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Ein kaltes Herz
Der Leichnam des alten Mannes liegt bizarr gekrümmt, in der knapp zwei Meter tiefen Arbeitsgrube einer ehemaligen Landmaschinenwerkstatt. Der nackte Körper ist zum Teil mit Altöl bedeckt, so dass nur wenige Partien und der verklebte, schüttere Haarschopf zu sehen sind. Durch die offenstehende Seitentür kommt der kühle Hauch einer Septembernacht herein. Polizeihauptkommissar Krummbiegel steht fröstelnd an der Grubenkante und sieht nachdenklich hinunter. Kurz zuvor hatte ein Bergungstrupp der Düsseldorfer Feuerwehr ein zentnerschweres Gitterrost angehoben, welches die Bodenöffnung verschloss.
Krummbiegel sieht sich in der großen, ungenutzten Halle um. Sie ist weitgehend leergeräumt. Nur vereinzelt liegen wertlose Maschinenteile, Schrott und Müll umher. Außer dem großen, geschlossenen Einfahrtstor gibt es nur einen kleinen Seiteneingang und ein paar vor Schmutz blinde Fenster.
Die Kollegen der Spurensicherung laufen geschäftig herum und machen ihre Arbeit. Etwas abseits unterhält sich seine Assistentin, Bozena Wodritzki, mit einem Wachmann der Sicherheitsfirma, die hier gelegentlich nach dem Rechten sieht.
Mit ihren dunklen Locken und dem blassen Gesicht, den Notizblock noch in der Hand, steuert Bozena auf ihren Chef zu. Dabei tauscht sie im Vorbeigehen ein paar Worte mit dem untätig herumstehenden Rechtsmediziner aus. Der ruft ihr noch etwas hinterher und zuckt dabei mit den Schultern.
Krummbiegel hat Bozena als Assistentin angefordert, obwohl sie Justizfachangestellte ist, die kriminelle Sachverhalte nur aus den Akten kennt, aber es sind Herbstferien in NRW und zwei Kollegen sind krank.
"Was haben wir?", brummt der Kommissar.
"Also", antwortet sie gedehnt, "gegen 22.15 Uhr, vor circa drei Stunden, hat der Wachmann bei seiner Runde die aufgebrochene Seitentür entdeckt und nachgesehen. Dabei fand er die Leiche und hat uns benachrichtigt."
"Hat er jemanden gesehen?"
"Nein, das Industriegebiet ist seit geraumer Zeit stillgelegt. Da fällt jede Person auf", erklärt sie, „zwei Blocks weiter ist ein Straßenstrich, aber die haben uns gesehen und sind stiften gegangen, von denen werden wir nichts erfahren.“
"Also keine Zeugen?"
"Bis jetzt nicht", Bozena seufzt und macht eine über den Boden weisende Geste, "und so wie's hier aussieht, finden wir nichts brauchbares."
Sie stutzt, zwischen am Boden verstreutem Müll, liegt die verschmutzte, abgerissene Ecke eines Fotos. Die junge Frau hebt sie auf und zeigt sie ihrem neuen Chef auf Zeit.
"Na, wer sagt' s denn!", in den Ermittler kommt Leben, "Eine blonde Schönheit Mitte Zwanzig", er wiegt seinen massigen Kopf.
Bozena schmunzelt: "Aber nur mit viel Phantasie, hier hinten steht etwas geschrieben, ein kleines m, u und ein t. Davor und danach, das kann ich nicht lesen."
Hinter Bozena gibt Herr Brehm, der Rechtsmediziner, ein Kommando. Um ein Handgelenk der Leiche war eine Lederschlaufe gelegt worden, an der man das Opfer mittels Flaschenzug hochgehievt hatte. Jetzt dreht sich die Leiche langsam über der Öffnung, sucht ihren Ruhepunkt. Das ablaufende Öl tropft von den Zehen in die Grube zurück.
Brehm wischt mit einem gebrauchten Tempo an der Leiche herum, untersucht einen Totenfleck und die Beule am Kopf.
