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Ein Leben als Ersatz - Schuld und Strafe
Nicht jeder Tag beginnt in der gleichen Art, nicht an jedem Morgen wacht Günther mit den gleichen Ängsten auf, mit den gleichen Hoffnungen und Sehnsüchten.
Manche Tage beginnen auch schuldbewusst, voller Scham über das Verbotene, das noch unentdeckt in Günthers Gewissen schläft, auch wenn es schon Vergangenheit ist.
Verboten sind zum Beispiel die Träume, die ihn am Schlafen hindern und ihm von einer Welt erzählen, in der die Eltern von einer Autofahrt nicht zurückkommen werden. Günther stellt sich vor, dann bei Harald unterzukommen, mit ihm, statt mit den Brüdern das Zimmer zu teilen, ihm beim Schlafengehen zuzuschauen, wenn er sich seinen Pyjama anzieht. Harald ist der einzige Junge in Günthers Klasse, mit dem er sich versteht. Sie spendieren sich manchmal einen Kakao aus dem Schülerladen. Doch jeder Versuch, sich mit ihm einmal für einen Nachmittag zu verabreden, scheitert an Haralds Zeit.
Dieser Tag beginnt mit der Qual der Angst vor Entdeckung.
Als Günther den Radiowecker hört, der seine Eltern aus dem Schlaf holen soll, springt er auf, läuft ins Bad, um Marianne zuvor zu kommen, als Erster unter der Dusche zu stehen, den harten Strahl des Wassers über sich ergehen zu lassen und die Spuren des Verbotenen von sich abzuwaschen.
Es ist nicht gut, Günther zu heißen. Günther heißt kein Kind. Kinder heißen Frank oder Thomas, Heiko, Michael, Martin. Sie können auch Claus oder Dirk heißen, aber Günther dürfen sie nicht heißen. Günther zu sein ist eine Strafe, die weitere Strafen verdient, wenn sich der Bann der Franks und Heikos, der Michaels und Martins über ihn legt.
Einen Günther darf man bespucken und treten, man darf ihn in den Schwitzkasten nehmen, ihn bloßstellen und ihn im Jungenklo überfallen, ihm die Hose runterzerren und dann die Mädchen rufen, sogar die Mädchen, die Regine heißen, was ungefähr genau so schlimm ist, wie Günther.
Manchmal gibt es andere Opfer, manchmal darf auch Günther auf fremden Schultern sitzen, und sie niederdrücken. Oder er wird aufgefordert, einem anderen den Hosenknopf zu öffnen, den Reißverschluss herunterzuziehen und die Hose zu den Knien zu zerren, über angespannt strampelnde Oberschenkel, die versuchen, sich zu befreien von der Last der auf ihnen sitzenden Klassenkameraden. Dann bildet Günther sich ein, dazu zu gehören. Und wenn er sieht, dass die anderen Opfer trotzdem beim Tip-Tap gewählt werden, legt er sich das nächste Mal freiwillig hin, dann gefällt ihm, wenn sie ihn sehen und zeigen wollen. Günther gehört dazu. Er gewöhnt sich Sprüche an, mit denen er sie bedenkt, wenn sie sich über ihn hermachen. Er wähnt sie neidisch auf seinen Haarwuchs, auf die Größe seines Schwanzes oder auf seine freie beschnittene Eichel.
Trotzdem ist er beim nächsten Tip-Tap wieder der Letzte. Günthers werden nicht gewählt, sie werden knurrend genommen, weil es Lehrer gibt, die aus unerfindlichen Gründen darauf bestehen, dass man auch mit diesem Namen mitspielen darf. Diese Ungerechtigkeit des Lebens muss bestraft werden, erst recht, wenn Günther, ins Tor verbannt, den Elfmeter nicht hält. Dann dürfen sich alle an der Rache beteiligen, auch das siegreiche Team.
Dann dürfen ihm die Töchter und Söhne der Anwälte und Ärzte im Klassenzimmer auflauern und es ist nicht damit getan, allen in der Toilette zu präsentieren, was sie ohnehin schon von dem täglichen Spiel kennen. Ist Angst eigentlich auch eine Erregung, die zur Versteifung der Glieder führen kann?
