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Ein kleiner grüner Kaktus
… damit nicht alles verdarb, musste die Brust entfernt werden. Wieder Angst und endlose, kalte Nächte. Ich lag neben ihr, seit siebenundzwanzig Jahren, hilflos musste ich nun zusehen, wie sie welkte, meine einst so schöne Frau. Irgendwann keimte wieder Hoffnung auf, dieses falsche Miststück!
Ein paar Monate danach der gleiche Befund auf der anderen Seite. Total-OP. Dieses Mal hatte er schon gestreut. Wie heißt es so schön? „Dein Wille geschehe ...“, dankeschön, lieber Gott. Evi sagte dazu: „Dieses Leben ist eine Strafe.“
Aber wofür nur? Sie hatte doch niemandem etwas getan.
„Wie im Himmel, so auf Erden ...“, danke, für die schönen Aussichten, vielen, herzlichen Dank. Alles Gute kommt von oben, ... und das Schlechte? Alles kommt von Ihm, auch der Krebs.
Dieses arrogante Arschloch!
Nächtelanges Stöhnen. Kurz vor dem Ende: Morphium, Hospiz, Tod.
Und jetzt standen sie alle da. Johannes, ihr schwer leberkranker Bruder, oder soll ich sagen: der Säufer, dessen Söhne die meiste Zeit im Knast verbrachten? Die einzige Tochter trieb sich im Milieu herum. Nur sein Jüngster war vom Maurer zum Polier durchgestartet und betrieb jetzt eine kleine Baufirma, von einer Insolvenz zur nächsten. Wer sich mit ihm einließ, war ruiniert.
Oder ihre Schwester, die dreifache Witwe, die bei jedem Mal reicher wurde. Mit ihren Klunkern schaute sie verächtlich in die Runde, bevor sie ging. Dabei zog sie eine gehbehinderte und auch geistig zurückgebliebene, junge Frau hinter sich her, die stolpernd zu folgen versuchte. Es war ihre Tochter, die in verrenkter Haltung fortwährend zum Himmel schaute. Ihr Gesicht schien zu fragen: Na, fühlst du dich jetzt besser?
Ihr Name war Doloris, bei der Geburt hatte sich die Nabelschnur um den kleinen Babyhals geschlungen, gerade so lange, dass es für einen Gehirnschaden reichte.
Dann Manfred, der Junkie-Neffe, der nur zu Besuch kam, wenn er abgebrannt war und sie dann beklaute. So ging es weiter.
Schattenfiguren. Sie sangen 'Lobet den Herren' am offenen Grab. Das war Evis Rache dafür, dass
niemand sie in der schweren Zeit besucht hatte.
Und sie sangen es tatsächlich: Lobet den Herren! … am offenen Grab!
Der Pastor hatte abgeraten, aber das ließ Evi sich nicht nehmen. Bis zuletzt konnte sie darüber lachen.
Wie ich ihre Münder so andächtig auf und zugehen sah, musste ich kichern wie ein Schulbub. Mein Brustkorb fing an, sich zunächst noch stumm zu schütteln, dann der ganze Körper. Aber schließlich pressten sich rhythmisch Geräusche aus mir heraus, als drehte man einem Gecko den Hals um. Wahrscheinlich dachten sie ich weine, was ich dann auch tat ...
* * *
Antonio hörte durch die geschlossene Wohnungstür Schritte im Treppenhaus. Wenn der Chef kam, war es besser, etwas zu tun, was nach Arbeit aussah.
Er legte das handgeschriebene Blatt auf die Fensterbank zurück. Er tat es sehr vorsichtig, denn es stand ein ganzer Kakteen-Urwald darauf. Die Stachelpflanzen kämpften um den besten Platz und stützten sich dabei gegenseitig. So gragelten sie an der Scheibe hoch, dem Licht entgegen.
Der Italiener hatte noch etwas Zeit, denn sein Chef hatte jetzt den Hausmeister am Wickel, das würde dauern. Durch den Widerhall der tristen Flurwände verstand er kein Wort. Es hörte sich an, als bellten sie. So saß er auf einer freien Ecke der Fensterbank und sah zu dem alten Sofa hinüber. Das kriegen wir nie und nimmer durchs Fenster, dachte er mit Sorgenfalten auf der Stirn. Unten, von der Straße her, hörte er die Zwillinge lachen. Emilio wartete mit seinem Bruder auf den Container. Sie hielten Parkplätze dafür frei. Man würde die Mulde unter dem Fenster absetzen, so dass sie alles hinunterwerfen konnten.
Antonio machte sich daran das uralte Holzfenster, dessen Flügel noch nach außen aufgingen, zu öffnen. Die weiße Farbe des Holzrahmens war hier und da schon abgeplatzt. Antonio war neugierig, worüber die beiden dort unten lachten. Dabei schob er seine Hand wie ein Gynäkologe durch die langen und fiesen Stacheln, um den Fensterknauf anheben zu können. Vorsichtig schlängelte er auch die andere Hand hindurch, um die Fensterflügel aufzudrücken. Eine Vorahnung ließ ihn äußerste Vorsicht walten. Nur keine falsche Bewegung. Seine Hände waren wie in einem 3-D Puzzle in die Armee der Stacheln eingefügt. Es kratzte schon um die Handgelenke herum. Mit zittrigen Fingern drückte er zögerlich gegen das Holz. Der Knauf war bereits gedreht und da …!
„TONI!“, schrie es von der Tür her, die im gleichen Moment polternd aufflog. „Was ist hier los? Wieso ist der Container noch nicht da?“
Ein plötzlicher Schwall Zugluft ließ die Fensterflügel regelrecht nach außen aufplatzen. Antonio schrie und mit einem gehauchten „Haahaahaahuu“ und dem dazugehörigen Angsttimbre, folgten seine Hände so gut es ging der Bewegung des hinauskippenden Kakteengebindes.
