Ein leeres Blatt Papier
Weiß. Es ist einfach nur weiß. Vorne und Hinten. Weiß. Was soll ich damit anfangen? Ich habe weder einen Stift, noch besonders gute Kenntnisse in Origami. Wieso also gab man mir dieses Blatt?
Seit einiger Zeit bin ich hier und überlege, was ich tun soll, weshalb ich hier bin und was als nächstes passiert. Wie lange muss ich noch hier sitzen? Kann ich auch aufstehen und versuchen den Raum durch die Tür zu verlassen?
Der Raum. So weiß wie das Blatt Papier. Ein Fenster zu meiner rechten Seite, welches ihn ein wenig erhellt. Zu hoch um es zu öffnen. Wenn ich auf den Stuhl steige komme ich vielleicht ran. Die einfachste Variante wäre, erst einmal zu schauen, ob die Tür verschlossen ist. Ich probiere es. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Mein Hand hebt sich langsam Richtung Türgriff. Ein schwacher Stromschlag lässt mich zurückzucken. Wieso ist der Griff unter Strom? Ich reibe mir die Hand und überlege, ob es mit dem Fenster genauso ist. Soll ich das Risiko eingehen noch einen Schlag zu bekommen? Da ich nicht noch länger hier sitzen möchte und das Blatt Papier anstarren, werde ich es wagen. Ich schiebe den Stuhl unter das Fenster und klettere rauf. Immer noch nicht nah genug. Das hab ich wohl auch meiner kleinen Körpergröße zu verdanken.
Der Tisch. Auf ihm liegt das Blatt. Wenn ich den Tisch unter das Fenster schiebe und den Stuhl darauf, komme ich bestimmt ran. Das Blatt lege ich auf den Boden und setze meinen Plan um. Der Tisch ist nicht sonderlich schwer zu ziehen, dennoch laut, wie er über den Boden schleift. Jetzt noch der Stuhl auf den Tisch und ich auf den Stuhl. Perfekt, ich komme ans Fenster. Zögerlich, aus Angst vor einem weiteren Stromschlag, führe ich meine Hand zu Fenstergriff. Erst ein kurzes Antippen mit meinem Zeigefinger, dann die ganze Hand. Der Griff ist in Ordnung. Ich verspüre Erleichterung, die sich sofort wieder in Verzweiflung ändert als ich vergeblich versuche, den Griff zu bewegen. Verschlossen. Das Fenster ist verschlossen. Frustriert steige ich wieder von meinem Bauwerk hinab und bringe Tische und Stuhl wieder in die Ausgangsposition. Angeschlagen setze ich mich und lege meinen Kopf auf die Tischplatte. Wieso? Was ist hier los? Weshalb zur Hölle bin ich hier? Ich neige meinen Kopf zur Seite und mein Blick fällt auf das weiße Blatt Papier. Nach kurzem Überlegen hebe ich es auf und lege es vor mich hin. Ich bin wieder am Anfang. Alleine, sitzend an einem Tisch in einem Raum mit weißen Wänden und einem weißen Blatt vor mir. Erneut senke ich meinen Kopf und er fällt etwas unsanft auf den Tisch. Das Blatt klebt zwischen mir und dem Tisch. Es verhöhnt mich. Es starrt zurück als würde es mir sagen, Pech gehabt. Was hat das alles nur zu bedeuten? Ich schließe meine Augen und nach kurzer Zeit versinke ich in einen tiefen Schlaf.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber durch das Fenster kann ich sehen, dass es nun Nacht ist. Alles ist noch wie es war. Der Tisch, der Stuhl, ich und das Blatt. Moment. Das Blatt ist weg. Ich schaue mich irritiert um. Wo ist es hin? War jemand hier und hat es genommen während ich geschlafen habe? Ich stehe auf und suche den Raum ab. Nichts. Ich taste die Wände ab. Nichts. An der Decke. Nichts. Auf dem Boden. Nichts. Unter dem Tisch, an dem Tisch, am Fenster. Nichts. Nichts. Nichts. Es ist einfach weg. Ich merke wie die Verzweiflung langsam zur Wut wird. Ich will hier raus. Ich muss hier raus. Die Tür. Ich muss es nochmal probieren. Diesmal versuche ich es mit dem Fuß und trete gegen die Tür. Nichts passiert. Lasst mich raus. Ich könnte schreien. Niemand würde mich hören. Oder niemand wollte mich hören. Aus noch größer werdender Verzweiflung schnappe ich mir den Stuhl und werfe ihn gegen die Tür. Nichts. Mit meinen Fäusten schlage ich gegen die Wand, bis ich rote Flecken feststelle. Ich schaue auf meine Knöchel, die ich mir aufgeschlagen habe. Verdammt. Ich lehne mich an die Wand und sinke langsam zu Boden. Die Tränen kann ich nicht mehr halten. Vor mir sehe ich den kaputten Stuhl und bemerke die abgebrochenen Beine. Ich könnte mir das Holzbein in die Brust