Ein Koffer voller Liebe
Die Glocken der kleinen Friedhofskirche waren schon seit einer Weile verklungen und der helle unscheinbare Sarg mit ihrer Mutter war nun unter der Erde. Marie stand noch immer am Grab - vollkommen alleine, denn die Freunde und Nachbarn, die ihrer Mutter die letzte Ehre erwiesen hatten, waren alle schon fort. Aber das war auch gut so, denn Marie wollte noch ein wenig alleine sein mit ihren Gedanken und mit ihrer Trauer. Sie stand nun vor dem großen Blumenmeer und die Tränen flossen über ihr blasses Gesicht mit den kleinen Sommersprossen und lagen auf den Blumen wie der Tau am Morgen. Nun hatte sie niemand mehr, denn ihr Vater war bereits vor 3 Jahren nach langer Krankheit verstorben. Marie war sehr mit ihrer Mutter verbunden, und das schon immer. Sie hatte natürlich auch ihren Papa geliebt, aber das Verhältnis zu Mama war etwas ganz besonderes. Sie hatten wirklich alles geteilt, Freude, Leid und sogar Geheimnisse, sie konnten sich einfach alles anvertrauen. Doch etwas gab es, was ihre Mutter nicht mit ihr geteilt hatte, das wußte sie zwar noch nicht, aber sie sollte es bald erfahren.
Marie trocknete ihre Tränen und ging den Weg zurück, vorbei an der Kapelle zu ihrem Benji. Benji war ihr schwarzer Kleinwagen, den sie zu ihrem 18.Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte, das war jetzt fast 7 Jahre her, wie doch die Zeit verging. Er war nichts besonderes, doch sie liebte dieses Auto. Sie war überhaupt ganz anders als die Frauen in ihrem Alter, sie ging wenig aus, war von natürlicher Schönheit und mit ihrem blonden Haar und ihrer hellen Haut wirkte sie fast wie eine Elfe. Der einzige Unterschied war, dass sie kurzes Haar hatte, die sich oft schwer bändigen ließen. Aber ihre Ausstrahlung war auf jeden Fall elfengleich und fast alle waren von ihr verzaubert, weil sie immer fröhlich war mit einem Lächeln auf den Lippen und dazu noch ein gutes Herz hatte.
Marie schloß die Wohnungstür auf und legte in der Diele ihre Tasche und ihre Jacke auf dem Garderobenschrank ab der dort stand. Es war ein schwerer alter Bauernschrank aus heller Eiche und die Türen waren mit Bauernmalerei in mehreren Farben verziert. Langsam trat sie in das kleine Wohnzimmer, welches ebenfalls mit alten Möbeln eingerichtet war, doch diese waren weiß lackiert. Marie liebte das Alte, das Neue und Moderne gefiel ihr meist nicht und konnte auch keinen Eindruck auf sie machen. Die alten Truhen und Schränke - das war für sie Leben - und manchmal glaubte sie Stimmen daraus zu hören, die von längst vergangenem erzählten. Sie war eben einfach eine ganz besondere Frau, die aber nun auch ziemlich einsam war oder sich zumindest so fühlte, ohne ihre Mutter.
Marie kamen wieder die Tränen und da es draußen nun dunkel wurde ging sie zu Bett, doch sie lag noch lange wach ehe sie nassgeweint endlich einschlief. Sie fiel in einen tiefen Schlaf und träumte von ihren Eltern, wie sie sich nun endlich wieder an der Hand hielten und über die Schotterwege, vorbei an den bunten Wiesen gelaufen sind. Das taten ihre Eltern im Sommer gerne, denn ihre Mutter sagte immer: „ Marie - kannst du es riechen? Die Luft und das Gras, die Blumen und das Holz der Bäume? Denke immer daran, das ist das Leben!“
Aber mit einem Mal änderte sich der Traum und sie sah einen Mann neben ihrer Mutter, den sie nicht kannte und der vom Gesicht her nicht zu erkennen war. Er trug in seiner rechten Hand einen kleinen alten braunen Lederkoffer mit goldenen Ecken und Nieten und mit der linken Hand hielt er ihre Mutter ganz fest. Sie küssten sich und ihre Mutter rief laut: Ich liebe dich, nur dich und auf ewig!“ Der Mann mit dem Koffer lachte und rief: „ Auch ich werde dich mein Leben lang lieben und darüber hinaus.“ Ihr Vater war nirgends zu sehen und Marie erwachte schweißgebadet von diesem wirren Traum.