Die Zwillinge sahen nach oben, als das Grünzeug aus der Höhe auf sie zukam. Sie rissen noch die Arme vors Gesicht, als alles mit klatschendem Geräusch samt Töpfen zwischen ihren Füßen in sämtliche Richtungen zerbarst … nichts passiert!
Antonio erwartete ein italienisches Donnerwetter, aber es kam anders. Es war diese merkwürdige Situation wie nach einem Beinaheunfall mit dem Auto. Wozu jetzt noch aufregen? Es ist vorbei. Niemand verletzt. Jeder fährt seiner Wege, ohne überhaupt Gas wegzunehmen. Die weichen Knie kommen dann später.
Emilio sah hoch und sein gebräuntes Gesicht fing an zu grinsen. Die weißen Zähne blitzten, als er die Arme in die Luft warf und anfing zu singen und zu tanzen, sein Bruder schaute zunächst entgeistert, fiel dann aber mit ein: „Mein kleiner grüner Kaktus, steht draußen am Balkon, hollari, hollari, hollaro!"
Der Chef stürzte ans offene Fenster und sah hinunter, da sangen die beiden noch lauter und grinsten hoch.
„Euch kann man nicht alleine lassen, ich ruf' da jetzt an, verflucht, wo bleiben die denn?“ Der Chef sah das altmodische Riesensofa. „Emilio, bring den Lehmann mit hoch“, rief er hinunter, „wir müssen das Sofa zerlegen!“
„Hollari, hollari, hollaro!“ kam die Bestätigung von unten.
Die ganze Zeit über hatte Antonio auf die gegenüberliegende Straßenseite geschaut. Etwas fesselte seinen Blick. Auf dem Vorplatz eines ALDI-Marktes stand ein Kämpfer und sah zu ihm herauf. Ein Schwert hing in seinem Gürtel, der die mit Ornamenten bestickte Robe zusammenhielt und die breite, gebräunte Brust offenbarte. Antonio kannte sich nicht gut mit dieser Kultur aus, aber er hatte keinen Zweifel. Die Gesichtszüge, die Haartracht, Bart, Haltung, einfach alles. Das war ein echter Mongole. Und was für einer! Die anderen Männer sahen gegen ihn aus wie Hobbits.
Was machte der da? Er stand inmitten der Einkäufer, die irgendwie einen Bogen um die imposante Erscheinung machten, aber sich ansonsten nicht weiter um ihn kümmerten.
Der Mongole sah über die Distanz fest in Antonios Augen und zog ihn in seinen Bann. Die Straßengeräusche verstummten, nur der Steppenwind strich durch die Gräser und die Luft war staubig. Der Mongole zog sein Schwert und streckte es in Antonios Richtung. So erstarrte er einen Moment lang wie ein Denkmal aus Granit.
Dann ließ der Hüne das Schwert fauchend durch die Luft sausen, wie man es seinerzeit wohl zur Begrüßung unter Kämpfern tat.
Ohne seine Augen von dem Mongolen lösen zu können, nahm Antonio schemenhaft wahr, dass die Mulde abgesetzt wurde.
Der Kämpfer schob sein Schwert wieder hinter den Gurt und verbeugte sich gegen Antonio. Dieser nickte reflexhaft zurück.
Der Mongole griff unter seinen Umhang und holte einen Bogen Papier heraus. Er hielt ihn im Wind flatternd in Antonios Richtung und lächelte. War das das Blatt von der Fensterbank, aus dem Antonio ein paar Zeilen gelesen hatte? Es musste hinübergeweht worden sein, als das Fenster aufflog. Der Mongole zerriss das Papier in winzige Stückchen und warf diese in den Wind. Das Gesicht des Mongolen strahlte jetzt Zufriedenheit aus und Antonio sah, wie sein mächtiger Bruskorb sich erleichtert hob und senkte. Ein verbeugte sich, dieses Mal zum Abschied, erneut gegen Antonio. Mit einem kurzen Pfiff rief er sein Pferd zu sich, griff dem vorbeijagenden Hengst in die Mähne und flog mit spielerischer Leichtigkeit auf den unbesattelten Rücken. In wildem Ritt galoppierte er in Richtung Busbahnhof und verschwand hinter dem Postgebäude. Antonio hörte die Hufschläge und sah den aufstiebenden Steppensand, der herüberwehte. Langsam kamen die Straßengeräusche wieder.
Antonio sah hinter sich, in die verblüfften Gesichter seines Chefs und der Zwillinge. Sie standen offenbar schon die ganze Zeit hinter ihm.
„Habt ihr den Mongolen auch gesehen?“, fragte er unsicher.
Emilio und sein Bruder schauten sich verdutzt an und lachten.
„Dsching, Dsching, Dschingis Khan, he, Reiter, ho, Reiter ...“
Sie machten sich daran, die kleine Wohnung auszuräumen. Möbel und Hausrat warfen sie durch das Fenster in die Mulde. Dabei fiel Antonio ein altmodisches Fotoalbum herunter. Wie es da so aufgeschlagen auf dem Boden lag, fiel sein Blick auf ein typisch rotstichiges Bild aus den Siebzigern. Es zeigte einen kleinen, dicken Glatzkopf in einem Polstersessel, so um die Vierzig, der mit einem Sektglas verschmitzt in die Kamera prostete. Seine schmalen Schultern wurden von Luftschlangen und Konfetti verziert. Auf der Lehne saß eine junge Dame und schmiegte sich an seine Seite.
Antonio erkannte das Gesicht des Mannes sofort wieder, während zwischen seinen Zähnen der Steppensand knirschte.