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Ein Leben als Ersatz - Willkommen
Noch namenlos, bis auf das Geschlecht strukturlos, gerade eben befruchtete Eizelle, eingenistet in eine glitschige Gebärmutterwand, nimmt er seinen Dienst auf, seine Bestimmung an.
Es hätte ja etwas passieren können.
Die Stricknadel beispielsweise, geduldig in den Flammen des Gasherdes steril erhitzt, hätte den Claus
beinahe erstochen, verfehlte um Haaresbreite sein embryonales Herz.
Die Kante der Treppenstufe knallte erbarmungslos in sein Rückgrat, sodass der Claus wie von Gummibändern bewegt durch die Gummizelle seines mütterlichen Knast geschleudert wurde.
Keimzelle, Eizelle, Gummizelle, Todeszelle?
Zur Geburt begnadigt nach 257 Tagen?
Zum Leben verurteilt?
Nicht vorgreifen, bitteschön!
Als Stricknadel und Treppensturz nichts halfen, als kein Tropfen Blut bereit war, die Weißwäsche zu verkrusten, als sich alle Versuche, etwas zu ändern als ergebnislos erwiesen hatten, wurde die Chance erkannt, wurde Claus Bestimmung auch im Wissen der Mutter festgelegt, lange, nachdem die Bestimmung der immer noch namenlosen Eizelle schon manifestiert war.
Claus’ Aufgabe ist es, Claus zu werden, der Claus, der Marianne nicht hatte werden können, der Mariannes Mutter vorenthalten blieb, obwohl sie sich ihn so sehr gewünscht hatte.
Endlich der unendliche Sieg über die noch sterile Schwester, der nicht einzuholende Triumph, endlich zusammengespart der Kaufpreis für mütterliche Liebe.
Was gibt es noch zu bedenken?
Dieter muss mit seinem Leben bezahlen, muss Gatte werden, nachdem sie ihm die Begattung gestattet hatte.
Sie muss den Laufpass zurückverlangen, ausgestellt nach Verlass auf die Fieberkurve, die zum, sich erst nun als richtig erweisenden, falschen Zeitpunkt männliche Überlagerung empfohlen hatte.
Verlobung, Entlobung, Verlobung, Trauung, Clauszeugungs-Pflicht, möglichst ohne Verkehr.
Versorgungs-Pflicht, ohne die Zweizimmerwohnung verlassen zu müssen.
Anwesenheits-Pflicht, ohne geliebt zu werden. Lebens-Pflicht ohne eigenes Leben.
Ehe das Leben beginnt Ehe als lebenslang unbezahlter Beruf.
Dieters Berufung.
Mariannes Berufung.
Haushälterin, Zugehfrau, Amme, Kindermädchen, Minna, echte geliebte Perle, innigst geliebte Frau, die sich immer nur als Klunker empfindet.
Konsequenz einer kitschigen Liebesszene, Dieter kann sich nicht abfinden mit der plötzlichen Entlobung, fühlt sich zu treu ergeben, liebeskrank, will einen Grund für dieses launische Wechselspiel, geht per pedes vom Schulterblatt zur Osterstraße, Marianne abzuholen von ihrem Arbeitsplatz.
Marianne, nachdem sie die Möglichkeit des in ihr reifenden Claus erkannt hat, will ihrerseits den Erzeuger binden, nicht dass sie ihn lieben würde, er ist schließlich ein Mann, aber er liebt sie, widerspricht nicht, und wenn sie nicht will, lässt er die Finger von ihr. Ab und zu wird sie wohl wollen müssen, gehört ja zur Liebe dazu, wenn es auch nicht schön ist. Marianne macht sich in ihrer Erkenntnis also auf den Weg vom Blumengeschäft in der Osterstraße zur Schlachterei am Schulterblatt.
Begegnung unterwegs, sich schüchtern an den Händen fassen: „Ich bekomme ein Kind, jetzt musst du mich heiraten.“
Sie trauen sich nicht, aber sie lassen sich trauen, Dieter verwöhnt, Marianne gewöhnt sich, himmelschreiendes Ja als Eheverpflichtung, jubilierendes Ja zum Leben ohne Liebe.
Welche Frucht wächst aus mit Fleisch gekreuzten Blumen? Was entsteht aus der Allianz des Schlachtergesellen mit der Blumenbinderin? Kompromissgemüse, nur gar gekocht genießbar?
Der Name Claus steht fest, das männliche Geschlecht, die Befriedigung als Zweck seiner Existenz.