"Tja, ihr Lieben", erklärt er daraufhin, „vorbehaltlich einer gründlichen Untersuchung nach einer eben solchen Reinigung, sieht man eine deutliche Läsion im hinteren Bereich des Schädels mit Blutkruste. Die Totenstarre ist vorbei, was sich durch die gestreckte Haltung verrät. In Verbindung mit den Leichenflecken, soweit zu erkennen, liegt er hier ein bis zwei Tage tot herum. Anhand der blutig gekratzten Fingerkuppen kann man vermuten, dass er vergeblich versucht hat, sich zu befreien."
Bozena stöhnt leise.
"So ist es", führt Brehm weiter aus, "er ist elendig verreckt, wenn ihr mich fragt, handelt es sich um einen Racheakt."
"Na, dann ist der Fall ja gelöst.", flüstert Krummbiegel seiner Assistentin zu, als Brehm sich entfernt. Sie grinst. Helfer legen den Körper auf ein Tuch und beginnen ihn vom Öl zu befreien, bevor er in den Zinksarg kommt.
Bozena hält schützend die Hand vor den Mund, neigt sich zum Kommissar hin und säuselt mit Fistelstimme und ohne eine Miene zu verziehen: "In Särgen von Brehm liegst du bequem“
Ihrem sonst eher humorlosen Chef entfährt daraufhin ein bellendes Lachen, das in der Halle sein peinliches Echo findet. Der Mediziner sieht irritiert herüber:" Ich muss doch bitten...Hermann."
Krummbiegel schnäuzt in ein Taschentuch: "Schon gut."
Ihm fällt ein, dass Brehm’ s Bruder ein Beerdigungsunternehmen betreibt, und diesen Spruch selbst in die Welt gesetzt hat.
"So, Bozena", seufzt der behäbig wirkende Krummbiegel müde, “ich glaube wir können hier und heute nichts mehr ausrichten", er sieht auf die Uhr, "ab nach Hause!"
Sie übergeben das Foto der Spusi und verlassen die Halle.
Am nächsten Tag kommt der Chef des Morddezernates, eine gute halbe Stunde zu spät ins Präsidium. Im letzten Jahr vor dem Ruhestand reißt man sich schließlich kein Bein mehr aus. Bozena ist schon im Büro und sitzt mit einer Frau, die einen langen Sommermantel trägt, auf der Holzbank neben der Tür. Die alte Dame schluchzt und die Assistentin legt ihr ihren Arm beruhigend um die Schultern.
Als der Ermittler eintritt, sehen beide zu ihm auf und er stellt fest, dass die Seniorin rotgeweinte Augen hat, die aus dem wirren Haar blicken. Unter dem Mantel trägt sie noch ihren Pyjama. Seine Erfahrung lässt ihn die Situation sofort erkennen.
„Sozialdienst“, sagt er nur und Bozena nickt.
Sie telefoniert und kurze Zeit später kümmert sich ein Pflegedienst um die alte Dame.
„Ich habe sie schon vor Dienstbeginn unten im Eingang aufgegabelt, sie war gerade aus dem Taxi gestiegen“, berichtet Bozena, “Sie heißt Anna Knoche und vermisst seit ein paar Tagen ihren Mann.“
Krummbiegel nickt.
„Obwohl Frau Knoche zeitweise starke Demenz aufweist“, berichtet Bozena weiter, „hat sie doch zwischendurch helle Momente und ich konnte sie schon vorsichtig befragen.“
Krummbiegel ärgert sich über Bozena’ s Kompetenzüberschreitung, denn eigentlich hätte sofort eine ärztliche Untersuchung, die Unterbringung und dann erst die Befragung stattfinden müssen. ’Verdammte Urlaubszeit’, flucht er innerlich.
