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Serie Ein Leben als Ersatz - Schuld und Strafe

sim

Seniors
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13.04.2003
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Ein Leben als Ersatz - Schuld und Strafe

Nicht jeder Tag beginnt in der gleichen Art, nicht an jedem Morgen wacht Günther mit den gleichen Ängsten auf, mit den gleichen Hoffnungen und Sehnsüchten.
Manche Tage beginnen auch schuldbewusst, voller Scham über das Verbotene, das noch unentdeckt in Günthers Gewissen schläft, auch wenn es schon Vergangenheit ist.
Verboten sind zum Beispiel die Träume, die ihn am Schlafen hindern und ihm von einer Welt erzählen, in der die Eltern von einer Autofahrt nicht zurückkommen werden. Günther stellt sich vor, dann bei Harald unterzukommen, mit ihm, statt mit den Brüdern das Zimmer zu teilen, ihm beim Schlafengehen zuzuschauen, wenn er sich seinen Pyjama anzieht. Harald ist der einzige Junge in Günthers Klasse, mit dem er sich versteht. Sie spendieren sich manchmal einen Kakao aus dem Schülerladen. Doch jeder Versuch, sich mit ihm einmal für einen Nachmittag zu verabreden, scheitert an Haralds Zeit.

Dieser Tag beginnt mit der Qual der Angst vor Entdeckung.
Als Günther den Radiowecker hört, der seine Eltern aus dem Schlaf holen soll, springt er auf, läuft ins Bad, um Marianne zuvor zu kommen, als Erster unter der Dusche zu stehen, den harten Strahl des Wassers über sich ergehen zu lassen und die Spuren des Verbotenen von sich abzuwaschen.

Es ist nicht gut, Günther zu heißen. Günther heißt kein Kind. Kinder heißen Frank oder Thomas, Heiko, Michael, Martin. Sie können auch Claus oder Dirk heißen, aber Günther dürfen sie nicht heißen. Günther zu sein ist eine Strafe, die weitere Strafen verdient, wenn sich der Bann der Franks und Heikos, der Michaels und Martins über ihn legt.
Einen Günther darf man bespucken und treten, man darf ihn in den Schwitzkasten nehmen, ihn bloßstellen und ihn im Jungenklo überfallen, ihm die Hose runterzerren und dann die Mädchen rufen, sogar die Mädchen, die Regine heißen, was ungefähr genau so schlimm ist, wie Günther.
Manchmal gibt es andere Opfer, manchmal darf auch Günther auf fremden Schultern sitzen, und sie niederdrücken. Oder er wird aufgefordert, einem anderen den Hosenknopf zu öffnen, den Reißverschluss herunterzuziehen und die Hose zu den Knien zu zerren, über angespannt strampelnde Oberschenkel, die versuchen, sich zu befreien von der Last der auf ihnen sitzenden Klassenkameraden. Dann bildet Günther sich ein, dazu zu gehören. Und wenn er sieht, dass die anderen Opfer trotzdem beim Tip-Tap gewählt werden, legt er sich das nächste Mal freiwillig hin, dann gefällt ihm, wenn sie ihn sehen und zeigen wollen. Günther gehört dazu. Er gewöhnt sich Sprüche an, mit denen er sie bedenkt, wenn sie sich über ihn hermachen. Er wähnt sie neidisch auf seinen Haarwuchs, auf die Größe seines Schwanzes oder auf seine freie beschnittene Eichel.
Trotzdem ist er beim nächsten Tip-Tap wieder der Letzte. Günthers werden nicht gewählt, sie werden knurrend genommen, weil es Lehrer gibt, die aus unerfindlichen Gründen darauf bestehen, dass man auch mit diesem Namen mitspielen darf. Diese Ungerechtigkeit des Lebens muss bestraft werden, erst recht, wenn Günther, ins Tor verbannt, den Elfmeter nicht hält. Dann dürfen sich alle an der Rache beteiligen, auch das siegreiche Team.
Dann dürfen ihm die Töchter und Söhne der Anwälte und Ärzte im Klassenzimmer auflauern und es ist nicht damit getan, allen in der Toilette zu präsentieren, was sie ohnehin schon von dem täglichen Spiel kennen. Ist Angst eigentlich auch eine Erregung, die zur Versteifung der Glieder führen kann?

