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Ein kleines Licht am Ende des Tunnels
Der Fernseher lief, aber die Handlung des Films flimmerte an Thekla vorüber, ohne dass sie etwas davon wahrnahm. Sie starrte reglos und geistesabwesend auf den Bildschirm. Ihre Gedanken schweiften wieder ab ... zu jenem verhängnisvollen Tag vor knapp einem Jahr, als zwei Polizisten vor ihrer Wohnungstür standen und betretene Mienen nichts gutes verhießen.
„Frau Heinkes, es geht um Ihre Tochter Simone. Wir müssen Ihnen eine traurige Nachricht überbringen!“ Einer der Beamten trat noch einen Schritt näher und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. Ihr schlimmster Alptraum wurde wahr. Ein Autofahrer hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren; knallte frontal und ungebremst in eine Bushaltestelle. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Simone, ihre geliebte und einzige Tochter, die allein unter der Überdachung der Haltebucht stand, war sofort tot. Mitten aus dem Leben gerissen; ein unschuldiges junges Mädchen, das niemand etwas getan hatte. Erst sechzehn Jahre alt und voller Zukunftspläne.
Ihr Tod hinterließ eine Lücke, die Thekla`s Welt zum Stehen brachte.
Nichts war mehr, wie es einmal war. Fassungslos über das Geschehene und von Weinkrämpfen geschüttelt, schrie sie laut klagend immer wieder:
„Warum mein Kind? Lieber Gott, warum mein Kind?“
Wie versteinert stand sie am Grab; empfand nur Leere, sonst nichts. Sie hatte keine Tränen mehr; fühlte sich ausgehöhlt, ohne Kraft und Ziele. Man hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Thekla fiel in ein tiefes Loch; wo es nichts mehr gab ... keine Freude, keinen Schmerz.
Ein Jahr später ...
„Hast du deine Medikamente genommen?“, hörte sie ihren Mann fragen und seine Stimme klang leicht genervt. Auch für ihn war es eine schwere Zeit. Jan hatte wie sie gelitten; auch er konnte den Tod der geliebten Tochter kaum ertragen. Er hatte sich in seine Arbeit geflüchtet und schließlich war es ihm gelungen, in ein halbwegs normales Leben zurück zu kehren. Für Thekla gab es kein Entrinnen; sie saß in der Falle. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
„Warum sitzt du denn im Dunkeln?“ Stumm wie ein Fisch überhörte sie meist seine Fragen. So wie er sie am Morgen verlassen hatte, saß sie wieder (oder noch?) mit zugezogenen Gardinen und heruntergelassenen Rollos im Wohnzimmer. Lustlos hockte sie den ganzen Tag herum und vernachlässigte sich ... und Jan, überhaupt alles. Den Kopf auf die Knie gestützt, hielt sie ihre hochgezogenen Beine mit den Armen fest umschlungen und stierte Wände oder das Teppichmuster an.
„Wenn ich doch nur einschlafen könnte und nie mehr aufwachen würde“, sagte sie tonlos und fixierte einen ominösen Punkt in der Dunkelheit. Solche und ähnliche erschreckende Aussagen machten ihm seine Hilflosigkeit bewusst. Es half alles nichts. Kein gutes Zureden, keine Aufmunterung, keine liebevollen Worte, nichts! Thekla brütete still vor sich hin. Jans Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es schien schier ausweglos zu sein. Unterstützung fand er bei ihren Eltern, die auch nichts unversucht ließen, Thekla aus ihrem schwarzen Loch zu holen. Alle Bemühungen scheiterten kläglich. Gut gemeinte Ratschläge prallten an ihr ab.
„Kind, du musst auch an deinen Mann denken. Euer Leben geht doch weiter!“
Besorgt blickte ihre Mutter in das abweisende Gesicht ihrer Tochter.
