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Serie Ein Leben als Ersatz - Willkommen

sim

Seniors
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13.04.2003
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Ein Leben als Ersatz - Willkommen

Noch namenlos, bis auf das Geschlecht strukturlos, gerade eben befruchtete Eizelle, eingenistet in eine glitschige Gebärmutterwand, nimmt er seinen Dienst auf, seine Bestimmung an.
Es hätte ja etwas passieren können.
Die Stricknadel beispielsweise, geduldig in den Flammen des Gasherdes steril erhitzt, hätte den Claus
beinahe erstochen, verfehlte um Haaresbreite sein embryonales Herz.
Die Kante der Treppenstufe knallte erbarmungslos in sein Rückgrat, sodass der Claus wie von Gummibändern bewegt durch die Gummizelle seines mütterlichen Knast geschleudert wurde.
Keimzelle, Eizelle, Gummizelle, Todeszelle?
Zur Geburt begnadigt nach 257 Tagen?
Zum Leben verurteilt?
Nicht vorgreifen, bitteschön!
Als Stricknadel und Treppensturz nichts halfen, als kein Tropfen Blut bereit war, die Weißwäsche zu verkrusten, als sich alle Versuche, etwas zu ändern als ergebnislos erwiesen hatten, wurde die Chance erkannt, wurde Claus Bestimmung auch im Wissen der Mutter festgelegt, lange, nachdem die Bestimmung der immer noch namenlosen Eizelle schon manifestiert war.
Claus’ Aufgabe ist es, Claus zu werden, der Claus, der Marianne nicht hatte werden können, der Mariannes Mutter vorenthalten blieb, obwohl sie sich ihn so sehr gewünscht hatte.
Endlich der unendliche Sieg über die noch sterile Schwester, der nicht einzuholende Triumph, endlich zusammengespart der Kaufpreis für mütterliche Liebe.
Was gibt es noch zu bedenken?
Dieter muss mit seinem Leben bezahlen, muss Gatte werden, nachdem sie ihm die Begattung gestattet hatte.
Sie muss den Laufpass zurückverlangen, ausgestellt nach Verlass auf die Fieberkurve, die zum, sich erst nun als richtig erweisenden, falschen Zeitpunkt männliche Überlagerung empfohlen hatte.
Verlobung, Entlobung, Verlobung, Trauung, Clauszeugungs-Pflicht, möglichst ohne Verkehr.
Versorgungs-Pflicht, ohne die Zweizimmerwohnung verlassen zu müssen.
Anwesenheits-Pflicht, ohne geliebt zu werden. Lebens-Pflicht ohne eigenes Leben.
Ehe das Leben beginnt Ehe als lebenslang unbezahlter Beruf.
Dieters Berufung.
Mariannes Berufung.
Haushälterin, Zugehfrau, Amme, Kindermädchen, Minna, echte geliebte Perle, innigst geliebte Frau, die sich immer nur als Klunker empfindet.
Konsequenz einer kitschigen Liebesszene, Dieter kann sich nicht abfinden mit der plötzlichen Entlobung, fühlt sich zu treu ergeben, liebeskrank, will einen Grund für dieses launische Wechselspiel, geht per pedes vom Schulterblatt zur Osterstraße, Marianne abzuholen von ihrem Arbeitsplatz.
Marianne, nachdem sie die Möglichkeit des in ihr reifenden Claus erkannt hat, will ihrerseits den Erzeuger binden, nicht dass sie ihn lieben würde, er ist schließlich ein Mann, aber er liebt sie, widerspricht nicht, und wenn sie nicht will, lässt er die Finger von ihr. Ab und zu wird sie wohl wollen müssen, gehört ja zur Liebe dazu, wenn es auch nicht schön ist. Marianne macht sich in ihrer Erkenntnis also auf den Weg vom Blumengeschäft in der Osterstraße zur Schlachterei am Schulterblatt.
Begegnung unterwegs, sich schüchtern an den Händen fassen: „Ich bekomme ein Kind, jetzt musst du mich heiraten.“
Sie trauen sich nicht, aber sie lassen sich trauen, Dieter verwöhnt, Marianne gewöhnt sich, himmelschreiendes Ja als Eheverpflichtung, jubilierendes Ja zum Leben ohne Liebe.
Welche Frucht wächst aus mit Fleisch gekreuzten Blumen? Was entsteht aus der Allianz des Schlachtergesellen mit der Blumenbinderin? Kompromissgemüse, nur gar gekocht genießbar?
Der Name Claus steht fest, das männliche Geschlecht, die Befriedigung als Zweck seiner Existenz.
Irgendwann im November wird er ausgestoßen.
„Sei Claus! Sei so, wie ich glaube, dass Großmutters WunschClaus ist!“
Mein Claus schreit nicht, bockt nicht, ist artig und gehorsam, ist höflich und fleißig, weich und anschmiegsam und produziert seine Früchte zu meiner Erfüllung.
Mein Omaclaus macht nicht in die Windeln, ist gelehrig und schlau und gut in der Schule.“
Wunschkinddasein als vorgehaltene Verpflichtung, Muttersehnsucht als Knüppel zwischen den Beinen.
Wunschclaus, Santaclaus, Cläuschen, C-Läuschen.
Laus, Maus, raus! Nieclaus.
Der Charakter: ein Ziel, vorgeschrieben und unerreichbar.