»Na meine Pissnelke, so früh schon auf?«
Die Taktik scheint zu funktionieren. Die Mutter setzt sich auf die Toilette und singt ihm froh gelaunt Beleidigungen unter das laufende Wasser.
»Ja, ich konnte nicht mehr schlafen.«
Vielleicht würde sie ja vorher zu den Brüdern gehen, solange er noch unter der Dusche steht. Sie geht doch immer zuerst zu den Brüdern. Aber sie kann Günther durch die milchigen Plastikscheiben der Brause zu gut beobachten. Sie kann zu gut sehen, wie er die Schuld von sich abzuwaschen versucht, die Spuren seiner Verfehlungen von sich zu scheuern will. Sie bekommt mit, wie heftig er an sich rubbelt, um sich zu reinigen. Schließlich ist ihr Kopf auf gleicher Höhe, wenn auch durch mattes, dampfbeschlagenes Plastik getrennt. Sie braucht nur geradeaus zu schauen, um zu bemerken, wo sich ihr Sohn wie wild reibt.
Sie schweigt, bis sie die Spülung betätigt und ihr Nachthemd wieder nach unten gezogen hat, aber zum Waschen der Hände nimmt sie sich keine Zeit, bevor sie die Öffnung der Duschkabine zur Seite schiebt und frontal auf Günthers Schuld starrt: »Was machst du da eigentlich?«

Sie haben sich etwas Besonderes ausgedacht. Wenn man Günther heißt, hat man nicht lebenslangen Anspruch auf die öffentliche Verschwiegenheit dunkler Schultoiletten. Dann kann man sich nicht immer auf kalten grauen Fliesen auf den Fußspuren matschiger Schuhe betten, während man pubertäre Fantasien erfüllt. Als Günther muss man irgendwann ins Licht gezerrt werden, auf die Bühne eines Schultisches, dessen Kante hart in den Hinterschädel des Jungen drückt, wenn die Klassenkameraden diesen an den Haaren draufknallen. Jeder hat ein Recht auf Günther, schon, weil er den Elfmeter nicht gehalten hat, weil er ein Weichei mit großer Klappe ist und weil er doch schließlich seinen Spaß haben soll.
Zuerst schieben sie ihm nur das T-Shirt hoch, bis weit über die Brustwarzen, reichen einen schwarzen Edding herum, mit dem sich jeder auf Günthers Bauch verewigen darf. Jeder darf ihm darauf schreiben, was er von einem Günther hält. Jeder darf lachen, wenn sie die Bemerkungen vorlesen. Erst, als das langweilig wird, oder als Günthers Kraft zum Widerstand vor Kopfschmerzen erlahmt, ziehen sie ihm die Hosen herunter, so weit, dass sich die Tischkante auch in das Fleisch seiner Schenkel schneidet.
Es sind zu viele. Günther hat keine Chance.
Wenn er stillhält, lassen die Schmerzen nach. Also lässt er alles über sich ergehen, bleibt einfach liegen, würde wohl selbst dann liegen bleiben, wenn ihn niemand mehr festhielte. Der Stift, der immer noch die Runde macht, lässt den Jungen Böses ahnen.
Warum schießt ihm so viel Blut in den Schoß, als jemand mit einer Schere in der Gegend fuchtelt? Warum schwillt ihm die Schuld so an, als dieser Jemand sie mit festem Griff zur Seite legt, und das Schamhaar abschneidet? Findet er es geil, wenn sich die um ihn stehende Meute an ihm ergötzt?
Einer steht an der Tür, nicht nur, um rechtzeitig vor dem Eintreffen des Lehrers zu warnen, sondern auch, um jeden daran zu hindern, das Klassenzimmer zu verlassen.
Zwischen all den Gesichtern, die ihn anglotzen, steht Harald, der Einzige, der versucht hat, aus dem Raum zu entweichen. Ihm drücken sie jetzt den Edding in die Hand und fordern ihn auf, Günthers Schwanz zu verzieren, ihn schwarz glänzend anzumalen, während andere ihn festhalten. Harald zögert. Sein Widerspruch, seine zaghafte Weigerung führt zu einem reißenden Schmerz, als Günthers Hinterkopf mit einem kräftigen Ruck auf die Tischkante geknallt wird. Solange, bis er selbst Harald bittet, es zu tun. »Der ist so pervers«, sagen sie Harald. »Du tust ihm einen Gefallen. Siehst du nicht, wie sehr er ihm steht?«
Zaghaft führt Harald den Edding in der Hand, malt über die faltigen und haarigen Hoden und den immer noch steifen Schwanz. Für jedes Zaudern, jedes Absetzen wird Günther bestraft. Die Tinte des Edding brennt, als sie sich auf Günthers Eichel mit Vorsaft verbindet, doch was die Qual des Jungen in verwirrende Schuld, in unglaubliche Scham verkehrt, ist, dass er so festgehalten, so präsentiert und bloßgestellt vor den Augen seiner Klassenkameraden, vor den Jungen und den Mädchen, einen Erguss hat, dass es nicht nur die Schmerzen sind, die ihn laut aufstöhnen lassen, als der Filzstift in Haralds Hand seine nackte Eichel berührt.
Warm und klebrig schießt ihm die Soße auf den Bauch just in dem Moment, als der Warner an der Tür den Lehrer ankündigt, zum Glück rechtzeitig genug für Günther, sich die Hose wieder hoch zu ziehen. Den Knopf muss er noch unauffällig verschließen, als er schon an seinem Tisch sitzt.
Es bleibt keine Zeit für höhnische Kommentare. Derer bedarf es auch nicht, damit Günther sich schmutzig, pervers und schuldig fühlt. Wahrscheinlich haben alle recht, wenn sie ihn so behandeln. Er verdient es nicht besser.

