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Ein Leben als Ersatz - Das Morgengrauen
Das Morgengrauen erwacht. Sanft schiebt sich der rote Ball der Sonne in die Höhe, versteckt sich hinter Nieselregenwolken, die schwer und drückend in den beginnenden Tag hängen.
Das Morgengrauen ist violett - wie Veilchen, die gelb umrandet die Augen zieren. Unten im Hof wird ein erster Wagen aus der Garage gefahren. Das Tor scheppert beim Herunterlassen leise nach.
Claus und Jörg drehen sich mürrisch unter ihren Decken, schlafen noch, wenn auch unruhig von Träumen des Erwachens geschüttelt. Ich höre den Wecker, der im Schlafzimmer der Eltern seine unbarmherzige Mahnung zum Aufstehen rasselt. Schritte tapsen über den Teppich, das Licht im Flur glimmt auf, der Gasboiler pufft als die nackten Füße der Mutter ins Duschbecken platschen und sie den Warmwasserhahn aufdreht. Der Vater klappert mit der Kaffeemaschine und mit dem Geschirr.
Solange die Mutter unter der Dusche singt, kann ich mich noch einmal umdrehen, auch wenn ich nicht mehr schlafen werde. Ich kann noch ein bisschen die Wärme der Decke genießen, die noch die Behaglichkeit des Schlafes in sich trägt und meinen Geruch der Nacht in sich birgt, die Albträume und das stundenlange Ausharren mit halb geöffneten Augen und Ohren, die auf jedes Geräusch lauschen.
Claus blinzelt das erste Mal. Sein Bett steht meinem gegenüber. Unser Zimmer ist klein. Jörg und ich haben Wandschrankbetten, die wir tagsüber nach oben klappen müssen. Sie stehen wie ein Doppelbett nebeneinander. Claus’ Bett ist am Tag das Sofa, auf dem wir sitzen, wenn wir unsere Schularbeiten machen - wenn wir welche machen.
»Der Gesang ist ja nicht auszuhalten.« Claus zieht sich die Decke über die Ohren, vergräbt sich, um noch ein paar Minuten der Ruhe zu genießen, bis sich das Wasser nicht mehr über der Stimme und dem Körper der Mutter bricht.
Jörg tut einfach, als würde er noch schlafen. Er atmet zu unruhig und dreht sich zu oft, aber er hält die Augen geschlossen, steckt seinen Daumen in den Mund und kuschelt sich an seinen Teddy. Jörg ist der Jüngste von uns.
Ein knappes Jahr, nachdem Günther den Claus in die Welt getreten hatte, einen Blutschwamm auf dessen Rücken hinterlassend, erfüllte Marianne widerwillig ihre ehelichen Pflichten. Sie machte die Beine zur körperlichen Übereinkunft breit, schloss die Augen und ließ Dieter über sich ergehen. Marianne spürte kaum, wie er sein Messer in ihr wetzte, sie hatte zuvor eine Schmerztablette genommen, krallte sich mit den Händen im Laken fest, statt ihren Mann zu umarmen. Sie ekelte sich vor dem Fleischgeruch und vor seinen Küssen drehte sie das Gesicht weg. Sie rutschte unruhig unter ihm hin und her, eher fliehend als sich hingebend, Ihrer Schwangerschaftsstreifen, einer Hinterlassenschaft der Zwillinge, schämte sie sich, sodass Dieter ihren Bauch nicht küssen durfte. Marianne behielt das Nachthemd an, sie schob es lediglich leicht hoch, um ihre Bereitschaft zu demonstrieren. Auch Dieter musste seinen Schlafanzug anbehalten, durfte lediglich die Waffe, mit der er sich in ihr austoben sollte, aus dem Schlitz ziehen.
Die Baumwollstoffe schmatzten aneinander, prägten ihre Falten in die Haut der Liebenden, und das Kondom verfing sich in den Knöpfen des Pyjamas. Es glitt während Dieters Begattung von dessen Schwanz, als er gerade zu einem neuen Stoß ansetzte.
Dieter schoss sich so leer, wie es die Vereinigung war, die sie ihm gestattet hatte. Er presste sich auf sie, wenn sie ihn schon nicht spüren wollte, so wollte er sie doch wenigstens fühlen, sie erleben, sie glücklich machen. Sie ließ es nicht zu.
