigenen Angst zu ersticken. Wie ein faustgroßer Klumpen steckte sie fest in ihrer Kehle und ließ sie gleichzeitig nach Luft schnappen und würgen. Würde es ihm genauso ergehen, wenn die Wassermassen ihn erst verschluckt hatten?Sie konnte nichts tun, bloß tatenlos herumsitzen, meilenweit entfernt.
Es knisterte in der Leitung und für einen schrecklichen Moment dachte sie, es wäre bereits geschehen, doch dann...
„Ich bin noch hier.“
Seine Stimme klang gefasster als ihre, doch sie kannte ihn. Sie wusste, wie er sich anhörte, wenn er sich sorgte, Angst hatte, in der verdammten Hoffnungslosigkeit zu versinken drohte. Dieses leichte Zittern in der Stimme, wenn sein Körper bis in die letzte Faser gespannt war, bereit zu fliehen oder zu kämpfen. Seine Tonlage zu einem tiefen Grollen hinuntergeschraubt, etwas, das sie an jedem anderen Tag belächelt hätte, weil er dachte, es lasse ihn selbstbewusster und ruhiger klingen. Sie fand es machohaft. Doch nicht heute.
Wie hatte das geschehen können? Wieso traf es ausgerechnet sie beide?
„Ich komme am Dienstag vielleicht spät, Honey“, sagte er rau, „Wie wäre es um Acht?“
Ein kurzes Lächeln zitterte auf ihren Lippen, wurde jedoch sofort von neuen Tränen weggewaschen.
„Ich kann warten“, erwiderte sie mit belegter Stimme, „Hauptsache, du kommst.“
„Ich verpasse doch nicht unseren Jahrestag.“
Sie hatte nie verstehen können, warum Menschen so sehr an bestimmten Daten festhielten. Bis jetzt. Sie wünschte sich nichts mehr, als ihn an diesem Dienstag zu sehen, ihrem Jahrestag, unter der Brücke, unter der sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Er hatte einen ruhigen Platz zum Schreiben gesucht und sie war buchstäblich über ihn gestolpert, während sie den Ohrring suchte, der ihr bei der Betrachtung aus den Händen gefallen war. Den Ohrring sollte sie nicht finden, dafür aber einen wunderbar Verrückten, der ihr sein Herz schenkte.
Ein Krachen ertönte, ließ sie zusammenzucken.
„Was war das?“, flüsterte sie, nicht mehr dazu imstande, die Stimme zu erheben.
Stille schlug ihr entgegen, wieder knisterte die Leitung. Der Hörer in ihrer Hand war schweißnass und sie umklammerte ihn so stark, dass sie meinte, er müsse gleich unter ihrer Kraft zerbrechen, doch sie konnte nicht anders und sie wollte nicht glauben, konnte nicht glauben...
„Nur ein Stuhl, der umgekippt ist.“
Er log, natürlich log er. Ein Teil der Yacht musste unter dem ungeheuren Wasserdruck weggebrochen sein. Bald schon wäre sie am tiefen Meeresgrund. Sie hörte Rauschen im Hintergrund und etwas, das sich wie ein Körper anhörte, der gegen Holz krachte. Weit entfernt vernahm sie seine Stimme, wie sie einen Schmerzenslaut ausstieß, bevor sein gehetzter Atem wieder direkt an ihrem Ohr erschien.
„Ich kann immer noch nicht tanzen“, murmelte sie und der Kloß in ihrer Kehle wurde größer und ließ sie keuchen.
Sie zog die Knie an und vergrub das Gesicht im freien Arm. Ihr Körper wurde von einer unsichtbaren Kraft geschüttelt und die Erkenntnis schlug wie eine Welle über ihr zusammen. Alles in ihr verkrampfte und sie vergrub die Hand in ihrem Haar und zog und sie hieß den körperlichen Schmerz willkommen, denn er war das Einzige, was sie zusammenhielt, das Einzige, was sie daran hinderte, hier und jetzt zu zerbrechen.
Sie wollte ihm so vieles sagen, sie musste ihm so vieles sagen. Er wusste nicht, dass sie es heimlich genoß, wenn er überall in der Wohnung ihre penible Ordnung durcheinanderbrachte, denn es war seine persönliche Note, sagte ihr, dass er bei ihr war und er wusste nicht, dass sie ihm nie wirklich böse gewesen war, dass er die Vase ihrer Mutter zerbrochen hatte, denn sie hatte sie genauso abscheulich gefunden wie er und er wusste nicht, dass sie für ihren Jahrestag einen Heiratsantrag geplant hatte und er wusste nicht, dass sie endlich bereit war, einen Hund für ihn zu adoptieren und er wusste nicht... Er wusste so vieles nicht. Und sie wusste nicht, wie sie all das in Worte kleiden sollte. Ihr lief die Zeit davon.
„Ich bring es dir bei, Honey.“ Seine Stimme klang so rau, so gebrochen. „Habe ich doch versprochen.“
„Ja, das hast du“, flüsterte sie, das Telefon fest ans Ohr gepresst, um jedes noch so kleine Geräusch zu hören.
Wie sehr wünschte sie sich, jetzt bei ihm zu sein. Ihm beizustehen, bis in die Ewigkeit. Was machte ihr Leben noch für einen Sinn, wenn er nicht dort war? Wenn er auf dem Grund des Ozeans lag? Sie konnte ohne ihn leben, doch wollte sie es? Jeden Tag müsste sie auf dem Weg zur Arbeit die Brücke, ihre Brücke, überqueren und jeden Abend würde sie den einsamen Ohrring in ihrem Badezimmerschrank sehen und jede Nacht wäre das Bett zu groß für sie. Nein, nein, sie konnte das nicht.