Die Mutter sieht, was er macht, ihre Frage ist überflüssig, aber sie sieht es nicht genau genug, jedenfalls nicht solange sie nicht den Waschlappen, den sich ihr Sohn verzweifelt vor seine Schuld hält, fort reißt.
So sehr sich Günther bisher auch bemüht hat, die Farbe war nicht zu entfernen gewesen, hatte sich nur in ein schmutzig blasses Dunkelgrau verwandelt.
Mariannes Entsetzen findet keine Worte, keine Fragen, nur Taten. Sie schlüpft vor Zorn rasend aus ihrem Nachthemd, greift nach einem Bimsstein, bevor sie sich zu Günther in die Duschkabine zwängt und mit festem Griff dessen schon wund gescheuerten Hoden umklammert. Erst als sie den Stein ansetzt, findet sie ihre Sprache wieder, kann ihre Wut hinausbrüllen und Günther als die Drecksau bezeichnen, die er ist.
Es ist möglich jemandem mit einer Hand die Eier zu zerquetschen, und ihm mit der anderen den Arsch zu versohlen, es ist sogar einer Mutter möglich, wenn sie sich um die Sauberkeit des nur ihr gehörenden Kinderschwänzchens betrogen fühlt, wenn sie begreift, dass auch aus der kindlichen Unschuld nur ein Stab der Ungerechtigkeit wird, wenn die Söhne alt genug werden. Irgendwann sind sie so bedrohlich wie ihr Erzeuger.
Marianne möchte nicht wissen, woher die Farbe kommt. Sie hat von Günthers Spinnereien die Nase voll, listet mit jedem Strich, den sie ihm in sein Geschlecht reibt seine Ausfälle auf, steigert sich immer mehr in Rage, während sich die Brüder unter den Decken und der Vater in der Spülmaschine verkriechen.
Günther ist froh, dass sie es so sieht. So bleiben ihm peinlichere Fragen erspart. So braucht er nur zu antworten, dass er sich nichts dabei gedacht habe und eine schallende Ohrfeige in seinem nassen Gesicht zu ertragen.
Aber was sind schon Schmerzen?
Es ist nicht möglich, wasserfesten Filzstift mit einem Bimsstein rückstandslos zu entfernen, so sehr man dabei auch keift, um die Schreie des Kindes übertönen und ignorieren zu können.


Wenn sie Günther in der Schule heute die Hose herunterziehen, werden sie erschrecken.

Ein Leben als Ersatz - Willkommen
Ein Leben als Ersatz - Rechnen lernen
Ein Leben als Ersatz - Das Morgengrauen
Ein Leben als Ersatz - Die Ohrfeige

 
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Sim,


bist ein Großer!

Ein tolles Teil, mit jeder Menge Tiefgang. Mann, mann mann, was man da alles rausholen kann. Und es ist ein Thema, das Fernsehen so nicht bieten kann. Und es ist echt, nicht unealistisch oder so weit hergeholt wie manche´meinen. Wahrlich, sim.
Wer liest schreibt nicht. Für mich gilt das. Ich werde mal eine Pause einlegen. Denn in den Pausen tritt der Lerneffekt ein, nicht beim Schreiben, wenn man gleich alles raushaut, was langsam gedeiht. Und noch mal, bin ein wenig deprimiert, dass du die große Sache noch nicht gepackt hast. Gut, die packt man heute eh nicht mehr, mag man sagen, aber wirklich, mir ist gerade wieder klar geworden, dass ich lieber lese, als schreibe.

 

wow
erst mal tief luft holen.
ich habe wirklich gespührt, was günther mitgemacht hat,bei der geschichte würde ich gern noch den weiteren Lebensweg des günthers lesen, noch mehr.

 

Lieber sim!