Für die Niederkunft wird ein teures Privathospital gewählt, besonders gut soll es Marianne haben, wenn sie Mutters Claus zur Welt bringt, an den Claus wird dabei weniger gedacht.
Die Lampen im Kreissaal blenden das neue Leben nicht weniger als anderswo, die medizinische Ausrüstung ist eher schlechter, nur der Service für die junge Dame lohnt die Finanzierung aus eigener Tasche.
Das Kind strampelt sich aus seinem ersten Gefängnis in das zweite, jenes des festgelegten Wesens, welches es von heute an zu sein hat, nicht zu werden, zu SEIN.
Schreiend und hässlich findet es sofort mütterliche Enttäuschung vor, wird kaum eines erschöpften Blickes gewürdigt, während die Krankenschwester ihm ein farbiges Band um den Arm bindet. Die Nabelschnur wurde kalt und brutal, also fachmännisch, sofort nach dem ersten Ton getrennt, dann ging es ab in den sterilen verkabelten Brutkasten. Ein wenig wundern darf er sich noch, der Claus, wundern über den abstoßenden, weiterhin schmerzgebeugten Körper, dem er entronnen, über den erstaunten Ausruf des Arztes. Kann es wirklich sein, dass niemand wusste, was er schon seit dem Beginn seiner Existenz weiß?
„Huch, da kommt ja noch einer!“, hört er deutlich.
Natürlich kommt da noch einer. Zwar hatte er sich versteckt, im äußersten Winkel der Gebärmutter, hat sich so gut wie möglich unsichtbar gemacht, ruhig verhalten, wurde von keiner Stricknadel bedroht, von keiner fühlenden Hand beklopft, von keinem Stethoskop auf seine Herztöne hin belauscht, doch so gut hat sich dieser Wurm nun auch wieder nicht verborgen, dass er unbemerkbar gewesen wäre. Er, der Claus, hat ihn doch auch registriert, schon weil der trotz aller Vorsicht immer im Weg war, wenn man sich zum Beispiel vor scharfen Treppenkanten in Sicherheit bringen musste.
Natürlich kommt da noch einer, schafft es leider nicht, so unbemerkt auf die Welt zu fallen, wie er entstanden und gereift ist, flutscht leider nicht so einfach durch die noch geweitete Öffnung, sondern verlängert das Leiden um qualvolle zehn Minuten.
Was soll man mit ihm anfangen, entnabelt und nackt, wie er da auf dem kalten Metalltisch liegt und darauf warten muss, dass ein zweites Säuglingsterrarium sterilisiert wird.
Eine Krankenschwester begibt sich hektisch auf die Suche nach einem andersfarbigen Band, wenigstens an der Farbe am Handgelenk sollte man sie ja unterscheiden können.
Marianne kann doch nur einen Claus gebrauchen, mehr hatte sich ihre Mutter nicht gewünscht. Einen Wunschclaus bitte, aber was sollte der zweite? Seine Bestimmung war doch nur Claussicherheit gewesen, sein Zweck war doch nur, da zu sein, falls dem Claus etwas passiert wäre, falls er den Weg aus der Mutter auf die Mutter Erde nicht überstanden hätte.
Seine Existenzberechtigung war doch schon vor der Geburt erloschen. Was will er noch hier?
Wie ein Ei im Labor liegt er künstlich beatmet unter der Wärmelampe. Irgendwann vielleicht würde seine Schale platzen und ein brauchbares Etwas könnte entstehen. Momentan ist er nur der Beitrag zur hundertprozentigen Inflation der Kostenerwartungen einer Kleinfamilie, der Zerstörer persönlicher Ziele und finanzieller Planungen, unvorhergesehener Faktor in der Rentabilitätsrechnung.
Was sollen sie anfangen mit diesem Bündel an Erwartungen. Es muss genährt und gekleidet werden. Schließlich kann man es nicht so einfach verhungern lassen, wie man eine Treppe runterfällt.
Marianne duscht behaglich im warmen Wasser mitleidender Aufmerksamkeit. Lachsfarbene Gerbera stehen vor der Tür ihres Krankenzimmers. Blumen haben in derart sensiblen Räumen keinen Zutritt. Die Gratulanten sehen die Arbeit, die Mühsal, die auf Marianne zukommt, sehen die Geburtsschmerzen, die sie überstanden hat, bringen Gesellschaft für die Gerbera, jeder neue Strauß ein bisschen bunter, ein bisschen schicker, als ob alle Kolleginnen ihre Gesellenstücke an Mariannes Wochenbett tragen.
Dafür dürfen sie einen Blick in die Brutkästen werfen.
„Der mit dem roten Band ist Claus.“ Ein zweiter Name ist ihr noch nicht eingefallen, er ist eigentlich auch egal, Hauptsache, er passt zu Claus. Sie müssen doch zusammen gut klingen, die Namen. Marianne hätte ja gepasst, aber auch der Ersatzclaus ist kein Mädchen, trotz des rosa Bands um sein Handgelenk.
Vorläufig wird er als Eindringling bezeichnet und vorgestellt, ein nervöses abmilderndes Lachen schwingt dabei mit, doch dieser ureigene Name ist das ehrlichste, was dieses Bündel im Laufe seines Lebens zu hören bekommt.