Ein lautes Knarren durch die Leitung ließ sie zusammenzucken, ein leiser Fluch ertönte. Sie musste unwillkürlich lächeln, ein tränenreiches Lächeln. Er hielt nicht viel vom Fluchen. Sonst war sie es immer, die die unflätigen Worte in den Mund nahm. Und er setzte dann stets diese missbilligende Miene auf, sah plötzlich so ernst aus mit der gerunzelten Stirn und den zusammengezogenen Augenbrauen. Würde sie diesen Ausdruck jemals wiedersehen? Würde sie ihn wenigstens in Erinnerung behalten können? Oder würde er verblassen, so wie auch das Gesicht ihres Vaters in ihrem Kopf durch die Zeit verwischt wurde?
Ein weiterer gedämpfter Fluch ertönte, ein erneutes Krachen, dann sein schwerer Atem.
„Hero?“, fragte sie, zögernd, in der Angst, keine Antwort mehr zu bekommen. „Hero?“
Selbst in ihren Ohren hörte sich ihre Stimme nun schrill und hysterisch an. Das konnte es nicht gewesen sein, nein, nein, so durfte es nicht enden!
„Hero!“
„Ich bin hier, Honey.“
Ein Laut zwischen Schluchzen und Lachen entschlüpfte ihren Lippen, als seine Stimme ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten diesen Kloß in ihrer Kehle daran hinderte, sie zu ersticken.
„Sag mir, was bei dir passiert“, bat sie krächzend, „Rede mit mir, sag irgendetwas.“
„Alles unter Kontrolle. Nur ein paar Wellen.“
Und wieder log er. Das stetige, zornige Rauschen im Hintergrund strafte ihn Lügen, sein angestrengter Atem und seine unterdrückten Flüche widersprachen ihm. Für einen Moment war sie nicht in der Lage, einen Ton von sich zu geben und lauschte nur, wie die stürmische See seinen zerbrechlichen, sterblichen Körper hin- und herwarf und sein Schiff langsam aber sicher auseinandernahm. Drei Tage hatte sie ihn nicht gesehen und nun sollte der letzte Moment mit ihm nur aus einem Ferngespräch bestehen? Sie wollte ihre Finger durch sein borstiges Haar fahren lassen, sie wollte ihren Kopf an seine Schulter lehnen und seiner Stimme lauschen, die seinen Geschichten Farbe verlieh. Sie würde seine Hände halten, über die Narbe an seinem linken Ringfinger streichen, die er sich als Kind beim Schnitzen zugezogen hatte, und den türkischen Kräutertee trinken, den sie so mochte. Doch sie war meilenweit entfernt und das Einzige, was ihr von ihm geblieben war, war seine verwaiste Hälfte des Bettes.
Viele Nächte hatte sie schon allein geschlafen, weil er auf einer seiner Touren gewesen war. Er plante sie nicht, manchmal wachte er morgens einfach auf und fing an zu packen. Nicht, weil er ihre Nähe nicht mehr ertragen konnte oder weg von ihr wollte, sondern weil er sich wie stets zum Meer hingezogen fühlte. Manchmal brauchte er die stille Einsamkeit auf seiner Yacht inmitten des Atlantiks und sie ließ ihn gewähren. Er brachte ihr immer etwas mit, eine Muschel, eine Kette, eine neue Geschichte. Sie würde all das aufgeben, wenn er nur überhaupt zurückkäme.
Jemanden wie ihn hatte sie noch nie getroffen, jemanden, den es so sehr nach Freiheit lechzte. Er war ein Freidenker, ein Künstler, ein abstraktes Individuum. Und der Mann, den sie liebte. Der Mann, der kurz davor stand, vom Meer, das er so schätzte, verschlungen zu werden.
„Dienstag um Acht, Hero“, flüsterte sie verzweifelt, „Vergiss es nicht.“
„Natürlich nicht.“
Wieder krachte es am anderen Ende des Telefons, stürmischer Wind heulte erbost wie eine Horde Höllenhunde. Die Leitung knisterte und rauschte, für einen Moment schien die Verbindung unterbrochen zu sein, doch dann hörte sie wieder seinen gehetzten Atem an ihrem Ohr.
Sie wusste nicht einmal, wieso seine Yacht sank. Aber wollte sie es überhaupt wissen? Vielleicht hatte ein plötzlicher Wind sich zu einem Sturm entwickelt und ihn vom Kurs abgebracht. Vielleicht hatte er dabei in der tiefschwarzen, tückischen Nacht einen Felsen gerammt. Vielleicht stand er schon knietief im Wasser. Er hatte ihr nur gesagt, dass er es nicht nach Hause schaffen würde. Dass es ein Problem mit dem Boot gäbe.
Sie presste fest die Augen zusammen und umklammerte krampfhaft das Telefon, damit es ihr nicht aus den schweißnassen Händen rutschte. Weiße Sternchen tanzten vor ihren Augen.
Er musste eine schnelle Entscheidung getroffen haben. Er hatte immer ein Satellitentelefon dabei, um erreichbar zu sein, aber er musste erkannt haben, dass jede Rettung zu spät käme. Und so hatte er entschieden, nicht um Hilfe zu bitten, sondern sie anzurufen. Sie, um die letzten Minuten seines Lebens mit ihr zu verbringen.
„Honey?“
„Ja?“, krächzte sie.
„Ich liebe dich.“
Sie biss sich fest auf die Unterlippe und schmeckte Blut.
„Ich dich auch, Hero. Ich liebe dich auch.“
„Lebewohl.“
Die Verbindung brach ab.