Deine Geschichte greift wieder mal einige unangenehme (Tabu-)Themen auf, die einem sehr unter die Haut gehen. Das find ich verdammt gut, denn über solche Themen traut sich kaum jemand zu sprechen (vor allem selten die, die wirklich wissen, wie es sich anfühlt, so gedemütigt zu werden). Es braucht immer Mutige, die voraus gehen, um den Weg für ein offeneres Reden über solche Themen zu ebnen. :)

Aber ganz besonders ist es natürlich Dein Stil, der die Geschichte auch spannend macht – das Verstricken des Jetzt mit dem Erlebnis davor – das ist Dein ganz besonderes Markenzeichen.

Günther wird sowohl von seinen Mitschülern, als auch von seiner Mutter gequält, das macht die Geschichte besonders grausam, weil er sich praktisch nirgends zwischendurch „erholen“ kann. Die Angst ist da wie dort immer anwesend.
Besonders berührt hat mich die Schilderung, wie er sich von den Mitschülern alles gefallen läßt, nur um auch zumindest ein bisschen dazuzugehören, nicht bloß Außenseiter zu sein. – Daß das etwas mit Masochismus zu tun hat, wie Schriftbild meint, kann ich nicht sehen. Es ist mehr das Bezahlen eines hohen Preises für ein bisschen Zugehörigkeitsgefühl, wobei Günther zu der Zeit vermutlich gar nicht bewußt war, wie hoch der Preis tatsächlich ist…

Die Szene unter der Dusche habe ich so verstanden, daß es Günther vielmehr unangenehm ist, wenn seine Mutter zu ihm unter die Dusche kommt, er möchte die Spuren seiner Demütigung beseitigen, möglichst, bevor sie den Duschvorhang wegschiebt (drum wäscht er sich vermutlich weiter, während die Mutter am Klo sitzt), möchte sie vor ihr verstecken. Daß sie seinen Schwanz mit Bimsstein bearbeitet, macht ihm ganz gewiß keinen Spaß, das müssen ja unvorstellbare Schmerzen sein…
Er schämt sich dafür, von den Mitschülern so gedemütigt worden zu sein, kann nicht, wie vielleicht von den Eltern geliebte Kinder, sich zuhause ausweinen, erfährt keinen Trost, und als er versucht, sich alles abzuwaschen, wird er gleich noch mehr gedemütigt, ja mißhandelt.
Die Mutter läßt ihre Wut, die sie auf ihren Mann hat, an ihrem Sohn aus, als ihr bewußt wird, daß er seinem Vater körperlich schon immer ähnlicher, erwachsen, wird. Die Spuren des Edding-Stiftes waren ein gefundenes Fressen für sie, sie konnte sich mit dem Bimsstein alle Wut abreagieren. Daß sie noch nie Respekt vor den Intimzonen ihrer Kinder hatte, sondern diese immer zur Befriedigung der eigenen Triebe benutzte, weiß man ja aus den anderen Folgen dieser Serie bereits. Hier wird nur die zu befriedigende Lust durch die Wut ein bisschen abgelöst, aber ein zu verurteilender, brutaler Eingriff in die Intimsphäre und somit das Gefühlsleben von Günther ist beides.

@Schriftbild:

".. während Brüder unter den Decken und der Vater in der Spülmaschine verkriecht." Was bedeutet das?
Die Brüder verkriechen sich im Bett unter ihren Decken, versuchen einerseits vermutlich, nicht zu hören was sie hören, andererseits warten sie auf das was kommt – das erfährst Du in der vorigen Folge, „Das Morgengrauen“. ;)
Der Vater will auch nicht hören, was er hört, und beschäftigt sich mit dem Geschirr in der Spülmaschine…
Es störte mich, dass Günter an sich weiter wäscht, obwohl er von Mutter dabei beobachtet werden könnte. Besser wäre es, wenn dem Leser klar würde, dass er das tut, da er gesehen werden will, hofft, seine Mutter sieht und versteht.
Wie gesagt, er hofft vielmehr, sich den Edding noch rechtzeitig runterwaschen zu können… Wenn Du die anderen Folgen liest, wird Dir das klarer. ;)
Kann man so was schreiben, lesen ohne zu ... na ja du weißt schon. Ist dir dieser Vorwurf recht?
Hm, Du meinst das Mitleid, das Du eventuell aufbringen könntest? Findest Du das schlecht? Ich jedenfalls nicht, ich würde niemandem einen Vorwurf machen, der eine Geschichte schreibt, die mein Mitgefühl hervorruft. Ist mir tausenmal lieber als sinnlos brutale Filme… Und wenn mein Mitfühlen vielleicht etwas bewirken kann, dann gibt es dem Lesen einen ganz besonderen Sinn.
Oder meintest Du, daß Dich die Geschichte runterzieht? Ich fühle mich nicht runtergezogen, nur an Wahrheiten erinnert. Für die Wahrheiten, an die einen eine Geschichte erinnern kann, kann aber wiederum der Autor, also sim, nichts. Wenn die realen Erinnerungen in einem Leser so sind, daß eine Geschichte ihn dorthin runterzieht, dann sollte er die Erinnerungen mal näher betrachten, die ja nicht im Verantwortungsbereich des Autors liegen – deshalb kann man einem Autor hier auch keine Vorwürfe machen.
Es ist aber vermutlich so, daß Menschen, die durch eine Geschichte an eigene Erlebnisse erinnert werden, erst einmal einen Schuldigen für ihre nun aufkommenden schlimmen Gefühle brauchen – da liegt es natürlich nahe, erst einmal dem Autor die Schuld zu geben. Tatsächlich aber kann er absolut nichts für solche Erinnerungen – die Schuld tragen die Verursacher, nicht derjenige, der die Erinnerungen vielleicht loslöst.
Und Sprache so, dass auch Männer vergnügen daran haben es zu lesen
:susp: Was stellst Du Dir denn vor, wie eine Frau die Geschichte liest? :susp:
Du glaubst doch hoffentlich nicht, daß das auf eine Frau erotisch wirkt? Würdest Du es umgekehrt erotisch finden, wenn da eine weibliche Protagonistin wäre?