Sie ging in die Küche und brühte sich einen Tee, essen konnte sie nichts, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Nein - runter brachte sie jetzt noch nichts. Den Traum hatte sie nicht vergessen, alles war noch in ihrer Erinnerung und hielt den ganzen Tag hartnäckig in ihr fest. Der kleine braune Koffer ging ihr nicht mehr aus dem Kopf und plötzlich fiel ihr ein, dass ihre Mutter einmal zu ihr von einem alten braunen Koffer sprach: „ Meine Kleine - wenn ich einmal nicht mehr bei dir bin, dann schaue in den kleinen Koffer auf dem Dachboden, denn alles Wichtige für dich befindet sich darin.“
Marie lief die Treppe nach oben bis zu der kleinen Holztüre, die auf den Speicher führte. Sie konnte sich erinnern, sie war früher einmal als Kind mit Mama hier oben und dann nie wieder, denn sie hatte Angst weil sie glaubte, dass hier die Waldgeister ihr Unwesen trieben. Später hatte es sich dann nie mehr ergeben und sie hatte den Dachboden auch einfach vergessen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ein. Ein wenig mulmig war ihr schon, doch als sie ein paar Schritte gemacht hatte, spürte sie eine wohlige Wärme und war ganz und gar ohne Angst. Marie schaute sich um, Oh ja - hier gab es wirklich Schätze. Da - ihr kleines Kinderbett und dort - die Kiste mit den alten Puppen und den beiden Teddybären. Mutter hatte alles aufgehoben und hier liebevoll abgelegt. In der Ecke hinter ihrem Kinderbett stand Mutter‘s alte Kommode mit dem Spiegel. Wie oft stand sie davor als Kind, alte -längst vergessene Erinnerungen - kamen wieder hoch. Marie schaute sich um und mit einem Mal wurde sie bleich wie die Wand. Neben der Kommode stand ein kleiner, alter brauner Lederkoffer mit goldenen Nieten, genauso wie sie ihn im Traum in der Hand des Mannes, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, gesehen hatte. Sie holte ihn hervor - er war schäbig und eingestaubt - stellte ihn auf die alte Holzbank, setzte sich daneben und öffnete ihn mit klopfendem Herzen. Das erste was sie sah war das winzige Armband von ihrer Geburt und aus weißem Gips einen kleinen Engel, den sie selbst im Kindergarten gebastelt hatte und ihren Eltern zu Weihnachten schenkte, als sie fünf Jahre alt war. Sie legte alles vorsichtig beiseite, auch die kleinen Strampler, die sie mal getragen hatte. Darunter kam ein Bündel mit Briefen hervor, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Darüber lag aber noch ein anderer Brief und darauf stand ihr Name. MARIE. Die Schrift kannte sie nur all zu gut, es war die Schrift ihren geliebten Mutter. Sie nahm in langsam aus dem Koffer und drehte in in der Hand, bevor sie ihn mit ihren zarten Fingern behutsam öffnete. Der Brief war an Sie gerichtet und Marie begann zu lesen:
„ Marie, mein kleiner Liebling, wenn du diese Zeilen in den Händen hältst, verweile ich nicht mehr auf dieser Erde. Wir haben uns immer alles anvertraut und über alles gesprochen die letzten Jahre, doch etwas gibt es, was du nicht weißt. Ein Geheimnis gibt es, das du nicht kennst. Lange bevor ich deinen Vater kennengelernt habe, traf ich meine große Liebe, die ich mein ganzes Leben lang nie vergessen habe. Für ihn wäre ich durch jedes Feuer gegangen und hätte alles auf mich genommen, aber die Zeiten waren damals noch anders und seine Eltern waren vermögend. Sie konnten über alles bestimmen, auch über meinen geliebten Bernhard. Wir hatten niemals die geringste Chance für eine gemeinsame Zukunft, denn wir waren jung und so musste er sich damals dem Willen seiner Eltern beugen und eine andere heiraten. Ich weiß dass auch er mich immer geliebt hat, habe es all die Jahre gespürt. Ich habe Bernhard immer Briefe geschrieben, die ich aber nie an ihn abgeschickt habe, denn ich wollte es uns nicht noch schwerer machen, als es eh schon für uns beide war. Es sind einige zusammengekommen und ich möchte dich von Herzen bitten, ihm nun meine Zeilen an ihn zu überbringen. Ich möchte dass er weiß, dass ich ihn niemals vergessen habe und in Gedanken immer bei ihm war. Denke nicht, dass ich deinen Vater nicht geliebt habe, denn das tat ich, und wir führten eine gute und glückliche Ehe, waren Dir gute Eltern. Aber meine größte Liebe, meine Liebe auf ewig war Bernhard. Pass gut auf dich auf mein Kind und mein größter und einziger Wunsch ist, dass du eine solche Liebe, wie die meine war findest und nichts und niemand euch dann je mehr trennen kann.