„Reiß dich doch mal zusammen!“ Der Tonfall ihres Vaters war ungehalten. Kaum ausgesprochen, bereute er es auch schon. Er war - wie alle Beteiligten - von der Situation überfordert. Jede noch so kleine Hilfestellung wurde von Thekla im Keim erstickt. Sie fühlte sich belästigt. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte an Theklas Ohr und erreichten sie doch nicht. Ihre Teilnahmslosigkeit ließ auch Verwandte und allerbeste Freunde ratlos zurück. Sie kapselte sich ab und vegetierte dahin ... geriet immer tiefer in den Strudel der Depressionen. Es gab keinen Lichtblick mehr in ihrem Leben. Nachts lag sie stundenlang wach und haderte mit dem Schicksal. Ohne irgendwelche Mittelchen war an Schlaf gar nicht zu denken. Vor physischer Erschöpfung fiel sie in wirre Träume, aus denen sie schweißgebadet hochschreckte. Sie beneidete Jan, dessen gleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass er tief und fest schlief. Nie im Leben hatte sich Thekla so einsam, so machtlos gefühlt. Sie fürchtete sich vor jedem neuen Tag und noch mehr vor jeder weiteren, schlaflosen Nacht. Gesundheitliche Probleme machten sich bemerkbar. Ihr Körper wollte nicht mehr gehorchen. Sie litt unter Panikattacken - Herz und Kreislauf spielten verrückt. Heftige Magenschmerzen quälten sie, die häufig mit Durchfall endeten. Sie hatte keinen Appetit und nahm rapide ab. Ihre Eltern und Freunde waren in großer Sorge; redeten mit Engelszungen auf sie ein. Erst auf das ständige Drängen ihres Mannes, konsultierte sie widerwillig einen Arzt. Man schickte sie dahin und dorthin, experimentierte an ihr herum. Man stufte sie als Suizid-gefährdet ein und steckte sie vorübergehend in die Psychiatrie. Die “Götter in Weiß“ stopften sie mit bunten Pillen voll. Von Medikamenten umnebelt und wie in Trance verbrachte sie ihre Tage.
Wochen und Monate vergingen ... es gab kein Licht am Ende des Tunnels.
Wie verzweifelt müssen Menschen sein, die Selbstmord begehen? Thekla hatte lange darüber nachgedacht; alle Möglichkeiten durchgespielt. Schlaftabletten gehortet und doch nicht den Mut besessen, ihrem jämmerlichen Dasein ein Ende zu setzen. Sie hatte auf einer Brücke gestanden und in die Tiefe geblickt. Was hinderte sie daran, zu springen? Es gab nur einen Grund. Sie dachte an Jan. Ganz so durchgeknallt und selbstsüchtig, wofür sie alle hielten, war sie nicht. Sie konnte es ihm nicht antun - wollte nicht, dass er sich schuldig fühlte.
Jan fand keinen Zugang mehr zu ihrer Welt. Sie waren in einer Sackgasse gelandet, ihre Ehe stand vor dem Aus. Obwohl er alles für Thekla tat, erntete er kein Wort des Dankes, kein liebes Wort. Ihre trübsinnigen Gedanken waren nur mit einem Thema beschäftigt: Simone. Versunken in Erinnerungen, kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Jan fühlte sich auf dem Abstellgleis. Wenn er sie in den Arm nehmen wollte, stieß sie ihn weg.
„Denk` doch mal an uns. Bitte, Thekla!“, eindringlich flehte Jan sie an.
Sie ließ keine Nähe mehr zu, weil sie nichts mehr fühlte.
Immer wieder bettelte er, doch auch einmal an ihn ... an sie beide zu denken.
Er kam nicht an sie ran. Er konnte ihr nicht helfen. Ratlos sah er in das verschlossene Gesicht und wagte doch einen neuen Anlauf.
„Lass mich doch in Ruhe!“, keiferte sie ihn an. Ein anderes Mal schrie sie: „Hau doch ab!“
„Simone war auch meine Tochter. Denkst du, dass es mir nicht wehtut?“, sagte er traurig.
„Ach du ... du denkst doch nur an deinen Job, deine Karriere“, winkte sie ab.
„Hast dich nie um uns gekümmert!“ Sie war ungerecht und verletzend; nicht mehr fähig, klar zu denken. Erfüllt von Hass und Zorn auf diese ungerechte Welt. Jan hatte gekämpft - es wieder und wieder versucht. Ohne Erfolg! Thekla blieb unnahbar - er musste ständig wechselnde Stimmungsschwankungen, ihre Gleichgültigkeit ertragen. Erschöpft begann er zu resignieren, bis es kein Fünkchen Hoffnung mehr gab.
„Ich kann nicht mehr, Thekla. Ich verlasse dich“, sagte er leise und wie zu sich selbst. Er wartete auf eine Reaktion, aber es schien sie kaum zu interessieren.