Ein paar wenige Anmerkungen hab ich noch, sim :)

»Die Arbeiten unterscheiden sich, die unlösbar in der Schule auf ihn warten,«
– würde besser finden „Die Aufgaben“, trifft es meiner Meinung nach eher, oder?

»Günther stellt sich vor, dann bei Harald unterzukommen, mit ihm, statt mir den Brüdern das Zimmer zu teilen«
– statt mit den Brüdern

»Doch jeder Versuch, sich mit ihm einmal für einen Nachmittag zu verabreden scheiterte an Haralds Zeit«
– verabreden, scheiterte

»die Spuren seiner Verfehlungen von sich zu scheuern will«
– entweder „von sich zu scheuern versucht“ oder „von sich scheuern will“

»als Günthers Kraft zum Widerstand vor Kopfschmerzen erlahmt ziehen sie ihm die Hosen runter,«
– erlahmt, ziehen


Liebe Grüße,
Susi :-)

 

Lieber sim,

kann eine Kinderseele jemals von solchen Erlebnissen und Prägungen gesunden?
Das geht mir bei deiner Geschichte durch den Kopf.
Eine unbequeme Geschichte, so voller Hoffnungslosigkeit und trauriger Wut, die du bei mir erzeugst.
Das läßt sich gar nicht verhindern, wenn man sich auf diese Geschichte einläßt.

Stilistisch habe ich noch eine Kleinigkeit zu bemängeln:
"Die Arbeiten unterscheiden sich, die unlösbar in der Schule auf ihn warten, die Gedanken des Herzens fließen manchmal zu Menschen, die ihm freundlich begegneten, und tragen seine Füße schneller in Richtung Schule."

Ich würde daraus zwei Sätze machen: Die Arbeiten, die unlösbar in der Schule auf ihn warten, unterscheiden sich. Die Gedanken des Herzens tragen manchmal seine Füße schneller in Richtung Schule, zu Menschen die ihm freundlich begegneten.

Ich schlage dir deswegen eine Veränderung dieses langen Satzes vor, weil ich am Anfang hier erheblich stockte und durch mehrmaliges Lesen erst herausfand, was genau du gemeint hast.

"Halrald ist manchmal freundlich zu ihm." Hier hat sich ein kleiner Tippfehler eingeschlichen.

Ansonsten hab ich, wie immer, nichts zu meckern. Sehr eindringliche Geschichte in fesselndem Stil verfaßt,ist dir da gelungen, lieber sim.

Lieben Gruß
elvira

 
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Hallo ihr Lieben,

jetzt melde ich mich nach mehrmaligem Lesen eurer Kritiken auch mal wieder.
Das Leichteste zuerst. Eure stilistischen Anmerkungen habe ich alle korrigiert. Vielen Dank dafür an Häferl und lakita.

Hallo Schriftbild,

ein bisschen habe ich natürlich noch deinen Beitrag vor der Editierung im Kopf. Es wäre zumindest logisch, wenn Günther in seinem Tun kurz innegehalten und sich weggedreht hätte, als sich die Mutter auf die Toilette setzte. Da hast du völlig recht. Ansonsten vielen Dank für dein überschwengliches Lob. Dich zu deprimieren lag natürlich nicht in meiner Absicht.