Ich küsse dich, deine Mutter“
Marie faltete den Brief zusammen und die Tränen schossen ihr über die roten, glühenden Wangen. „Ach Mama, ich vermisse dich so und ich werde deinen Wunsch erfüllen.“
Sie holte das dicke Bündel mit der roten Schleife heraus und schaute auf die Adresse. So weit war dieser Ort gar nicht entfernt, mit dem Auto vielleicht ca. fünf bis sechs Stunden, der Ort lag in den Bergen. Doch was würde sie dort erwarten? Lebte dieser Bernhard noch, hatte er Kinder, lebte seine Frau noch und würde sie es auch verstehen oder mit Schimpf vom Hof jagen? Aber egal, es galt hier den letzten Willen ihrer Mutter zu erfüllen und das würde sie tun.
Sie sauste die Treppe hinunter, in der linken Hand die Briefe und rannte in ihr Zimmer. Sie packte hastig ihren Koffer mit den wichtigsten Dingen, schloß die Türe hinter sich ab, setzte sich bei Benji auf den Vordersitz und fuhr los. Mittlerweile war es dunkel, aber es war Juni, warm und gerade heute war auch noch Vollmond. Marie fuhr durch die Nacht, hielt zwischenzeitlich an um eine Kleinigkeit zu essen, denn ihr Magen knurrte, da sie noch nichts gegessen hatte. Außerdem hatte sie Durst, sie hatte vergessen eine Flasche Wasser mitzunehmen. Die Straßen waren ziemlich frei, doch Marie fuhr nicht schnell und so war sie bereits im Morgengrauen in dem kleinen Dorf inmitten der Berge, der Ort der auf dem Brief ihrer Mutter stand. Sie hielt mitten im Zentrum auf einem Parkplatz an und schaute auf die Karte. Das Haus musste sich etwas außerhalb befinden und es war noch viel zu früh. Sie beschloss den Sitz von Benji zu kippen und ein wenig zu schlafen. Kaum hatte sie dies getan, fiel sie in einen bleiernen Schlaf, und sie schreckte hoch, als jemand an ihre Fensterscheibe klopfte. Es waren Kinder, die vermutlich zur Schule gingen. Marie stieg aus und vertrat sich ein wenig die Beine, gegenüber befand sich eine kleine Bäckerei, in der sie sich einen Becher Kaffee und ein frisches Hörnchen holte.
Ein alter Mann kam auf das Auto zu und fragte: „Wo möchten Sie denn hin junges Fräulein? Kann ich Ihnen helfen?“ Marie lächelte und sagte freundlich: „ Ja - Danke, das wäre sehr nett. Ich kenne mich hier nicht aus und suche den Wiesenweg 7, die Familie Bucher.“ „ Ja die kenne ich, das ist ein wenig außerhalb, die Hauptstraße entlang und dann den kleinen Weg nach links abbiegen. Das können sie nicht verfehlen, denn dort gibt es nur ein Haus auf der Anhöhe.“
Marie bedankte sich mit einem freundlichen Händedruck und bog mit Benji wieder auf die Hauptstraße, dann geradeaus und links in den kleinen Weg, so wie es ihr er Mann beschrieben hatte. Sie hielt vor der großen Einfahrt an, stieg aus und läutete an dem großen geschmiedeten Eisentor, welches mit kleinen Engeln verziert war. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als aus der Sprechanlage die Stimme eines Mannes ertönte, ihrer Meinung nach aber die eines jungen Mannes.