Die Zellen haben sich zu einem zweitausend Gramm schweren Säugling zusammengefunden, Form und Struktur gebildet, die der Brutkasten zu einem kompletten Baby zusammenbacken muss. Noch immer namenlos wird es auf ein höheres Gewicht gepäppelt, täglich gewogen, für zu leicht befunden, immer wieder für unzureichend erklärt.
Jeden Tag spürt er die Ungeduld der Frauen, die ärgerlich verschiedene Kurven auf ein Blatt Papier kratzen. Sie brauchen den Kasten, brauchen vor allem die Zeit, die sie ihm widmen müssen, für dringendere Aufgaben.
„So klein, aber Arbeit macht er für zwei“, beschweren sie sich.
Der Claus nimmt auch nicht schneller zu, doch seine Kurven werden behutsam von Tag zu Tag verlängert und von besorgten Kommentaren begleitet, von aufatmender Erleichterung über jeden Fortschritt, den er macht.
Noch bevor ihre Produkte das vorgeschriebene Mindestgewicht erreicht haben, muss Marianne das Wochenbett räumen, muss zurück zu Dieter, zurück in die Zweizimmerwohnung, die liebevoll und muttergerecht umgestaltet wurde.
Ihr gefällt nichts. Die Zwillingskarre muss wieder getauscht werden, von Vorwürfen begleitet, was ihm, Dieter, denn einfiele, eigenmächtig irgendetwas zu besorgen. Noch aus dem Krankenbett hatte sie ihn losgejagt, er müsse doch wohl in der Lage sein, etwas Passendes zu finden.
Die Bettchen hatte er zu nah aneinander gestellt, den Wickeltisch findet sie überflüssig, eine Wachstuchdecke hätte es auch getan.
Geduldig wiederholt Dieter die geleisteten Wege noch einmal mit ihr, tauscht, sucht, fragt, liebt, um immer wieder abzublitzen.
Marianne möchte jetzt endlich ihren Claus haben, möchte ihn bei sich in der Wohnung, in der Karre, auf ihrem Arm. Wozu die Schmerzen, wozu der Verkehr, wozu die lebenslange Belastung mit einem Mann, wenn man doch nichts stolz Vorzeigbares in der Hand hat.
Die erste Enttäuschung hat sie vergessen. In Abwesenheit ist ihr Claus das schönste Baby der Welt, kein schrumpelig rotes Gesicht, keine verklebten, noch ewig geschlossenen Augen.
Im dritten Geschoss, eingesperrt in ihren zwei Zimmern, sieht Marianne ein nie gelächeltes Lächeln, sieht es aus dem für Claus bestimmten Bettchen quellen, lässt es sich allmorgendlich entgegenströmen. Ein Lächeln hellt die Novemberwolken auf.
Dieter muss vor dem Aufstehen zur Arbeit, hat zur Feier der Geburt von seinem Chef die Leitung einer Filiale, ein bisschen mehr Gehalt und viel mehr Überstunden übertragen bekommen. Er zerlegt die Einbahnstraßenliebe in Filet und Eisbein, verhackt sie im Fleischwolf, haut sie als Beil mit aller Kraft durch widerspenstige Kasslerknochen, enthäutet und verwurstet sie, verkauft sie sorgsam verpackt an Rentnerinnen und junge Mütter.
Abends bringt er die edelsten Stücke mit, bringt Fürsorge und Geduld in das Heim, dessen Wände vor Unzufriedenheit schreien. Jeden Morgen treibt ihn der Schrei aus dem Haus, nicht ohne ein schlechtes Gewissen mitzunehmen, jeden Abend trägt ihn die Hoffnung zurück, ein Teil seiner Liebe hätte sich in den Raufasertapeten verfangen und würde von dort durch die Wohnung strahlen. Auch Dieter wartet auf die Ankunft der Kinder, glaubt fest an das liebevolle Leben, mit dem sie Marianne erfüllen könnten, die Wände und die Luft der Räume.
Die Säuglinge versagen, versagen ihren Dienst.
Endlich da, erfüllen sie nicht die Räume mit Liebe, sondern mit Geschrei nach Nahrung und Fürsorge und die Windeln mit dünnflüssigem, Ekel erregendem Kot.
Kein Mensch hat Marianne gewarnt, wie schwer es ist, hilflose Bündel zu lieben, deren Schreie durch das ganze Treppenhaus gellen und sie vor den Nachbarn blamieren. Niemand hat ihr gesagt, wie viel Überwindung es kostet, die stinkenden Windeln zu wechseln und zu waschen.
Eine Zeit lang reißt Marianne sich zusammen, befolgt die Gebote ihres Claus, notgedrungen sogar die des Eindringlings, doch das Gebrüll hört nicht auf. Erst als ihre Mutter ihr täglich zu Hilfe kommt, sich des Wunschclaus annimmt und sie zur Gerechtigkeit dem anderen Kind gegenüber ermahnt, dafür sorgt, dass ihm ein eigenes Fläschchen mit Nahrung gefüllt wird, wird die Luft stiller.
Während die Oma den Claus auf dem Tisch wickelt, wird der Günther, so heißt der Eindringling jetzt offiziell, auf dem Fußboden versorgt. Der Claus bekommt die Flasche auf dem Schoß der Großmutter, eingebettet in ihren Armen, Günther liegt zwischen den Gitterstäben in seinem Bett, während Marianne ihm mit lang gestrecktem Arm den Säuger zwischen die Lippen presst.
Günther spielt, lutscht, saugt und spuckt, schluckt ab und zu etwas herunter, sucht sich sein Vergnügen an einem Gummistück.
Der gesättigte Claus wird durch die kleine Wohnung getragen, in Erwartung eines Bäuerchens, doch Marianne bekommt einen lahmen Arm und Wut auf die noch halb volle Flasche. Kann sich dieser Balg nicht gefälligst beeilen?