Hallo Morpheus,

der weitere Lebensweg Günthers wird euch sicherlich nicht erspart bleiben. Deine Kritik hat mich sehr gefreut.

Liebe Häferl,

Günther wird sowohl von seinen Mitschülern, als auch von seiner Mutter gequält, das macht die Geschichte besonders grausam, weil er sich praktisch nirgends zwischendurch „erholen“ kann. Die Angst ist da wie dort immer anwesend.
Leider hängt das sehr oft zusammen, denn eine angenommene Opferhaltung strahlt eben auch in der Schule und prädestiniert leider die Kinder, die schon zu Hause misshandelt werden auch dort dafür.
Was mir angesichts der Schilderungen oft noch nicht so in der Darstellung gelingt, ist, dass Günther sein "Leiden" während dieser Zeit so wenig als Leiden wahrnimmt, dass er sich eben wie selbstverständlich auch an der Qual der anderen Opfer beteiligt, wenn er einmal nicht an der Reihe ist. Die Wahrnehmung für "Recht und Unrecht" wird in ihm verdreht, adabsurdum geführt, so dass er zwar jede Menge Schuld empfindet, aber nicht an angemessener Stelle. Ich hoffe, das wird in zukünftigen Geschichten noch deutlicher.
Er schämt sich dafür, von den Mitschülern so gedemütigt worden zu sein, kann nicht, wie vielleicht von den Eltern geliebte Kinder, sich zuhause ausweinen, erfährt keinen Trost, und als er versucht, sich alles abzuwaschen, wird er gleich noch mehr gedemütigt, ja mißhandelt
Er schämt sich zum Beispiel nicht nur der Demütigung wegen, sondern auch seines Schuldgefühls, an dieser Demütigung Spaß empfunden zu haben. Die Misshandlung daheim tut ihm weh, er fürchtet sie. Er fürchtet sie aber auch, wie ein Verbrecher eine gerechte Strafe fürchtet. In dieser Verwirrung steckt das eigentlich Traumatische.
Die Mutter läßt ihre Wut, die sie auf ihren Mann hat, an ihrem Sohn aus, als ihr bewußt wird, daß er seinem Vater körperlich schon immer ähnlicher, erwachsen, wird.
Gerhard Amendt argumentiert in seinem soziologischem Buch "Wie Mütter ihre Söhne sehen" diesen Effekt übrigens gesellschaftsübrergreifender, indem er die Kosenamen heranzieht, die Mütter den Genitalien ihrer Söhne geben. Da ist von "Piepmatz", von "Goldhahn" oder ähnlichen Begriffen die Rede, die er einer Umfrage entnommen hat. Allen diesen Begriffen ist gemein, dass sie die Funktion des kindlichen Geschlechts auf die Funktion des Wasserlassens reduzieren und so die Männlichkeit des Jungen psychologisch kastrieren.
Im gleichen Buch beschreibt er auch schon die Trachtprügel auf den nackten Allerwertesten als einen Akt, der immer auch ein Eingriff in die Sexualität des Kindes ist, denn auch der Po gehört in den Unerhosen- und damit in den Intimbereich.

So, jetzt habe ich anhand deiner lieben Kritik noch einiges an Fundament hinterher geschoben. Die Anmerkungen, die ich zu deinem Verständnis gemacht habe, sollten dir nicht widersprechen, sondern deine Auffassung ergänzen. Deine Interpretation waren genauso richtig und in Günther vorhanden, wie meine Anmerkungen dazu.

Vor allem danke ich dir für die Mühe, die du dir mit der Geschichte gemacht hast, fürs Lesen, für deine Erläuterungen an Schriftbild und für deine postitive Kritik.

Liebe lakita,

kann eine Kinderseele jemals von solchen Erlebnissen und Prägungen gesunden?
Nein, sie kann nur lernen, so gut wie möglich damit umzugehen.
Auch dir herzlichen Dank für deine lobenden und ergriffenen Worte.

Euch allen ganz liebe Grüße, sim

 

Hallo Sim!

Auch mit dieser Geschichte hast Du dem entsetzten Leser einen Einblick gewährt in eine Hölle, die hinter bürgerlichen Fassaden durchaus existiert. Die ungeschönte Schilderung des Leids, welches für viele Kinder leider alltäglich ist, wirkt zutiefst verstörend und hält dadurch lange nach. Gut so.

Besonders gut beschrieben ist der Gleichmut, mit dem Günther all die Quälereien über sich ergehen läßt, nur um ein Minimum an Liebe und Anerkennung zu erlangen. Da ist niemand, der ihm gegen die gnadenlosen Angriffe hilft, niemand an den er sich in seiner Not wenden kann. Er bleibt nicht nur psychisch gezeichnet, sondern auch körperlich. Ein trauriges, bedauerliches Einzelschicksal? Eben nicht.