»Na meine Pissnelke, so früh schon auf?«
Die Taktik scheint zu funktionieren. Die Mutter setzt sich auf die Toilette und singt ihm froh gelaunt Beleidigungen unter das laufende Wasser.
»Ja, ich konnte nicht mehr schlafen.«
Vielleicht würde sie ja vorher zu den Brüdern gehen, solange er noch unter der Dusche steht. Sie geht doch immer zuerst zu den Brüdern. Aber sie kann Günther durch die milchigen Plastikscheiben der Brause zu gut beobachten. Sie kann zu gut sehen, wie er die Schuld von sich abzuwaschen versucht, die Spuren seiner Verfehlungen von sich zu scheuern will. Sie bekommt mit, wie heftig er an sich rubbelt, um sich zu reinigen. Schließlich ist ihr Kopf auf gleicher Höhe, wenn auch durch mattes, dampfbeschlagenes Plastik getrennt. Sie braucht nur geradeaus zu schauen, um zu bemerken, wo sich ihr Sohn wie wild reibt.
Sie schweigt, bis sie die Spülung betätigt und ihr Nachthemd wieder nach unten gezogen hat, aber zum Waschen der Hände nimmt sie sich keine Zeit, bevor sie die Öffnung der Duschkabine zur Seite schiebt und frontal auf Günthers Schuld starrt: »Was machst du da eigentlich?«
Sie haben sich etwas Besonderes ausgedacht. Wenn man Günther heißt, hat man nicht lebenslangen Anspruch auf die öffentliche Verschwiegenheit dunkler Schultoiletten. Dann kann man sich nicht immer auf kalten grauen Fliesen auf den Fußspuren matschiger Schuhe betten, während man pubertäre Fantasien erfüllt. Als Günther muss man irgendwann ins Licht gezerrt werden, auf die Bühne eines Schultisches, dessen Kante hart in den Hinterschädel des Jungen drückt, wenn die Klassenkameraden diesen an den Haaren draufknallen. Jeder hat ein Recht auf Günther, schon, weil er den Elfmeter nicht gehalten hat, weil er ein Weichei mit großer Klappe ist und weil er doch schließlich seinen Spaß haben soll.
Zuerst schieben sie ihm nur das T-Shirt hoch, bis weit über die Brustwarzen, reichen einen schwarzen Edding herum, mit dem sich jeder auf Günthers Bauch verewigen darf. Jeder darf ihm darauf schreiben, was er von einem Günther hält. Jeder darf lachen, wenn sie die Bemerkungen vorlesen. Erst, als das langweilig wird, oder als Günthers Kraft zum Widerstand vor Kopfschmerzen erlahmt, ziehen sie ihm die Hosen herunter, so weit, dass sich die Tischkante auch in das Fleisch seiner Schenkel schneidet.
Es sind zu viele. Günther hat keine Chance.
Wenn er stillhält, lassen die Schmerzen nach. Also lässt er alles über sich ergehen, bleibt einfach liegen, würde wohl selbst dann liegen bleiben, wenn ihn niemand mehr festhielte. Der Stift, der immer noch die Runde macht, lässt den Jungen Böses ahnen.
Warum schießt ihm so viel Blut in den Schoß, als jemand mit einer Schere in der Gegend fuchtelt? Warum schwillt ihm die Schuld so an, als dieser Jemand sie mit festem Griff zur Seite legt, und das Schamhaar abschneidet? Findet er es geil, wenn sich die um ihn stehende Meute an ihm ergötzt?
Einer steht an der Tür, nicht nur, um rechtzeitig vor dem Eintreffen des Lehrers zu warnen, sondern auch, um jeden daran zu hindern, das Klassenzimmer zu verlassen.