Aber sie muss den Claus ihrer Mutter lassen. Für sie hat sie ihn ja schließlich auf die Welt gebracht. Bei ihr ist er auch immerhin brav, schreit nicht, lässt sich geduldig hin und her wiegen, ohne Zicken zu machen. Wenigstens vor ihrer Mutter blamiert er sie nicht.
Nur der Eindringling ist störrisch wie ein Esel, undankbar für ihre Mühe mit ihm, boshaft und ständig unzufrieden. Muss man sich das eigentlich gefallen lassen? Was hat Marianne verbrochen, dass ihre Kinder sie nicht lieben? Warum ist der Claus bei ihrer Mutter artig und ruhig? Warum ärgert der Günther sie absichtlich mit dieser blöden Flasche?
Sie hört den Claus in der Küche lachen, hört den laufenden Wasserhahn, der in vergnügten Abständen durch die spielenden, forschenden Finger ihres Sohnes unterbrochen wird.
Vielleicht sollte sie sich Günther auch auf den Schoß legen, vielleicht beeilt er sich dann mit dem Trinken?
Sie reißt ihm ungeduldig das Gummistück aus der Schnauze, entfacht einen wütenden Protestschrei. Dessen ungeachtet greift sie das Bündel und packt es hart auf ihre Schenkel: „Jetzt friss endlich, du verdammtes Luder, oder willst du verhungern, damit ich endgültig als Rabenmutter dastehe?“
Marianne möchte doch endlich, ihre Kinder weiß und wohl verpackt, die Zwillingskarre auf die Straße schieben und die respektvollen Blicke der fremden Passanten auf ihre Produkte genießen. Doch der Eindringling achtet ja nicht auf ihre Bedürfnisse. Ihre Wünsche sind ihm egal. Anscheinend hat er vergessen, wie vergnügt er immer lacht, wenn wildfremde Frauen ihn am Hals kitzeln.
Er saugt im Zeitlupentempo, nur um ja nicht auf die Straße zu müssen, schreit und spuckt den gerade aus der Flasche gelutschten Schleim auf Mariannes frisch gebügeltes Kleid.
Marianne war nie eine gute Sportlerin, und der Stoß, mit dem sie die brüllende Kugel nach mehreren heftigen Schlägen in ihr Gitterbett befördert, ist zu kurz, reicht nur bis zum Gitter, erst von dort trudelt Günther wie ein netzgespielter Tennisball auf die Matratze, plärrt, bis zum nächsten Hieb der hinterhergestürmten Mutter aus Leibeskräften, dann ist er stumm. Die Oma kommt mit dem Claus in das Zimmer zurück, sieht den still liegenden Kerl in seinem Bettchen, ihre Tochter mit der halbwegs akzeptabel geleerten Flasche und atmet auf: „Ich dachte, es wäre etwas passiert.“
„Nein, es ist alles in Ordnung.“ Marianne hält unauffällig ihre Hand vor Günthers Atemorgane, spürt einen regelmäßigen Luftzug, Erleichterung und etwas Scham. „Wir können jetzt endlich spazieren gehen.“
Atmung und Herzschlag kontrollieren, unverdächtig bleiben, unbemerkbar funktionieren, Günther lernt viel an diesem Mittag. Spaß wird er nur haben, wenn er so tut als hätte er Spaß, geliebt wird er sich nur fühlen, wenn er keinen Ärger macht. Doch das zu beherrschen wird ein langer, qualvoller Weg voller Rückschläge, voller Misserfolge für ihn werden. Nobody is perfect. Er, Günther, schon gar nicht.
Jede Erfahrung ist ein kleiner Tod, kein beunruhigender Tod, der die Atmung für ewig blockiert, kein Tod, der sofort festzustellen wäre. Das Herz hört nicht auf zu schlagen, es gewinnt nur eine dauerhafte Verkrampfung hinzu, die Atmung wird für einen sehr kurzen Moment asthmatischer, bis das neue Leben sie wieder ruhig und gleichmäßig übernimmt. Das Gehirn versagt nicht seinen Dienst.
Es speichert nur die Tode in kleinen Kapseln, die zyankaligleich das Fühlen vergiften.
Der Tod hält die Funktionen aufrecht, hilft beim Überleben, schützt und härtet ab.
Günther stirbt seinen ersten Tod an der Kante seines im Schatten stehenden Kinderbettes, kurz bevor Marianne, einen Luftzug aus seinem Mund vernehmend, den ersehnten Spaziergang herbeiredet, kurz bevor er blütenweiß verpackt in der Zwillingskarre durch die Straßen geschoben wird, um die Gerüche fremder Hände unterscheiden zu lernen.
Günther lernt, durch Sterben weiter zu leben, durch die eigene Vernichtung zu existieren, lernt, dass neues Leben von seiner Hülle Besitz ergreift, wenn er sie verlässt.
Mit jedem seiner Tode gibt er neuen Wesen die Chance, die an ihn gestellte Aufgabe zu erfüllen. Irgendwann vielleicht würde er nicht mehr sterben müssen. Dann wird er eventuell geliebt.
Sein erster Tod bleibt unbemerkt, der routinierte Tagesstress folgt dem gewohnten Ablauf. Die Flasche für Claus im Schoß der Großmutter, die an Mariannes ausgestrecktem Arm für Günther.
Günther trödelt nicht mehr beim Essen, in diesem Punkt ist auf ihn Verlass. Er saugt sich so genussvoll es eben geht, die Liebe aus der Flasche.
Abends saugt er sie manchmal aus Papas Schoß. Wenn der, nach einem anstrengenden Arbeitstag, in blauer Turnhose und Unterhemd auf dem rotschwarzen Sessel sitzt, und sich Vorwürfe anhören muss, nimmt Günther an Papa lutschend den Sinn seines Lebens an, ein Ersatz zu sein, eine Ersatzbefriedigung. Könnte ein Start ins Leben einen besser vorbereiten?