Es ist wichtig, gegen das Vertuschen solcher Taten anzuschreiben. Du machst das in bewundernswerter Weise. Meine Hochachtung!


Lieben Gruß
Antonia

 

Hallo Antonia,

vielen Dank für deine Kritik.
Leider fälllt es nicht schwer, gleichmütig zu bleiben, wenn die Qual die Normalität ist, so dass man sie nicht als Qual erkennt.

Es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat, auch wenn sie dich verstörte. Es wäre gelogen, zu behaupten, das wäre keine Absicht gewesen. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Lieber sim!

Was soll ich noch schreiebn? Es geht mir wie Häferl, wie Antonia und Lakita... Deine Geschchte hat mich sehr aufgwühlt, Zorn und Traurigkeit. Und imemr wieder Erschrecken über das, wie Menschen miteinander umgehen können. Und wie die Opfer sich auch ncoh sleber fertigmachen, weil sie Schuld spüren, wo sie keinerlei haben...

liebe Grüße
eine traurige Anne

 

Hallo liebe Maus,

ja, die Selbstverachtung die dabei entsteht, die Selbstvorwürfe, die Verkehrung der Tatsachen sind wirklich grausam. Sie sind aber auch oft der Grund zum Überleben. Leichter ist es, selbst schuld zu sein. Dann hat man wenigstens einen Grund, nicht geliebt zu werden.

Vielen Dank fürs Lesen und für deine netten Worte.

Liebe Grüße, sim

 
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Hallo sim,

Dass die Geschichte stilistisch genial ist und die Sprache völlig mit dem Inhalt harmonisiert - ich zweifle stark, ob das an erster Stelle wert ist zu sagen.

Umso wichtiger ist mir das Folgende: Bei dieser Geschichte laufen bei mir die Gedanken und Gefühle die Exponentialkurve hoch, ehe ich sie noch in die richtigen Worte fassen kann. Habe ständig überlegt, ob ich noch den nächsten Satz lese. Ich wusste einfach sehr bald, dass ich so reagieren werde und doch keinen sinnvollen Kommentar zu Stande bringe.

Irgendwie geht es mir bei dieser Geschichte so wie bei Häferls Anna-Irene-Geschichten. Wie auch Susi, leistest Du hier Deinen großen Teil zur Wahrheitsarbeit, ich meine die Enthüllung der dunkelsten Wirklichheit, wie sie in manchen Familien ihr Unwesen treibt.

Das erste Mal verstehe ich auch, warum Leute wegsehen, wenn z.B. Skinheads einen "Untermenschen" verprügeln. Diese Seite der Wahrheit heißt nämlich nicht nur Qual für deren Opfer, sondern auch Qual für die Beobachter (der Anteil derer, die sich an sowas erregen, ist gottseidank gering). Und in der Tat ist der Leser dieser Geschichte ein Beobachter, leider auch zurückgehalten von der zeitverzerrenden Schrift, fühlt sich - so in meinem Fall - gar fast schuldig der unterlassenen Hilfeleistung. Die Pein der persönlichen Ethik verstärkt sich also noch mehr.
Die meisten Menschen haben so schon genug um die Ohren, sodass sie einfach blocken und sagen: "Nein, ich möchte damit nichts zu tun haben". Das hat mE auch nichts mit Feigheit zu tun, das liegt einfach nur an ihrer nervlichen (geistigen...?) Kapazität. Ganz falsch ist da der Gedanke, diesen Menschen sei es egal was da passiert, denn wären sie "böse" - was sie damit zwangsläufig wären, da Egalität ein winziges Körnchen Sympathie enthält - würden sie nicht weg- und zu Boden sehen.
Nunja, ich habe die Geschichte jedenfalls zu Ende gelesen (Das muss beileibe nicht für all solche Geschichten gelten). Aber es war alles andere als ein Vergnügen.

Das war ein Ausflug zu den untersten Punkte dieser Kurve. Hat nur marginalst etwas mit Günthers Schicksal zu tun, merke ich gerade, doch das sind halt die Gedanken, die mir kommen, eben weil ich Deine Geschichte nicht direkt kommentieren kann. Ob das auch schon Abblocken ist? Ich befürchte: So in etwa.


Grüße, Florian.