Der Unfall sollte Angelika heißen, nur, tat er niemanden den Gefallen, als Mädchen auf die Welt zu kommen. Er hatte seinen eigenen Kopf und bekam tatsächlich seinen eigenen Namen, auch wenn die Geburt eines weiteren Jungen eine Enttäuschung war.
Ein Mädchen hätte Marianne doch irgendwann unterstützen, ihr ein wenig von der Mühsal der Hausarbeit nehmen und sich gegen die männliche Dominanz mit ihr vereinigen können.
Konnte es nicht einmal nach ihrem Willen gehen? Der Unfall wurde Jörg und die Geschichte seiner Entstehung zu einem guten Mittel, ihn gefügig zu halten, wenn man sie ihm nur häufig genug unter die Nase rieb: »Du bist ja nur entstanden, weil das Kondom abgerutscht ist!«
Jörg brauchte keinen Ersatz, auch wenn der von der Natur zunächst mit angelegt worden war. Der Jörgersatz landete nach einigen Wochen als Abgeburt in der Toilettenschüssel. Da hatte sich die Natur wohl des überflüssigen Ersatzes erinnert, der, noch ohne Verwendung, die Windeln voll kackte. Für Jörg hatte die Vorsehung eine bessere Gabe parat. Sie stattete ihn mit Charme aus. Er war zwar keine Angelika, und auch Günther löste diese Ersatzaufgabe zwangsläufig höchst unvollkommen, aber Jörg hatte von früh auf ein strahlendes Lächeln, das Marianne für ihn einnahm. Er versuchte weder, mit hysterischem Wutgeschrei, seine Ansprüche auf elterliche Liebe durchzusetzen, wie Günther es tat, noch entzog er sich mit ernstem Gesicht der unerfüllbaren Aufgabe, von Beginn an perfekt zu sein. Vielleicht half es ihm, keine Aufgabe zu haben. Den einzigen Wunsch, den er Marianne erfüllen sollte, hatte er ihr schon bei der Geburt durch sein kleines Babyschwänzchen abgeschlagen. Wo keine Erwartungen mehr sind, können auch keine Enttäuschungen folgen. So erfreute er Marianne mit kindlich dreistem Charme, krabbelte und lief fast zur gleichen Zeit, wie seine älteren Brüder und brachte denen bei, wie man das Gitter des Laufstalls überwindet.
Der Vater hat sich inzwischen von seinem Pyjama getrennt und steht im Feinrippunterhemd und blauer Turnhose, ein Geschirrtuch über der Schulter an den Türrahmen gelehnt und fordert uns zum Aufstehen auf.
Die Mutter singt nicht mehr. Sie hat das Wasser abgedreht. Trocken wird sie werden, wenn sie sich an Jörg kuschelt, wenn sie nass und nackt unter seine Bettdecke schlüpft und sich an ihm reibt, während der sich schlafend stellt.
Jörg ist Mamas Liebling, bevorzugtes Kind. Zu ihm geht sie immer zuerst, nimmt ihm den Daumen aus dem Mund und steckt ihn in ihren, schlingt Jörg in ihre liebenden Arme. Er stößt sie nur selten von sich, er kümmert sich nicht um sie. Sie kann ihm in die Ohren beißen, ihm die Nase lutschen, seinen Körper an sich pressen und sich dabei beschweren, wie lieblos er sie empfängt. Doch so sehr er sie missachtet, ihn hat sie am meisten lieb.
Ich darf mich nicht beschweren, die Mutter ist gerecht. Sie hält jeden Morgen ihre Reihenfolge ein. Wenn sie von Jörg genug hat, versucht sie es bei Claus. Doch Claus ist kein Wunschclaus, er ist selten gefügig, er strampelt unter der Decke und versucht sich so zu drehen, dass wenigstens sein Glied nicht morgendlich aufgerichtet an ihren Bauch klatscht, dass es sich nicht reiben kann an den Schwangerschaftsstreifen, für die er die Schuld trägt.
Claus hält die Hände vors Gesicht, jeden Morgen. Er mag es nicht, wenn sie mit ihrem Speichel seine Nase einschleimt, wenn sich der glitschig triefende Geifer mütterlicher Wärme über ihn ergießt und durch die Schlafanzughose dringt.