„Ja, dann geh doch!“ Ungerührt blätterte sie in einem Fotoalbum.
Er würde sie verlassen ... na und? Was spielte es noch für eine Rolle?
Jan hatte seine Koffer gepackt und beim Abschied geweint. Er war nicht gegangen, weil er sie nicht mehr liebte. Er war gegangen, weil sie ihm keine Liebe mehr geben konnte. Sie wußte, es lag ganz allein an ihr. Mit dem Tod ihres Kindes war alles in ihr gestorben; sie ließ keine Gefühle mehr zu - konnte es nicht! Jan hatte so sehr auf ein Wort von ihr gewartet. Ein einziges Wort, um ihn zu halten, aber sie schwieg. Thekla sah ihm nach, wie er traurig und mit hängenden Schultern das Haus verließ.
Sie hatte alles verloren ... und fühlte doch nichts.
Die üblichen Beruhigungmittel, die man ihr verschrieben hatte, erbrachten nicht den gewünschten Erfolg; stürzten Thekla in eine noch tiefere Lethargie. Einen kleinen Fortschritt gab es erst durch die Einnahme von Antidepressiva. Ihr Zustand verbesserte sich zumindest dahingehend, dass es ihr wieder möglich war, alltägliche Dinge zu verrichten. Sie funktionierte wie eine Maschine; erfüllte ihre Aufgaben - wie auf Knopfdruck - automatisch, ohne die geringste Freude. Obwohl sie nun nicht mehr nur apathisch in einer Ecke saß, kam ihr doch alles völlig sinnlos vor.
Auf Anraten ihres Hausarztes hatte sich Thekla in eine Therapie begeben.
Anfangs hatte sie sich noch innerlich gesträubt, aber mehr und mehr wurde ihr Wille gebrochen. Nach etlichen Sitzungen gelang es allmählich, ihre Gedanken zu ordnen. Mit Hilfe des Psychologen, der einfühlsam und beharrlich an den wunden Stellen kratzte, bis sie sich ganz öffnete. Mit Macht drängten vergrabene Emotionen an die Oberfläche. Balsam für ihre Seele. Der aufgestaute Druck ihrer tiefen Verzweiflung suchte nach einem Ventil. Sie verspürte eine unglaubliche Erleichterung, als sich zum ersten Mal wieder Tränen ihren Weg bahnten. Sintflutartig brach es aus ihr heraus. Langsam, ganz langsam bröckelte die Härte von ihr ab und befreite sie von der Eiseskälte, die ihr Herz umfangen hielt.
***
Sie hatte Jan seit Wochen nicht mehr gesehen. Seine Anrufe waren immer seltener geworden; die Gespräche nur von kurzer Dauer, sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen.
Kurz vor Weihnachten lief er ihr durch Zufall über den Weg. Sie hatte ihren Wagen vor dem Einkaufscenter geparkt und war gerade damit beschäftigt, Plastiktüten im Kofferraum zu verstauen, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Hallo, wie geht es dir?“, er sah sie prüfend an. Schmal und zerbrechlich stand Thekla vor ihm. Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln und spontan umarmte Jan sie.
„Schön!“, sagte er. Sie sahen sich stumm in die Augen und blieben dicht beieinander stehen.
„Was machst du denn an Weihnachten?“, fragte er neugierig.
„Ich würde gerne mit dir feiern!“, fügte er hinzu und sah sie erwartungsvoll an.
Sie betrachtete verlegen ihre Fußspitzen und schien zu überlegen.
„Ich hätte Appetit auf gefüllte Gans“, antwortete sie nach einer Weile zögernd.
Alle Jahre wieder hatte sich Jan die Zubereitung des Festmenüs nicht nehmen lassen.
„Wie wäre es mit einem 5-Gänge-Menü?“, zwinkerte Jan und grinste breit.
„Vielleicht backe ich einen Christstollen“, sagte Thekla und ein scheues Lächeln umspielte ihren Mund.
„Schön!“, sagte er wieder und drückte ihre Hand.
Es war bitterkalt und Schneeflocken wirbelten durch die Luft; fielen sanft zur Erde. Thekla schlug ihren Mantelkragen hoch und zog den Schal noch fester. Sie blies die kalte Luft aus und wie der leichte Hauch ihres Atemzugs spürte sie ... ein kleines Licht am Ende des Tunnels.