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Ein Leben als Ersatz - Die Ohrfeige
»Hast du nichts zu erzählen?«
So wie Marianne die Frage stellt, weiß Günther, er müsste etwas zu erzählen haben, etwas, das ihr wichtig erscheint. Nur leider weiß er nicht, was. Es ist nichts passiert heute in der Schule. Er hat weder einen Tadel noch eine schlechte Zensur von der Lehrerin bekommen. Günther bleibt still. Fragend schaut er Marianne an. Er sieht ihrem Blick an, dass er nicht nein sagen darf. Ein Nein würde sie als Lüge sehen. Ihr Blick haftet an ihm, bohrt sich in ihn, so sehr, dass Günther ihm auszuweichen versucht.
»Ich höre.« Das klingt drohend. Wüsste Günther doch nur, was er ausgefressen haben könnte. Die Brüder beugen sich konzentriert über ihre Teller. Ist Mariannes Stimme so schneidend, sollte man keinen Fleck auf dem Tischtuch hinterlassen, auch, wenn der scharfe Ton nicht einem selbst gilt.
Günther zieht es vor, seine Mutter stumm und fragend anzuschauen, so stumm und fragend, dass es ihr wie ein schlechtes Gewissen vorkommen muss, wie ein Eingeständnis seiner Schuld.
»Herr Linke war heute bei eurem Vater im Geschäft.«
Auch nach diesem Hinweis fällt Günther nichts ein. Herr Linke ist Chirurg, so eine Art Arzt, das weiß Günther. Er weiß auch, dass Herr Linke der Vater von Corinna ist. Corinna geht in seine Klasse. Herr Linke kauft öfter Fleisch bei dem Papa. Seine Praxis ist in der gleichen Straße wie die Schlachterei. Aber Günther erinnert sich nicht daran, mit Corinna gestritten zu haben. Schließlich ist Corinna ein Mädchen und mit Mädchen spielt man in der Grundschule nicht. Günther schweigt noch immer. Ihm fällt nichts ein, was er seiner Mutter erzählen hätte müssen, schon gar nicht, wenn es um Corinna geht.
»Er wollte wissen, was wir gegen Frau Möller unternehmen.«
»Gegen Frau Möller?« Günther versteht immer weniger. Frau Möller ist seine Lehrerin. Zumindest ist sie das, seit Frau Gilden ein Baby erwartet. Warum sollten seine Eltern etwas gegen Frau Möller unternehmen?
»Sie hat dich doch im Unterricht geschlagen oder?« Hatte sie das? Günther kann sich an eine Ohrfeige erinnern, er weiß aber nicht mehr, warum er sie bekommen hat.
»Ja«, gibt er besser kleinlaut zu und hofft dabei, dass seine Mutter den Grund nicht wissen möchte. Seine Brüder haben es gut. Die können sich auf ihr Essen konzentrieren. Weghören können sie zwar nicht, aber sie können wenigstens so tun. Günthers Essen wird kalt. Wie schafft seine Mutter es, dass ihr Teller immer leerer wird, während sie ihn so böse anschaut?
»Und warum erzählst du uns das nicht?«
Ist seine Mama deshalb böse? Weil er nichts von der Ohrfeige erzählt hat? Günther weiß noch nicht einmal mehr, wie lange das schon her ist. Hätte sie die Ohrfeige nicht angesprochen, hätte er sich gar nicht daran erinnert. Seine Mama hatte ihn seit dieser Ohrfeige bestimmt drei Mal geschlagen. Was war also daran so schlimm? Günther weiß nicht, was er sagen soll. Alles, was ihm an möglichen Begründungen einfiele, würde die Mama nur wütender machen. Also sagt er das Ehrlichste, was er sagen kann. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist alles, was du mir dazu sagen kannst?« Seine Mama schreit ihn jetzt wütend an. »Hast du so wenig Vertrauen zu uns, dass du uns etwas so Wichtiges nicht erzählst?«
Jetzt weiß Günther erst recht keine Antwort mehr. Wenn er nein sagt, hätte er von der Ohrfeige erzählen müssen, wenn er ja sagt, erhält er bestimmt eine Ohrfeige von seiner Mama.
»Bin ich so ein Drachen, dass ihr mir nicht erzählen könnt, wenn eure Lehrerin euch einfach schlägt?« Sie hat sich von ihrem Stuhl erhoben und kommt so drohend auf Günther zu, dass er sich beeilt, doch ganz schnell nein zu rufen, aber es ist ein zu spätes, zu ängstliches Nein.
»Dich werde ich lehren, mir zu vertrauen!«, brüllt Marianne Günther an und reißt ihn dabei von seinem Stuhl. »Zieh die Hose runter.«
Günther weiß, dass er keine Chance hat. Warum sollte er weglaufen? Er zieht die Hose ganz freiwillig runter, während Marianne ihn mit festem Griff über ihr angewinkeltes Knie legt.
»Die kleine Corinna kommt völlig entsetzt zu Hause an und weint, weil Frau Möller dich geschlagen hat und euer armer Vater steht dumm und ahnungslos im Laden und kann nichts sagen, als Herr Linke ihn fragt, was wir dagegen tun wollen?« Mit jedem herausgestoßenen Wort prasseln die Schläge auf Günthers Po und hinterlassen Handabdrücke. »Was denkst du dir eigentlich dabei?«
»Gar nichts«, wimmert Günther, »gar nichts. Ich fand es nicht wichtig.«
»Ich werde dir zeigen, wie wichtig das ist!« Marianne steigert sich prügelnd in ihren Zorn, schlägt und schreit, dass sie sich bei der Schule beschweren werde.
Für Günther ist Corinna eine Petze.
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