Der Vater steht immer noch an den Türrahmen gelehnt, sieht voll hilflosem Zorn, wie Claus der Mutter verweigert, was er ihr so gern geben würde, hört sich die Antwort an, die Marianne ihrem Ältesten gibt, als der ihr sagt:
»Geh doch zu deinem Mann. Der ist dafür zuständig!«
»Der will das ja. Dann bringt es keinen Spaß.«
Ach würde der Vater doch etwas weniger wollen - würde es ihr dann Spaß mit ihm bringen?
Erst wenn die Mama einsieht, dass sie bei Claus keinen Erfolg hat, darf ich mich ihrer erfreuen. Dann öffne ich bereitwillig meine Bettdecke um sie einzulassen, um ihre Liebe zu spüren, auch wenn sie mich ekelt. Sie darf gern mit mir schmusen, aber ich drehe mich fort, sobald sie ihren Mund an meine Nase presst, an meine Ohren. Sobald ihre glibberige Zunge über mein Gesicht zu lecken versucht reiße ich meine Hände nach oben, presse sie vor meinen Kopf, versuche sie auf Abstand zu halten, indem ich um mich trete.
Wie soll sie mich je lieben, wenn ich mich so verhalte? Kann ich nicht dankbar sein, dass sie überhaupt zu mir kommt? Warum trete ich ihr in die schmerzenden Krampfadern, wenn sie mich liebt? Warum tu ich ihr weh, so weh, dass sie sich nicht zu helfen weiß, dass sie keinen Spaß mehr verstehen kann, wie sie es bei Claus Ablehnungen noch schafft? Warum lasse ich ihr nicht die Chance, mich zu lieben, wie sie meine Brüder liebt?
Die Hilflosigkeit des Vaters wächst. Er rührt sich nicht, wenn seine Frau mir die schützende Decke vom Körper reißt, mir den Pyjama von den Beinen zerrt und sich für die Schmerzen rächt, die ich ihr zufüge. Könnte ich doch bloß genießen, dass sie mich liebt.
Wenn sie auf mich eindrischt, kann der Vater sich rühren, dann kann er sich geschirrtuchbewaffnet über die Spülmaschine beugen und die Tassen und Teller herausholen. Er kann den Kaffee in die Thermoskanne füllen und sich unter die Dusche stellen.
Er wartet immer bis Claus und Jörg sich die Spuren der mütterlichen Sehnsucht abgewaschen haben, bis sie den Schweiß der Nacht und den Schmutz des Morgens von der Haut gescheuert haben. Erst dann weiß er, er hat Zeit, denn meine Liebesbeweise können noch etwas dauern.
Vielleicht hätte sie keinen Spaß, wenn ich es wollen würde? Aber ich will es doch, ich sehne mich doch nach ihrer Liebe, ich ertrage sie nur nicht, so sehr ich mich auch bemühe.
»Du weißt doch, wie sie ist«, versucht mein Vater mich zu trösten, als ich ihn im Bad ablöse. »Warum provozierst du es immer wieder?«
Und als ich aus der Dusche steige, und mich abtrockne, scheint die Sonne wieder, das Morgengrauen hat sich aufgelöst, der Dunst sich verzogen und meine Mutter hat sich auf die Toilette gesetzt, während das Wasser hart und heiß an mir herabrinnt. Wir singen uns Schimpfworte durch das Rauschen der Brause zu.
»Alles wieder gut mein Eindringling?« fragt sie liebevoll und tätschelt meinen feuchten Po.
Sie liebt mich doch.
Ich kann mich beruhigt an den Frühstückstisch setzen, meinen Kaffee trinken und eine Scheibe Toast mit Nutella genießen. Ich kann von der Arbeit erzählen, die wir heute schreiben werden, und die ich gewiss vergeigen werde. Auch da ist Jörg uns voraus. Er begreift viel schneller und er ist mittlerweile in der gleichen Stufe wie wir, in der Parallelklasse, der 8c.
Ein Leben als Ersatz - Willkommen
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Ein Leben als Ersatz - Die Ohrfeige
Ein Leben als Ersatz - Schuld und Strafe