 
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Hallo floh,

ich kann deine Gedanken zu der Geschichte gut nachvollziehen, und wenn ich bestätige, dass deine Haltung schon eine Art des Blockens ist, dann meine ich das in keiner Weise mit einer negativen Note.
Wir blockieren um uns zu schützen.
Es gibt Filme, etwas über den Holocaust, die ich genau aus dem von dir beschriebenen Grund meide. Ich kenne den Effekt sogar von Komödien, deren Witz auf Peinlichkeiten beruht. Wo andere schadenfroh lachen schaue ich weg voll gefühlter Qual für den, der dort von einem Missgeschick zum anderen stolpert.
Ich muss mich angesichts deiner Gefühle also fragen, ob ich in der Dosierung hier zu weit gegangen bin.

Ich weiß ganz ehrlich nicht, ob ich mich bedanken soll, wenn du trotz der Qual weitergelesen hast, denn im Leben ist es mir immer mehr wert, wenn jemand gut genug auf sich aufpassen kann, sich nicht jede Qual anzutun.

Ich freue mich aber ehrlich über deine Gedanken zu der Geschichte und darüber, dass du sie aufgeschrieben hast.

Ganz lieben Gruß, sim (übrigens Namensvetter ;))

 

Lieber Sim

Wenn du dich mal gefragt haben solltest, warum ich deine Geschichten so selten kritisiere, liegt das einfach daran, dass es bei dir in meinen Augen nichts zu kritisieren gibt.
Dein Stil ist ausgezeichnet, so dass man auch an dieser ziemlich lngen Geschichte hängenbleibt ohne auch nur eine Sekunde Langeweile zu verspüren.

Der Inhalt ist einfach erschütternd. Als ich das las lief es mir kalt den Rücken runter, mit welcher Objektivität du diese Greueltaten beschreibst, ohne ein Urteil darüber zu fällen.

Auch das Verhalten der Mutter die die Realität verdrängt und Günther noch mehr demütigt als ohnehin, erschütterte mich.

In einem Wort: Hervorragend!!!
Ein "Tabuthema" klasse ausgebreitet. Das geht wirklich unter die Haut! Auch wenn der Inhalt schrecklich ist und keine große Euphorie aufkommen lässt.

Dein Maniac

 

Hallo mein lieber Maniac,

vielen Dank fürs Lesen meiner Geschichte und noch mehr Dank für deinen lobenden Kommentar.
Hat mich wirklich sehr gefreut und dass es für dich nichts zu kritisieren gibt schmeichelt mir natürlich sehr. :)

 

Hi bmn,

schön, dass diese alte Geschichte noch einmal ausgegraben wurde. Da es ja auch ein Zeichen der Glaubwürdigkeit einer Geschichte ist, wenn sie "wenig erfunden" klingt, denke ich, das darf auch ein Kompliment sein.
Ich hoffe, du erholst dich schnell.

Lieben Gruß und vielen Dank
sim

 
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Hallo sim,
da ich noch nicht so lange Mitglied bei KG.de bin, wäre mir diese <alte> Geschichte ohne den aktuellen Kommentar leider verborgen geblieben.

Umso erfreuter (wegen der stilistisch ausgereiften Darstellung des Themas) bin ich, dass ich dieses Kleinod an Einfühlsamkeit in die Seele eines Pubertierenden und Gemobbten zu Gesicht bekam.

Der Text ist mir an die Nieren gegangen!
Du hast die seelischen Leiden des Jungen so plastisch gezeichnet, dass ich sie, obwohl ich Frau bin, fast körperlich schmerzlich nachempfinden konnte.

Ein hervorragender Kunstgriff des Autors, eine so intensive Identifikation mit dem Protagonisten zu erreichen!

Gleichermaßen gelingt es dir, im Leser nicht nur Unverständnis, sondern regelrechte Abscheu vor dem Verhalten der Mutter zu erzeugen, so dass sich der Begriff „Schuld“ wesentlich auch auf die Mutterrolle ausweitet.

Chapeau!

Einen Rechtschreibfehler habe ich noch entdeckt:
»Der ist so pervers«, sagen sie Harald. »Du tust ihm einen Gefallen. Siehst du nicht, wie sehr er im ( müsste hier <ihm> heißen) steht?«

Angeregt durch diese Geschichte werde ich mich in den nächsten Tagen durch die anderen Teile der Serie wühlen und hoffe auf ebensolchen literarischen Lesegenuss.

Gruß
Kathso

 

Hallo kathso60,

na, da hat es sich doch richtig gelohnt, dass diese Geschichte wieder ausgegraben wurde.
Den Fehler habe ich ausgebessert.

Vielen Dank auch dir und liebe Grüße
sim

 

Hi rueganerin,

deine Mutter erlebt als Sozialpädagogin bestimmt viel.
Ich hoffe, du hast gut geschlafen und dich inzwischen erholt.

Auch dir vielen Dank und liebe Grüße
sim

 

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