Irgendwann im November wird er ausgestoßen.
„Sei Claus! Sei so, wie ich glaube, dass Großmutters WunschClaus ist!“
Mein Claus schreit nicht, bockt nicht, ist artig und gehorsam, ist höflich und fleißig, weich und anschmiegsam und produziert seine Früchte zu meiner Erfüllung.
Mein Omaclaus macht nicht in die Windeln, ist gelehrig und schlau und gut in der Schule.“
Wunschkinddasein als vorgehaltene Verpflichtung, Muttersehnsucht als Knüppel zwischen den Beinen.
Wunschclaus, Santaclaus, Cläuschen, C-Läuschen.
Laus, Maus, raus! Nieclaus.
Der Charakter: ein Ziel, vorgeschrieben und unerreichbar.
Für die Niederkunft wird ein teures Privathospital gewählt, besonders gut soll es Marianne haben, wenn sie Mutters Claus zur Welt bringt, an den Claus wird dabei weniger gedacht.
Die Lampen im Kreissaal blenden das neue Leben nicht weniger als anderswo, die medizinische Ausrüstung ist eher schlechter, nur der Service für die junge Dame lohnt die Finanzierung aus eigener Tasche.
Das Kind strampelt sich aus seinem ersten Gefängnis in das zweite, jenes des festgelegten Wesens, welches es von heute an zu sein hat, nicht zu werden, zu SEIN.
Schreiend und hässlich findet es sofort mütterliche Enttäuschung vor, wird kaum eines erschöpften Blickes gewürdigt, während die Krankenschwester ihm ein farbiges Band um den Arm bindet. Die Nabelschnur wurde kalt und brutal, also fachmännisch, sofort nach dem ersten Ton getrennt, dann ging es ab in den sterilen verkabelten Brutkasten. Ein wenig wundern darf er sich noch, der Claus, wundern über den abstoßenden, weiterhin schmerzgebeugten Körper, dem er entronnen, über den erstaunten Ausruf des Arztes. Kann es wirklich sein, dass niemand wusste, was er schon seit dem Beginn seiner Existenz weiß?
„Huch, da kommt ja noch einer!“, hört er deutlich.
Natürlich kommt da noch einer. Zwar hatte er sich versteckt, im äußersten Winkel der Gebärmutter, hat sich so gut wie möglich unsichtbar gemacht, ruhig verhalten, wurde von keiner Stricknadel bedroht, von keiner fühlenden Hand beklopft, von keinem Stethoskop auf seine Herztöne hin belauscht, doch so gut hat sich dieser Wurm nun auch wieder nicht verborgen, dass er unbemerkbar gewesen wäre. Er, der Claus, hat ihn doch auch registriert, schon weil der trotz aller Vorsicht immer im Weg war, wenn man sich zum Beispiel vor scharfen Treppenkanten in Sicherheit bringen musste.
Natürlich kommt da noch einer, schafft es leider nicht, so unbemerkt auf die Welt zu fallen, wie er entstanden und gereift ist, flutscht leider nicht so einfach durch die noch geweitete Öffnung, sondern verlängert das Leiden um qualvolle zehn Minuten.
Was soll man mit ihm anfangen, entnabelt und nackt, wie er da auf dem kalten Metalltisch liegt und darauf warten muss, dass ein zweites Säuglingsterrarium sterilisiert wird.
Eine Krankenschwester begibt sich hektisch auf die Suche nach einem andersfarbigen Band, wenigstens an der Farbe am Handgelenk sollte man sie ja unterscheiden können.
Marianne kann doch nur einen Claus gebrauchen, mehr hatte sich ihre Mutter nicht gewünscht. Einen Wunschclaus bitte, aber was sollte der zweite? Seine Bestimmung war doch nur Claussicherheit gewesen, sein Zweck war doch nur, da zu sein, falls dem Claus etwas passiert wäre, falls er den Weg aus der Mutter auf die Mutter Erde nicht überstanden hätte.
Seine Existenzberechtigung war doch schon vor der Geburt erloschen. Was will er noch hier?
Wie ein Ei im Labor liegt er künstlich beatmet unter der Wärmelampe. Irgendwann vielleicht würde seine Schale platzen und ein brauchbares Etwas könnte entstehen. Momentan ist er nur der Beitrag zur hundertprozentigen Inflation der Kostenerwartungen einer Kleinfamilie, der Zerstörer persönlicher Ziele und finanzieller Planungen, unvorhergesehener Faktor in der Rentabilitätsrechnung.