rammen und meiner Qual ein Ende setzten. Einen anderen Ausweg sehe ich nicht mehr. Wild entschlossen stehe ich auf und greife eines der Stuhlbeine. Mit beiden Händen packe ich es und bereite mich für den Stoß vor. In diesem Moment öffnet sich die Tür. Zwei Männer kommen rein und nehmen mir das Bein aus der Hand. Danach geleiten sie mich hinaus. Wo gehen wir hin? Wer seid ihr? Sie antworten nicht. Wir gehen einen langen, natürlich weißen, Flur entlang. Auf jeder Seite sehe ich in einigen Abständen Türen. Ob dort noch mehr Leute drin? Garantiert. Doch ob ich das jemals rausfinden würde? Die beiden Männer führen mich weiter bis zum Ende des Ganges. Einer der beiden holt einen Schlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür. Sie schubsen mich wortlos hinein und verschließen hinter mir. Ich versuche noch schnell die Tür zu blocken, doch es ist zu spät. Die Tür ist zu. Ich drehe mich um und was ich sehe lässt mich erneut in Tränen der Verzweiflung ausbrechen. Ein Tisch, ein Stuhl, ein weißes Blatt Papier. Wütend gehe ich auf den Tisch zu und schmeiße ihn um. Den Stuhl trete ich weg, das Blatt zerreiße ich. Wieder versuche ich einen Weg hinaus finden. Doch der Raum gleicht dem anderen. Es gibt nichts was ich tun kann. Doch. Es gibt eine Sache. Wenn ich versuche, mich wieder umzubringen, werden sie kommen. Das ist meine Gelegenheit zu fliehen. Schnell hebe ich den Stuhl auf und werfe ihn an die Wand. Das Bein positioniere ich wieder vor meiner Brust. Noch bevor ich es bewege, geht die Tür auf und die beiden Männer kommen rein. Wieder sagen sie nichts und führen mich aus dem Raum. Diesmal werde ich mich wehren.
Ich warte, bis wir zum nächsten Raum gelangen und dort nur noch von einem festgehalten werde. Wie vermutet, schließt einer wieder die Tür auf. In diesem Moment ramme ich dem anderen ein Stück Splitter, welches ich vom Stuhl behalten habe, in den Oberschenkel. Er lässt mich los und schreit auf. Der andere dreht sich um, doch ehe er etwas machen kann, trete ich ihm in seine Kronjuwelen. Er sinkt auf seine Knie und mit einem zweiten Tritt gegen die Brust, fällt er nach hinten. Der andere hat den Splitter aus seinem Oberschenkel gezogen und rennt, wenn man das so nennen kann, auf mich zu. Ein richtig getimter Schritt zur Seite und ein ausgestrecktes Bein lassen auch ihn zu Boden fallen. Ich greife mir die Schlüssel aus der Tür und renne den Flur entlang. Dann halte ich abrupt an. Die verschlossenen Türen. Was, wenn dort tatsächlich auch noch mehr gefangen gehalten werden? Ich blicke auf die beiden zurück, die sich langsam wieder aufrappeln. Keine Zeit. Ich muss gehen. Am Ende des Flurs befindet sich eine große Tür. Sie ist verschlossen. Ich probiere die Schlüssel aus. Der Vierte passt und ich öffne sie. Ein weiterer, aber kleinerer Gang liegt vor mir. Am Ende wieder eine Tür. Schnell renne ich auf sie zu und probiere erneut alle Schlüssel. Diesmal klappt es beim zweiten Mal. Ich öffne sie und blicke in die Nacht.
Ein Sternenklarer Himmel erstreckt sich über mir. Es ist frisch, aber ich friere nicht. Der Mond strahlt hell, dennoch kann ich kaum etwas sehen. Ich höre die beiden Männer durch den Flur rennen und schaue mich um. Kein Ausweg. Ein paar Schritte entferne ich mich vom Gebäude. Hinter bemerke ich Leere. Eine Klippe. Erst jetzt höre ich Meeresrauschen. Ich stehe an einer Klippe und komme nicht weiter. Ein Knall lässt mich zusammen zucken. Die Männer haben es nach draußen geschafft und kommen langsam auf mich zu. Ich suche meine Taschen ab, in der Hoffnung noch ein Stück von dem Stuhl zu finden. Nichts. Doch stattdessen ziehe aus der rechten Hosentasche ein zusammengefaltetes Blatt weißes Papier. Verwirrt auf das Blatt Papier starrend bemerke ich zu spät, dass ich mich Rückwärts bewege. Ich falle. Das Blatt Papier noch immer in der Hand, falle ich die Klippe hinunter. Ist das mein Ausweg? Mit dem Rücken zum Boden falle ich weiter. Mein Blick, starr auf das Blatt Papier. So weiß wie am Anfang.
Nach dem Aufprall landet es neben mir. In meinem letzten Atemzug sehe ich, wie sich das weiße Blatt Papier langsam rot färbt.
Und endlich bin ich frei.