Zwischen all den Gesichtern, die ihn anglotzen, steht Harald, der Einzige, der versucht hat, aus dem Raum zu entweichen. Ihm drücken sie jetzt den Edding in die Hand und fordern ihn auf, Günthers Schwanz zu verzieren, ihn schwarz glänzend anzumalen, während andere ihn festhalten. Harald zögert. Sein Widerspruch, seine zaghafte Weigerung führt zu einem reißenden Schmerz, als Günthers Hinterkopf mit einem kräftigen Ruck auf die Tischkante geknallt wird. Solange, bis er selbst Harald bittet, es zu tun. »Der ist so pervers«, sagen sie Harald. »Du tust ihm einen Gefallen. Siehst du nicht, wie sehr er ihm steht?«
Zaghaft führt Harald den Edding in der Hand, malt über die faltigen und haarigen Hoden und den immer noch steifen Schwanz. Für jedes Zaudern, jedes Absetzen wird Günther bestraft. Die Tinte des Edding brennt, als sie sich auf Günthers Eichel mit Vorsaft verbindet, doch was die Qual des Jungen in verwirrende Schuld, in unglaubliche Scham verkehrt, ist, dass er so festgehalten, so präsentiert und bloßgestellt vor den Augen seiner Klassenkameraden, vor den Jungen und den Mädchen, einen Erguss hat, dass es nicht nur die Schmerzen sind, die ihn laut aufstöhnen lassen, als der Filzstift in Haralds Hand seine nackte Eichel berührt.
Warm und klebrig schießt ihm die Soße auf den Bauch just in dem Moment, als der Warner an der Tür den Lehrer ankündigt, zum Glück rechtzeitig genug für Günther, sich die Hose wieder hoch zu ziehen. Den Knopf muss er noch unauffällig verschließen, als er schon an seinem Tisch sitzt.
Es bleibt keine Zeit für höhnische Kommentare. Derer bedarf es auch nicht, damit Günther sich schmutzig, pervers und schuldig fühlt. Wahrscheinlich haben alle recht, wenn sie ihn so behandeln. Er verdient es nicht besser.
Die Mutter sieht, was er macht, ihre Frage ist überflüssig, aber sie sieht es nicht genau genug, jedenfalls nicht solange sie nicht den Waschlappen, den sich ihr Sohn verzweifelt vor seine Schuld hält, fort reißt.
So sehr sich Günther bisher auch bemüht hat, die Farbe war nicht zu entfernen gewesen, hatte sich nur in ein schmutzig blasses Dunkelgrau verwandelt.
Mariannes Entsetzen findet keine Worte, keine Fragen, nur Taten. Sie schlüpft vor Zorn rasend aus ihrem Nachthemd, greift nach einem Bimsstein, bevor sie sich zu Günther in die Duschkabine zwängt und mit festem Griff dessen schon wund gescheuerten Hoden umklammert. Erst als sie den Stein ansetzt, findet sie ihre Sprache wieder, kann ihre Wut hinausbrüllen und Günther als die Drecksau bezeichnen, die er ist.
Es ist möglich jemandem mit einer Hand die Eier zu zerquetschen, und ihm mit der anderen den Arsch zu versohlen, es ist sogar einer Mutter möglich, wenn sie sich um die Sauberkeit des nur ihr gehörenden Kinderschwänzchens betrogen fühlt, wenn sie begreift, dass auch aus der kindlichen Unschuld nur ein Stab der Ungerechtigkeit wird, wenn die Söhne alt genug werden. Irgendwann sind sie so bedrohlich wie ihr Erzeuger.
Marianne möchte nicht wissen, woher die Farbe kommt. Sie hat von Günthers Spinnereien die Nase voll, listet mit jedem Strich, den sie ihm in sein Geschlecht reibt seine Ausfälle auf, steigert sich immer mehr in Rage, während sich die Brüder unter den Decken und der Vater in der Spülmaschine verkriechen.
Günther ist froh, dass sie es so sieht. So bleiben ihm peinlichere Fragen erspart. So braucht er nur zu antworten, dass er sich nichts dabei gedacht habe und eine schallende Ohrfeige in seinem nassen Gesicht zu ertragen.
Aber was sind schon Schmerzen?
Es ist nicht möglich, wasserfesten Filzstift mit einem Bimsstein rückstandslos zu entfernen, so sehr man dabei auch keift, um die Schreie des Kindes übertönen und ignorieren zu können.
Wenn sie Günther in der Schule heute die Hose herunterziehen, werden sie erschrecken.
Ein Leben als Ersatz - Willkommen
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Ein Leben als Ersatz - Die Ohrfeige