Was sollen sie anfangen mit diesem Bündel an Erwartungen. Es muss genährt und gekleidet werden. Schließlich kann man es nicht so einfach verhungern lassen, wie man eine Treppe runterfällt.
Marianne duscht behaglich im warmen Wasser mitleidender Aufmerksamkeit. Lachsfarbene Gerbera stehen vor der Tür ihres Krankenzimmers. Blumen haben in derart sensiblen Räumen keinen Zutritt. Die Gratulanten sehen die Arbeit, die Mühsal, die auf Marianne zukommt, sehen die Geburtsschmerzen, die sie überstanden hat, bringen Gesellschaft für die Gerbera, jeder neue Strauß ein bisschen bunter, ein bisschen schicker, als ob alle Kolleginnen ihre Gesellenstücke an Mariannes Wochenbett tragen.
Dafür dürfen sie einen Blick in die Brutkästen werfen.
„Der mit dem roten Band ist Claus.“ Ein zweiter Name ist ihr noch nicht eingefallen, er ist eigentlich auch egal, Hauptsache, er passt zu Claus. Sie müssen doch zusammen gut klingen, die Namen. Marianne hätte ja gepasst, aber auch der Ersatzclaus ist kein Mädchen, trotz des rosa Bands um sein Handgelenk.
Vorläufig wird er als Eindringling bezeichnet und vorgestellt, ein nervöses abmilderndes Lachen schwingt dabei mit, doch dieser ureigene Name ist das ehrlichste, was dieses Bündel im Laufe seines Lebens zu hören bekommt.
Die Zellen haben sich zu einem zweitausend Gramm schweren Säugling zusammengefunden, Form und Struktur gebildet, die der Brutkasten zu einem kompletten Baby zusammenbacken muss. Noch immer namenlos wird es auf ein höheres Gewicht gepäppelt, täglich gewogen, für zu leicht befunden, immer wieder für unzureichend erklärt.
Jeden Tag spürt er die Ungeduld der Frauen, die ärgerlich verschiedene Kurven auf ein Blatt Papier kratzen. Sie brauchen den Kasten, brauchen vor allem die Zeit, die sie ihm widmen müssen, für dringendere Aufgaben.
„So klein, aber Arbeit macht er für zwei“, beschweren sie sich.
Der Claus nimmt auch nicht schneller zu, doch seine Kurven werden behutsam von Tag zu Tag verlängert und von besorgten Kommentaren begleitet, von aufatmender Erleichterung über jeden Fortschritt, den er macht.
Noch bevor ihre Produkte das vorgeschriebene Mindestgewicht erreicht haben, muss Marianne das Wochenbett räumen, muss zurück zu Dieter, zurück in die Zweizimmerwohnung, die liebevoll und muttergerecht umgestaltet wurde.
Ihr gefällt nichts. Die Zwillingskarre muss wieder getauscht werden, von Vorwürfen begleitet, was ihm, Dieter, denn einfiele, eigenmächtig irgendetwas zu besorgen. Noch aus dem Krankenbett hatte sie ihn losgejagt, er müsse doch wohl in der Lage sein, etwas Passendes zu finden.
Die Bettchen hatte er zu nah aneinander gestellt, den Wickeltisch findet sie überflüssig, eine Wachstuchdecke hätte es auch getan.
Geduldig wiederholt Dieter die geleisteten Wege noch einmal mit ihr, tauscht, sucht, fragt, liebt, um immer wieder abzublitzen.
Marianne möchte jetzt endlich ihren Claus haben, möchte ihn bei sich in der Wohnung, in der Karre, auf ihrem Arm. Wozu die Schmerzen, wozu der Verkehr, wozu die lebenslange Belastung mit einem Mann, wenn man doch nichts stolz Vorzeigbares in der Hand hat.
Die erste Enttäuschung hat sie vergessen. In Abwesenheit ist ihr Claus das schönste Baby der Welt, kein schrumpelig rotes Gesicht, keine verklebten, noch ewig geschlossenen Augen.
Im dritten Geschoss, eingesperrt in ihren zwei Zimmern, sieht Marianne ein nie gelächeltes Lächeln, sieht es aus dem für Claus bestimmten Bettchen quellen, lässt es sich allmorgendlich entgegenströmen. Ein Lächeln hellt die Novemberwolken auf.