Ein Leben als Ersatz - Die Ohrfeige
Ein Leben als Ersatz - Das Morgengrauen
Ein Leben als Ersatz - Rechnen lernen
Ein Leben als Ersatz - Schuld und Strafe

 

Hey sim!
Ich kenne eine Frau, deren Baby von den Eltern ihres Freundes adoptiert wurde, sie ist also die Schwägerin ihrer Tochter. Sie sieht dieses Kind aufwachsen, hat aber anscheinend keine Muttergefühle.
Deine Geschichte macht mich echt traurig, weil ich denke, dass sie leider realistisch ist.
Wie viele Kinder kommen heutzutage auf die Welt, die niemand haben will, nicht mal ihre Mütter, die nie erleben, was richtige Mutterliebe ist. Wo das doch eigentlich die Liebe ist, die angeblich nie vergeht.

Wunschclaus, Santaclaus, Cläuschen, C-Läuschen.
Laus, Maus, raus! Nieclaus.

Für mich machen diese Kosenamen den Eindruck, dass Claus als Sache betrachtet wird. Man gibt ihm diese ganzen Namen, auch "Niklaus", aber eben "nie Claus", er wird nicht als der Mensch gesehen, der er ist.

Ich finde es toll, wie du geschrieben hast, vor allem auch WAS du geschrieben hast, ich frage mich, ob Inge von ihrer Mutter nie wirkliche Liebe erfahren hat, weil sie kein Junge, eben kein Claus, geworden ist, und ob Inge deshalb so kalt zu ihren Kindern ist. Wird wohl so sein.
Traurig finde ich auch dieses Bild des ausgestreckten Armes. Die Mutter lässt das unerwünschte Kind zumindest im übertragenen Sinne am ausgestreckten Arm verhungern.

Nochmal: Du bringst die Kälte, die Wut der Mutter, aber auch diese kurzen Augenblicke, in der sie eigentlich glücklich mit ihrem Claus ist, wunderbar rüber. Und die schlimme Situation, in der sich dieses neugeborene, hilflose und schon so ungeliebte Kind befindet.
Werd ich bestimmt noch öfter lesen.
Greetings, Singerl

 

Hi Singerl,

vielen Dank, dass du dich dieser doch etwas runter ziehenden Geschichte erbarmt hast.

ich frage mich, ob Inge von ihrer Mutter nie wirkliche Liebe erfahren hat, weil sie kein Junge, eben kein Claus, geworden ist, und ob Inge deshalb so kalt zu ihren Kindern ist. Wird wohl so sein.

Diese Frage beruhigt mich, denn ich war etwas unsicher, ob die Geschichte auch, wie es mein Ziel war, ein bisschen Liebe für diese Mutter mit transportieren würde.


Vielen Dank noch mal,
sim

 

Hallo sim,

ich habe mit Spannung diesen sehr gut geschriebenen Text gelesen. Günther kommt ohne Schutzengel zur Welt, ungewünscht und lästig schon vom ersten Augenblick an.
Vielen Kindern ergeht es ähnlich. Eine schwarze Seite unserer Gesellschaft.....
Der von dir gewählte Erzählstil ist wortgewaltig, kritisch und erinnert mich phasenweise an die Art, wie Elfriede Jelinek ihr Buch "Die Liebhaberinnen" geschrieben hat.
Sehr gut gelungen finde ich das Spielen mit Worten, das Verkehren und Hinterfragen. Für mich ist dein Text ein gelungenes Stück einer sehr intelligent gemachten Literatur.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Kristin,

vielen Dank für die positive Kritik und die umfangreiche Korrekturliste.
Ich habe die Geschichte heute morgen noch einmal überarbeitet und die meisten deiner Vorschläge eingebaut.

Noch namenlos, bis auf das Geschlecht strukturlos, gerade eben befruchtete Eizelle, eingenistet in eine glitschige Gebärmutterwand, nahm er seinen Dienst auf, seine Bestimmung an.

Entweder Du setzt einen Punkt nach "Eizelle" oder Du schreibst "... nahm sie ihren Dienst auf, ihre ..."


Um diesen Punkt müssen wir uns auseinander setzen. Die Eizelle ist zwar vom Casus her weiblich, es wird aber Günther daraus, der schon als Eizelle seinen Dienst aufnahm. Mein Gefühl dafür gebietet mir an dieser Stelle deshalb den männlichen Casus.

Ehe das Leben beginnt Ehe als lebenslang unbezahlter Beruf.

Würde einen Doppelpunkt nach "beginnt" setzen.


Achja, die Eitelkeit des Verfassers. Für mein Gefühl würde ein Doppelpunkt das Wortspiel mit den beiden unterschiedlichen Bedeutungen von Ehe zerstören. Wie wäre es, wenn ich den Satz umstelle?

Ehe als lebenslang unbezahlter Beruf noch ehe das Leben beginnt.

„Sei Claus, so wie ich glaube, muss Großmutters Wunschclaus sein.

Falls das ein Imperativ sein soll, müsste es heißen "musst Großmutters Wunschclaus sein". Außerdem gehört dann ein Ausrufezeichen ans Satzende. (Ich würde eh zwei Sätze draus machen, bis und ab "glaube".


Ich habe den Satz noch mal ein bisschen umgestellt. Vielleicht ist es jetzt deutlicher.

„Sei Claus! Sei so, wie ich glaube, dass Großmutters WunschClaus ist!“

Inhaltlich zu mäkeln habe ich nur daran, dass der erste Teil ausschließlich von Claus handelt und auch die Opferrolle, die er einmal einnehmen wird, verdeutlicht, der zweite Teil dann aber Günther als das eigentliche Opfer darstellt, Claus ist im Vergleich zum ihm der Geliebte, Gewollte. Der Wechsel kommt etwas plötzlich.

