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Ein kleiner Schritt
„Aufgeregt?“, fragt Michiyo. Die Bordärztin schält sich aus dem Overall, um in ihre Röhre zu klettern.
„Etwas“, antwortet Ralph.
All das Training und die Testläufe sind völlig aus seinem Kopf verschwunden. Am liebsten hätte er sich wieder angezogen und mit einem Tritt in der Schwerelosigkeit aus der Schlafkammer katapultiert.
„Keine Panik, alles Routine“, lächelt sie ihn an.
Er sieht an seinem nackten Körper herab, festgezurrt in den Sicherungsgurten des Stasis-Tanks. Schläuche ragen aus seinen Armbeugen. Ein weiterer steckt in der Nase. Es riecht nach Chlor.
In wenigen Minuten wird die PFC-Flüssigkeit die Luft aus seinen Lungen drücken.
Nun ist es soweit, alle Systeme drei mal geprüft, die Testläufe abgeschlossen. Nach Wochen eintöniger Simulationen und Besprechungen hat das Schiff das Ende seiner Beschleunigungskurve erreicht. Das Startfenster steht sperrangelweit offen und am Ende der Reise warten Wunder, die sich kein Mensch vorstellen kann.
Das Summen der Leuchtplatten, die in regelmäßigen Abständen aus den Wänden strahlen, drückt auf seine Ohren. Die Anderen scheinen entspannt. Antoine, der immer gut gelaunte Chemiker, hat seinen Rosenkranz zusammen mit dem Overall in dem kleinen Schrank vor seiner Röhre verstaut und schwebt nun, wie auch die junge Geologin Maria, mit geschlossenen Augen in seiner weißen Röhre. Die technische Mannschaft ist längst in ihrer Kammer auf der anderen Seite der Achse versorgt und träumt ihrem Ziel entgegen.
„Keine Panik, alles Routine“, murmelt Ralph. Nach dreimal Tiefschlaf im Training jetzt der Ernstfall. Dreimal ein paar Tage geprobt, dann werden ein paar Jahre auch klappen.
Alles Routine.
In der Stille sieht er Michiyo an, die auf einem Touchscreen tippt. Sie sind in den vergangenen Monaten gute Freunde geworden.
„Ich initiiere die Ruhephase“, verkündet die Bordärztin gewohnt sachlich, dreht ihm den Kopf zu und flüstert: „Bis in zweiundzwanzig Jahren.“
Ist das Unsicherheit in ihren Augen?
Einbildung.
Natürlich ist sie nervös. Er auch.
Alle sind doch nervös.
Leise surrend schließt sich der Permaglas-Deckel über ihm. Er kann die Gesichter der anderen sehen.
Sie wirken ruhig.
Antoine murmelt, wahrscheinlich ein Gebet.
Michiyo lächelt ihn immer noch an.
Die Status-Projektion auf dem Fenster verrät, dass ihm gerade ein Beruhigungsmittel gespritzt wird. Gleich wird das Schlafmittel folgen und nach kurzem Schlummer erwacht er dann in einer neuen Welt.
Antoines Lippen halten in ihrem Raunen inne.
Marias zusammengekniffener Mund entspannt sich.
Michiyos Augen schließen sich. Ihr Lächeln weicht einem Ausdruck vollkommener Ruhe. Wie Milch fließt Nährlösung durch die Kanüle in ihren linken Arm und vertreibt das Blut aus den Adern.
Blaues Gel steigt im Behälter auf.
Die Anzeige auf ihrem Tank wechselt von blinkendem Gelb auf Grün.
Nach und nach füllen sich alle Tanks mit dunklem Blau.
Er wartet.
So langsam sollte er eigentlich auch müde werden.