Dieter muss vor dem Aufstehen zur Arbeit, hat zur Feier der Geburt von seinem Chef die Leitung einer Filiale, ein bisschen mehr Gehalt und viel mehr Überstunden übertragen bekommen. Er zerlegt die Einbahnstraßenliebe in Filet und Eisbein, verhackt sie im Fleischwolf, haut sie als Beil mit aller Kraft durch widerspenstige Kasslerknochen, enthäutet und verwurstet sie, verkauft sie sorgsam verpackt an Rentnerinnen und junge Mütter.
Abends bringt er die edelsten Stücke mit, bringt Fürsorge und Geduld in das Heim, dessen Wände vor Unzufriedenheit schreien. Jeden Morgen treibt ihn der Schrei aus dem Haus, nicht ohne ein schlechtes Gewissen mitzunehmen, jeden Abend trägt ihn die Hoffnung zurück, ein Teil seiner Liebe hätte sich in den Raufasertapeten verfangen und würde von dort durch die Wohnung strahlen. Auch Dieter wartet auf die Ankunft der Kinder, glaubt fest an das liebevolle Leben, mit dem sie Marianne erfüllen könnten, die Wände und die Luft der Räume.
Die Säuglinge versagen, versagen ihren Dienst.
Endlich da, erfüllen sie nicht die Räume mit Liebe, sondern mit Geschrei nach Nahrung und Fürsorge und die Windeln mit dünnflüssigem, Ekel erregendem Kot.
Kein Mensch hat Marianne gewarnt, wie schwer es ist, hilflose Bündel zu lieben, deren Schreie durch das ganze Treppenhaus gellen und sie vor den Nachbarn blamieren. Niemand hat ihr gesagt, wie viel Überwindung es kostet, die stinkenden Windeln zu wechseln und zu waschen.
Eine Zeit lang reißt Marianne sich zusammen, befolgt die Gebote ihres Claus, notgedrungen sogar die des Eindringlings, doch das Gebrüll hört nicht auf. Erst als ihre Mutter ihr täglich zu Hilfe kommt, sich des Wunschclaus annimmt und sie zur Gerechtigkeit dem anderen Kind gegenüber ermahnt, dafür sorgt, dass ihm ein eigenes Fläschchen mit Nahrung gefüllt wird, wird die Luft stiller.
Während die Oma den Claus auf dem Tisch wickelt, wird der Günther, so heißt der Eindringling jetzt offiziell, auf dem Fußboden versorgt. Der Claus bekommt die Flasche auf dem Schoß der Großmutter, eingebettet in ihren Armen, Günther liegt zwischen den Gitterstäben in seinem Bett, während Marianne ihm mit lang gestrecktem Arm den Säuger zwischen die Lippen presst.
Günther spielt, lutscht, saugt und spuckt, schluckt ab und zu etwas herunter, sucht sich sein Vergnügen an einem Gummistück.
Der gesättigte Claus wird durch die kleine Wohnung getragen, in Erwartung eines Bäuerchens, doch Marianne bekommt einen lahmen Arm und Wut auf die noch halb volle Flasche. Kann sich dieser Balg nicht gefälligst beeilen?
Aber sie muss den Claus ihrer Mutter lassen. Für sie hat sie ihn ja schließlich auf die Welt gebracht. Bei ihr ist er auch immerhin brav, schreit nicht, lässt sich geduldig hin und her wiegen, ohne Zicken zu machen. Wenigstens vor ihrer Mutter blamiert er sie nicht.
Nur der Eindringling ist störrisch wie ein Esel, undankbar für ihre Mühe mit ihm, boshaft und ständig unzufrieden. Muss man sich das eigentlich gefallen lassen? Was hat Marianne verbrochen, dass ihre Kinder sie nicht lieben? Warum ist der Claus bei ihrer Mutter artig und ruhig? Warum ärgert der Günther sie absichtlich mit dieser blöden Flasche?
Sie hört den Claus in der Küche lachen, hört den laufenden Wasserhahn, der in vergnügten Abständen durch die spielenden, forschenden Finger ihres Sohnes unterbrochen wird.
Vielleicht sollte sie sich Günther auch auf den Schoß legen, vielleicht beeilt er sich dann mit dem Trinken?