Das wird der Claus ganz sicher auch zu bemäkeln haben, denn mit der Verpflichtung, die auf ihm lastet kannman ihn wirklich nicht als Wunschkind bezeichnen. Außerdem sind Wutausbrüche, wie Günther sie erfährt, sicher auch an Claus gerichtet, wenn er seine Aufgabe nicht erfüllt.Wenn Claus also ab einem bestimmten Punkt als geliebtes Kind erscheint, dann werde ich das auf alle Fälle noch einmal überarbeiten.

Mit den Tempi liegt in Deiner Geschichte auch noch einiges im Argen - es wäre mE besser, Du würdest Dich für eine Zeit entscheiden, statt dauernd hin und her zu springen.
Ich habe die Geschichte jetzt (fast) komplett in die Gegenwart gesetzt. Dort wo ich dies unterlassen habe erschien mir die Vergangenheit als Zeit logischer und sinnvoller.

Wie angekündigt mache ich mich grade über Deine Geschichtenliste her. Leider ist sie viel zu leer, ich muss das Lesen also rationieren
Diesbezüglich werde ich dir noch eine PM schicken ;)

Hallo Aqualung,

dein Lob und dein Vergleich plätten mich ja richtig.

Allgemein möchte ich noch einmal ausdrücken, wie gerührt ich hier oft vor meinem PC sitze, wenn ich mich mit den Kritikpunkten beschäftige. Da ich ja zu ängstlich bin, mich mit meinen Geschreibsel einmal an Verlage zu wenden, habe ich von den Freunden, die meine Geschichten sonst höchstens mal zu lesen bekamen, zwar schon viel Lob gehört, aber eben nicht eine solche, mich weiterbringende, Auseinandersetzung erfahren, aus der ich so viel lernen kann, und die mich vor allem auf die Fehler aufmerksam macht, die einfach aus der Betriebsblindheit entstehen, die sich einstellt, wenn man so lange an einem Text schreibt und in ihm lebt.

 

Hallo sim!

Auch diese Geschichte hast Du sauber hinbekommen – mein Kompliment! :thumbsup:

Einerseits gefangen von Deinen Wortspielen, andererseits bereits bedrückt vom „Lebens“beginn des Claus, ist dann das mit Günther schon ziemlich streng eingefahren... Klar, tut einem der dann noch mehr leid als Claus, aber daß Klaus auch nicht geliebt wird, hast Du meiner Meinung nach schon rüberbringen können. Ich bin da aber vielleicht kein Maßstab, weil ich mich ja viel mit dem Thema beschäftige...
Ich wünsche Dir, daß Du zu dem Punkt noch „Laienaussagen“ bekommst. ;)

Was ich ändern würde, sind die Tage der Schwangerschaft, also die Begnadigung nach 257 Tagen. Bei uns rechnet man eine Schwangerschaft mit 40 Wochen ab Beginn der letzten Regel. Also ziehen wir zwei ab, die bis zur Befruchtung vergehen, macht 38 Wochen x 7 Tage = 266 Tage – demnach wären die beiden nur neun Tage zu früh zur Welt gekommen, was bei Zwillingen kaum vorkommt und ihnen wohl den Brutkasten erspart hätte. Ich wäre da eher für 200 – 230 Tage.

Ganz besonders gefallen hat mir dieser Satz:

Es speichert nur die Tode in kleinen Kapseln, die zyankaligleich das Fühlen vergiften.

Zu Deinen Fragen:

Mein Gefühl dafür gebietet mir an dieser Stelle deshalb den männlichen Casus.
- mein Gefühl sagt, daß Du richtig liegst ;)

Ehe als lebenslang unbezahlter Beruf noch ehe das Leben beginnt.
Das ist schon besser verständlich als die erste Variante, allerdings kommt damit auch das Wortspiel nicht mehr so gut raus, wenn „ehe“ kleingeschrieben wird, weil es nicht mehr am Satzanfang steht. Vielleicht schaffst Du es ja, den Satz so umzustellen, daß er sowohl beginnt, als auch endet mit dem Wort „Ehe“? ;)

Noch ein paar Anmerkungen:

»Mein Omaclaus macht nicht in die Windeln, ist gelehrig uns schlau und gut in der Schule.“«
- gelehrig und schlau

»Einen Wunschclaus bitte, aber was sollte der Zweite?«
- der zweite

»Jeden Tag spürt er die Ungeduld der Frauen, die ärgerlich verschiedenen Kurven auf ein Blatt Papier kratzen.«
- verschiedene (ohne n)

»„So klein, aber Arbeit macht er für Zwei“, beschweren sie sich.«
- zwei

»Im dritten Geschoss«
- wärst Du Österreicher, könnte ich jetzt sagen „Geschoß“ – aber so muß ich mit Schmerzen in den Augen darüber hinwegsehen... :D

»Die Säuglinge versagen.
Die Säuglinge versagen ihren Dienst.«
- Hier würde ich „Die Säuglinge“ nicht wiederholen, nur ein „Versagen ihren Dienst.“ fände ich besser

»Erst als ihre Mutter ihr täglich zur Hilfe kommt«
- zu Hilfe (ohne r)

»Während die Oma den Claus auf dem Tisch wickelt, wird der Günther, so heißt der Eindringling jetzt offiziell, auf dem Fußboden versorgt. Der Claus bekommt die Flasche auf dem Schoß der Großmutter, eingebettet in ihren Armen,«
- Hier kommt es eventuell so raus, als würde Claus geliebt – vor allem durch „eingebettet in ihren Armen“. Würde vielleicht sowas wie „mit fachmännischem Griff“ stattdessen schreiben. Eventuell auch ein Hinweis, daß keiner von beiden gestillt wird?