„ Hallo und guten Tag, was ist ihr Anliegen?“ Marie antwortete: „ Ich bin Marie, die Tochter von Heide Berger, meiner Mutter und ich habe den Auftrag Herrn Bernhard Bucher etwas zu übergeben.“
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da öffnete sich auch schon das große Tor und sie ging hindurch bis zu der mit messingbeschlagenen weißen Haustüre. Diese wurde im selben Augenblick aufgesperrt und zwei Augenpaare sahen sich viele Sekunden lang sprachlos an. Vor ihr stand ein junger Mann so um die Dreißig und Marie verschlug es fast den Atem. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Mann aus ihrem Traum, der der Mamas Koffer trug und sie im Arm hatte. Nun fand auch der junge Mann seine Sprache wieder und sagte: „ Ich kenne dich, ich habe von dir geträumt!“ Marie schaute ihn verwundert an und stotterte: „ Auch ich habe von jemand geträumt, der Dir geglichen hat, aber ich konnte sein Gesicht nicht richtig sehen, doch er hatte meine Mutter im Arm und in der anderen einen braunen Koffer, in dem ich die Briefe fand, die ich Bernhard bringen soll. Das ist der letzte Wille meiner Mutter,“ sagte Marie, und die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen. „Gestern war die Beerdigung,“ sagte sie mit gesenktem Kopf, während ihr Tränen über das Gesicht liefen. Der junge Mann nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Marie‘s Herz schlug bis zum Kopf, doch diesmal nicht aus Furcht oder Angst, was sie erwarten könnte, sondern weil sie dachte, er möge sie nie mehr loslassen. Gleichzeitig zuckte sie zusammen bei dem Gedanken, denn sie konnte diese Gefühle nicht einordnen, sie kannte ihn nicht und wußte nicht das Geringste von ihm. Was war das, was geschah hier mit ihr? Sie war auf dem besten Weg, sich Hals über Kopf in den Sohn des Mannes zu verlieben, der wohl die größte Liebe ihrer Mutter war und den sie hier zum ersten Mal sah.
Er hob ihren Kopf, indem er seine Hand unter ihr Kinn legte, küsste sie vorsichtig auf die Wange und schob sie durch die Tür in die Diele mit den Worten: „ Ich bin Sebastian, Bernhard‘s Sohn, und er hat deine Mutter auch nie vergessen, war in Gedanken immer bei ihr und liebt sie wohl auf ewig. Aber dann werden sie sich ja endlich wiedersehen und können ihre Liebe leben, denn mein Vater ist vor 3 Monaten von uns gegangen, und meine Mutter lebt schon seit 4 Jahren nicht mehr. Mama hat es nie gewußt oder gespürt und meine Eltern haben eine gute und glückliche Ehe geführt.“
Wie meine Eltern auch, dachte Marie bei sich und Sebastian ging mit ihr ins Wohnzimmer. Sie setzten sich auf die Couch und redeten und redeten, sie lachten und sie weinten und es war zwischen Ihnen so, als ob sie sich schon immer kannten und da war ein Gefühl, das war so unbeschreiblich, dass es keiner von beiden glauben konnte, und doch war es da und es war Liebe. Ein tiefes Vertrauen, wohlige Wärme, Schauer von Leidenschaft die durch ihre Körper fuhr und die Gefühle explodieren ließ.
Sebastian saß neben Marie auf der Couch und er plötzlich nahm er sie stürmisch in seine Arme.
„Ich habe keine Ahnung, was mit uns hier geschehen ist, aber ich weiß, dass du meine große Liebe bist, auf die ich mein ganzes bisheriges Leben gewartet habe. Vielleicht ist es Schicksal und WIR bekommen die Chance auf ein gemeinsames Leben, die deine Mutter und mein Vater nie hatten und vielleicht möchte ja der Himmel an uns etwas gut machen. Ich glaube fest daran und weiß, dass unsere Liebe für ein ganzes Leben reicht, so wie bei Bernhard und Heide. Sag mir, was glaubst Du?“
Marie nahm Sebastians Gesicht in beide Hände und sie wußte, dass er Recht hatte, dass es so war, auch wenn jeder Verstand etwas anderes sagen und wenn jeder sie Beide für irre halten würde. Sie sah ihn mit ihren großen Augen liebevoll an und flüsterte: „ Ja mein Liebling du hast Recht, auch ich glaube dass unser Treffen vorherbestimmt war und unsere Liebe bereits im Himmel geschmiedet wurde. Und nun küss mich endlich und lass uns meiner Mutter und deinem Vater alle Ehre machen.“
Es gab nichts, was Sebastian lieber getan hätte auf dieser Welt und es gab auch nichts und niemanden, der sie jetzt hätte stören können. Das Glück und die Liebe kann so vielseitig sein, so unverständlich und unbegreiflich und auch wieder nicht, denn wer wirklich erkennt, was Glück bedeutet und wer wahrhaftig liebt, dem steht der Himmel offen.
Andrea Müller