Sie reißt ihm ungeduldig das Gummistück aus der Schnauze, entfacht einen wütenden Protestschrei. Dessen ungeachtet greift sie das Bündel und packt es hart auf ihre Schenkel: „Jetzt friss endlich, du verdammtes Luder, oder willst du verhungern, damit ich endgültig als Rabenmutter dastehe?“
Marianne möchte doch endlich, ihre Kinder weiß und wohl verpackt, die Zwillingskarre auf die Straße schieben und die respektvollen Blicke der fremden Passanten auf ihre Produkte genießen. Doch der Eindringling achtet ja nicht auf ihre Bedürfnisse. Ihre Wünsche sind ihm egal. Anscheinend hat er vergessen, wie vergnügt er immer lacht, wenn wildfremde Frauen ihn am Hals kitzeln.
Er saugt im Zeitlupentempo, nur um ja nicht auf die Straße zu müssen, schreit und spuckt den gerade aus der Flasche gelutschten Schleim auf Mariannes frisch gebügeltes Kleid.
Marianne war nie eine gute Sportlerin, und der Stoß, mit dem sie die brüllende Kugel nach mehreren heftigen Schlägen in ihr Gitterbett befördert, ist zu kurz, reicht nur bis zum Gitter, erst von dort trudelt Günther wie ein netzgespielter Tennisball auf die Matratze, plärrt, bis zum nächsten Hieb der hinterhergestürmten Mutter aus Leibeskräften, dann ist er stumm. Die Oma kommt mit dem Claus in das Zimmer zurück, sieht den still liegenden Kerl in seinem Bettchen, ihre Tochter mit der halbwegs akzeptabel geleerten Flasche und atmet auf: „Ich dachte, es wäre etwas passiert.“
„Nein, es ist alles in Ordnung.“ Marianne hält unauffällig ihre Hand vor Günthers Atemorgane, spürt einen regelmäßigen Luftzug, Erleichterung und etwas Scham. „Wir können jetzt endlich spazieren gehen.“
Atmung und Herzschlag kontrollieren, unverdächtig bleiben, unbemerkbar funktionieren, Günther lernt viel an diesem Mittag. Spaß wird er nur haben, wenn er so tut als hätte er Spaß, geliebt wird er sich nur fühlen, wenn er keinen Ärger macht. Doch das zu beherrschen wird ein langer, qualvoller Weg voller Rückschläge, voller Misserfolge für ihn werden. Nobody is perfect. Er, Günther, schon gar nicht.
Jede Erfahrung ist ein kleiner Tod, kein beunruhigender Tod, der die Atmung für ewig blockiert, kein Tod, der sofort festzustellen wäre. Das Herz hört nicht auf zu schlagen, es gewinnt nur eine dauerhafte Verkrampfung hinzu, die Atmung wird für einen sehr kurzen Moment asthmatischer, bis das neue Leben sie wieder ruhig und gleichmäßig übernimmt. Das Gehirn versagt nicht seinen Dienst.
Es speichert nur die Tode in kleinen Kapseln, die zyankaligleich das Fühlen vergiften.
Der Tod hält die Funktionen aufrecht, hilft beim Überleben, schützt und härtet ab.
Günther stirbt seinen ersten Tod an der Kante seines im Schatten stehenden Kinderbettes, kurz bevor Marianne, einen Luftzug aus seinem Mund vernehmend, den ersehnten Spaziergang herbeiredet, kurz bevor er blütenweiß verpackt in der Zwillingskarre durch die Straßen geschoben wird, um die Gerüche fremder Hände unterscheiden zu lernen.
Günther lernt, durch Sterben weiter zu leben, durch die eigene Vernichtung zu existieren, lernt, dass neues Leben von seiner Hülle Besitz ergreift, wenn er sie verlässt.
Mit jedem seiner Tode gibt er neuen Wesen die Chance, die an ihn gestellte Aufgabe zu erfüllen. Irgendwann vielleicht würde er nicht mehr sterben müssen. Dann wird er eventuell geliebt.
Sein erster Tod bleibt unbemerkt, der routinierte Tagesstress folgt dem gewohnten Ablauf. Die Flasche für Claus im Schoß der Großmutter, die an Mariannes ausgestrecktem Arm für Günther.
Günther trödelt nicht mehr beim Essen, in diesem Punkt ist auf ihn Verlass. Er saugt sich so genussvoll es eben geht, die Liebe aus der Flasche.
Abends saugt er sie manchmal aus Papas Schoß. Wenn der, nach einem anstrengenden Arbeitstag, in blauer Turnhose und Unterhemd auf dem rotschwarzen Sessel sitzt, und sich Vorwürfe anhören muss, nimmt Günther an Papa lutschend den Sinn seines Lebens an, ein Ersatz zu sein, eine Ersatzbefriedigung. Könnte ein Start ins Leben einen besser vorbereiten?
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