»Günther liegt frei in seinem Bett, während Inge ihm am lang gestrecktem Arm den Säuger zwischen die Lippen presst.«
- „frei“ klingt irgendwie so positiv (- Freiheit) – Vorschläge: liegt in seinem Bett zwischen den Gitterstäben/in seinem Gitterbett/auf der harten Matratze
- am lang gestreckten Arm – obgleich ich zweimal mußte lesen, damit ich wußte, was Du meinst – „während Inge ihm mit lang gestrecktem Arm ...“ würde ich besser finden

»Sie reißt ihm ungeduldig das Gummistück aus der Schnauze«
- wenn Du es der Mutter in den Mund legst, ist „Schnauze“ ok, aber als Erzähler? Ich würde es zumindest in Anführungsstriche schreiben, eventuell mit einem Nachsatz „„Schnauze“, wie sie seinen Mund immer nennt, ...“

»reicht nur bis zum Gitter, erst von dort trudelt Günther wie ein netzgespielter Tennisball ...«
- würde nach „Gitter“ einen Punkt machen und einen neuen Satz beginnen

»plärrt, bis zum nächsten Hieb der hinterhergestürmten Mutter, aus Leibeskräften«
- die Beistriche könntest Du weglassen

»Abends saugt er sie manchmal aus Papas Schoß.«
- ähm, eher „auf“ Papas Schoß ;)

»Wenn der ... auf den rotschwarzen Sessel sitzt«
- auf dem

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Häferl,

vielen Dank für deine lobende Kritik, und vor allem für deine Notizen. Ich werde sie mir wie gewohnt kopieren und offline einarbeiten. (Dauert jetzt etwas länger als die letzten zwei Wochen, da mein Urlaub vorbei ist.)

»Abends saugt er sie manchmal aus Papas Schoß.«
- ähm, eher „auf“ Papas Schoß
In diesem Fall war das "aus Papas Schoß", so bitter es auch ist, sehr beabsichtigt. Einen noch deutlicheren Hinweis wollte ich nicht geben. :(

Lieben Gruß, sim

 

In diesem Fall war das "aus Papas Schoß", so bitter es auch ist, sehr beabsichtigt. Einen noch deutlicheren Hinweis wollte ich nicht geben.

Das ist jetzt der Hammer hintennach. Der noch um ein Vielfaches mehr einfährt wie der Rest. - Verzeih, daß ich das überlesen hab...

Alles liebe,
Susi

 

ich habe es ja auch wirklich nur zart angedeutet ;)

Die Korrekturlisten habe ich jetzt soweit durchgearbeitet.
Bei dem Begriff Schnauze, der natürlich der mütterlichen Terminologie entlehnt ist, bin ic mir unsicher, zumal ich ja hier zwei verschiedene Meinungen dazu gelesen habe.
Aber die Rechtschreibung und die Zeichensetzung sollte jetzt ok sein.
Vielen Dank noch mal.
Lieben Gruß, sim

 

Hey sim!

Der Text ist absolut gerechtfertigt in den Empfehlungen, ein toller, starker Text!
Wut und Traurigkeit kommen bei mir gleichermaßen auf beim Lesen des Textes. Günther und Claus, beide haben ein sehr schweres Leben vor sich. Claus, der die Erwartungen der Großmutter nicht enttäuschen darf und den die Eltern mehr oder weniger zu ihr abschieben, Günther, der niemanden hat, zu dem man ihn abschieben könnte.
Die von Häferl angesprochene Stelle ist dann wirklich die absolute „Krönung“… man möchte den Eltern jegliches Gefühl absprechen nach dem Lesen.
Natürlich sind es auch sie, die leiden, das stellst Du schon heraus bei dem Text. Viel bliebt davon allerdings bei mir als Leserin nicht übrig… Glücklich dürfte ausschließlich die Großmutter sein, genau so lange, bis sie herausfindet, dass Claus nicht ihren Vorstellen entsprechen wird, nicht kann.

Vom Stil her ist die Geschichte absolut genial geschrieben – Wortspiele, Satzbau, Wortwahl – einfach treffen. Ganz toll geschrieben – leider…

Schöne Grüße
Anne

 

Hallo sim,

ich bin zutiefst beeindruckt von deiner Geschichte und der festen Überzeugung, dass sie besser nicht hätte geschrieben und umgesetzt werden können.
Ich mag gar nicht so viel weiter dazu schreiben, weil ich immer noch mit meinen Emotionen kämpfe und versuche sie niederzuhalten.
Vielleicht reicht es auch erstmal, dass ich überhaupt mich melde.
Ich bin hocherfreut, dass du hier auf KG bist, deine Geschichte ist vorbildlich und gehört nicht nur in die Empfehlungsliste, sondern auch von jedem gelesen, der noch etwas dazu lernen möchte in Sachen "gute Geschichten schreiben".

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Maus, hallo lakita,

bei soviel Lob bin ich es auch ich, der sichtlich beeindruckt ist. Vielen Dank dafür.

Lieben Gruß, sim

 

Es speichert nur die Tode in kleinen Kapseln, die zyankaligleich das Fühlen vergiften.
DAS war für mich beim Lesen der herausragendste Satz, da er als einziger der ganzen Geschichte auch mal einen Blick auf die verherrenden gesellschaftlichen Folgen beschriebener, wie soll ich sagen, "Lebensweise" der Verantwortlichen ist.

Stilistisch sehr anspruchsvoll geschrieben; mit viel Zynismus beladen, der aber den Text souverän vor der Schwelle zu ungewollter Larmoyanz bewahrt.

Auf die wahre Bedeutung des Titels bin ich übrigens (auch) erst nach Häferls Irrtum gekommen. :(

 

Hallo Philoratte ;),

du hast recht, die gesellschaftlichen Folgen sind in dieser Geschichte etwas kurz gekommen, vielleicht auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die Eltern so prägen, dass sie so mit ihren Kindern umgehen.

Allein die Kosten für die jahrelange Therapie, die Claus und Günther irgendwann nötig haben, der eventuelle Ausfall auf dem Arbeitsmarkt durch die psychischen Folgeschäden. Wahrscheinlich würde das Problem von Kindesmisshandlungen viel konsequenter angegangen werden, wenn es aus dieser sozialwirtschftlichen Perspektive betrachtet werden würde.

Bei der Wahl des Titels war mir schon klar, dass man ihn auch als "Ersatzleben" interpretieren könnte, so als ob wir für das Original noch ein zweites hätten. ;)
Das wäre ja auch manchmal sehr schön ;)

Liebe Grüße, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim,
Ich habe die anderen Kommentierungen noch nicht gelesen, daher nur soviel:

Mir hat deine Geschichte gefallen. Deine Inge hat selbst als Kind neben ihrer Schwester um die Liebe ihrer Mutter kämpfen müssen. Die Sehnsucht nach der uneingeschränkten Liebe ihrer Mutter bestimmt die künftigen Verhaltensweisen in ihrem Leben, ohne dass es ihr bewusst wird. So schafft sie es mit ihrem erlernten Verhalten, eine Wiederholung ihrer negativen Erfahrungen, an ihre Söhne weiterzugeben.
Nur auf deinen Schluss konnte ich mir keinen Reim machen.
Der Ehemann bekommt keine Liebe von seiner Frau, der Sohn bekommt keine Liebe von der Mutter, und wird dann zum "Schwanzlutscher?" habe ich das richtig verstanden.


Liebe Grüße
Goldene Dame
:)

 

@ Goldene Dame

*Schwanzlutscher* ???? Hast du dich da nicht ein wenig unschön in der Wortwahl vergriffen? :rolleyes:

Im übrigen habe ich die Schlußszene völlig anders gelesen, nämlich so, dass dieses liebebedürftige Kind nun beim Vater etwas Liebe aus ihm saugen kann, aber nicht in Form eines tatsächlichen Saugvorganges, sondern eher wie wenn man bei jemandem Kraft und Hoffnung schöpfen kann. Da ist eben ein Vater, der sich ein wenig Zeit zum Beieinandersein nimmt, dieses wundervolle Gefühl saugt das Kind in sich hinein.

Hab ich es so richtig interpretiert, sim?

Lieben Gruß
lakita

 

@ lakita

das wort mag drastisch sein, ich wollte nur klargestellt wissen ob sim meinte, dass Günther auch noch vom Vater sexuell missbraucht wird.

LG
Goldene Dame;)

 

Ob drastisch oder nicht, ich jedenfalls hatte sofort den Eindruck du würdest im RL Homosexuelle als Schwanzlutscher betiteln und das hätte ich völlig daneben gefunden.
Wahrscheinlich tu ich dir da Unrecht, daher nichts für ungut.

 

Hallo lakita, hallo gloldene Dame,

ihr habt es beide richtig interpretiert, denn leider bleibt auch beim Vater für Günther wenig Hoffnung, auch wenn er den Missbrauch als ahnungsloser Säugling tatsächlich noch mit den von dir beschriebenen Gefühlen in sich einsaugt.
Diese Verwirrung der Gefühle ist es, die das Traumata so nachhaltig manifestiert.
Ich hatte, das das Thema ja kurz nachdem ich diese Geschichte hier veröffentlicht habe, hier recht häufig war, und sich daraus ja auch eine Diskussion über ausgelutschte Themen ergab, überlegt, diese Passage abzuändern. Ich habe mich dann aber für die Wahrheit entschieden, auch wenn sie manchmal so ist, dass man der Geschichte einen Hang zur Übertreibung attestieren müsste.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,


eine grauenhafte Vorstellung, dass Kinder aus solchen Gründen in solch ein Leben geboren werden. Und es geschieht nicht selten – ich weiß...

Ich kann nicht behaupten, ich hätte diesen trockenen, distanzierten Bericht über den Beginn des Lebens der Zwillinge Günter und Claus gerne gelesen – zu schrecklich ist, was sie erleben müssen, zu furchtbar die Vorstellung, man selbst hätte Pech und so eine Mutter haben können...

Gut gewählt hast Du für mein Gefühl die Sprache, die sich extrem von der in Deinen anderen, mir bekannten Geschichten unterscheidet. In vielen Sätzen reihst Du knappe, trockene Aussagen über die Situationen, die der Embryo (und später die beiden Kinder) vorfinden, nur durch Kommata getrennt aneinander. Lauter kühle Feststellungen. Das tat mir schon beim Lesen weh. Keine Wärme, nichts Behütendes – nur abweisende Kälte. Nicht nur in dem, was die Kinder erleben, sondern auch im Schreibstil. Das halte ich für sehr gelungen!

Was mir auch aufgefallen ist, ist, dass Du viele „Wortspiele“ verwendest. „Wolfgang verwöhnt, Inge gewöhnt sich“ und „...Begattung gestattet hatte...“ erwähne ich nur als zwei Beispiele.

Sehr eindringlich der Satz: „Es speichert nur die Tode in kleinen Kapseln, die zyankaligleich das Fühlen vergiften.“

Gut gewählt hast Du den Titel, finde ich. Claus’ Leben ist ein Ersatz für Großmutters Kind, das sie nie hatte und für Inges Kind, das sie nicht war. Und Günters Leben wird sich zu einer Ansammlung von Ersatzbefriedigungen entwickeln. Alles wird Ersatz sein für echte Liebe, echtes Leben.

Unendlich traurig.

Barbara

 

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