Bozena kümmert sich nicht weiter um seine Zornesfalten und berichtet munter weiter:
„Heute morgen lagen schon ein paar Unterlagen und Tatortfotos auf dem Tisch. Sie hat ihren Mann sofort erkannt, er heißt Oscar und war jahrzehntelang Leiter des hiesigen Jugendamtes.“
Mürrisch gießt sich Krummbiegel einen Kaffee ein.
„Oscar Knoche“, er spricht langsam, „der Name sagt mir was, irgendwie hatten wir mit dem schon zu tun...“, er wirkt nachdenklich.
„Ich habe hier den Haustürschlüssel zur Wohnung des Opfers“, den Bundring über den Zeigefinger gestreift lässt Bozena den Schlüssel unternehmungslustig hin und her baumeln. Sie genießt ihre neue Tätigkeit.
„Na, dann sehen wir uns mal dort um“, erwidert Krummbiegel.
„Ob ihr Mann Feinde hatte, dazu hat Frau Knoche nichts gesagt“, Bozena biegt in die Zielstraße ein, „aber sie meinte, dass Kollegen ihren Mann denunziert hätten, aus Neid und Missgunst, wie sie sagt. Mitarbeiter meinten immer wieder, dass man den ‚Bock zum Gärtner’ gemacht habe.“
„Wie alt war Oscar Knoche?“, fragt Krummbiegel
„Dreiundsiebzig“
„Nach der Durchsuchung der Wohnung vernehmen wir seine ehemaligen Kollegen“, der Kommissar steigt aus und geht in das Treppenhaus wo ihn Bozena überholt. Als er schnaufend die Eingangstür erreicht, hat sie schon aufgesperrt und sieht sich um. Krummbiegel bemerkt, wie seine Assistentin die Nase rümpft.
„Ein bisschen muffig“, sagt sie „dunkle, alte Möbel, die Vorhänge zu. Ehrenurkunden an der Wand.“
„Von Oscar“, Krummbiegel zeigt mit dem Finger an der Wand entlang, „Bilder aus früheren Tagen.“
Sie suchen weiter bis zur Mittagszeit, finden aber keinen Anhaltspunkt, der irgendwie mit dem Mord zusammenhängen könnte.
„Was kann der Leiter eines Jugendamtes verzapft haben, dass man ihn so bestialisch ermordet?“, bricht Bozena das müde Schweigen, kurz vor Mittag auf der Fahrt in das Präsidium, in Düsseldorf-Unterbilk.
„Ich setzte auf die Befragung seiner Kollegen“, antwortet Krummbiegel schläfrig, „außerdem dürfen wir sein Privatleben nicht außer Acht lassen“, er gähnt.
„Flugente mit Rotkohl und Klößen“, Bozena geht vorweg und steuert auf Herrn Brehm zu, der schon beim Nachtisch ist.
„Zehntausend Flugstunden, lecker, lecker!“, wird sie von dem Pathologen empfangen, der auf den leeren Stuhl gegenüber deutet. Krummbiegel schnauft mit dampfendem Teller hinterher, setzt sich neben sie.
„So ihr Lieben“, setzt Brehm an, „wollt ihr erst essen, oder soll ich euch vorher noch schnell den Appetit verderben?“
Die beiden Ermittler sehen sich an.
„Jetzt machst du uns aber neugierig“, raunt er und sie nickt. Das ungleiche Paar fängt an zu speisen und Brehm beginnt:
„Also, das Opfer hat eine Platzwunde am Hinterkopf, die mindestens zu einer kurzen Bewusstlosigkeit geführt haben muss“, er stochert in seinem Pudding herum, „des weiteren habe ich diverse Abschürfungen am ganzen Körper gefunden, die meines Erachtens nach vom Sturz in die Grube kommen. Anhand des Entzündungsgrades derselben müsste der Tote noch wenigstens drei Tage gelebt haben. Eben so lange hat er versucht sich zu befreien, was mir die schwer lädierten Fingerkuppen, Knie und Ellbogen sagen“, der Pathologe nimmt einen Löffel Pudding und berichtet weiter, „Aufgrund des dauerhaften Kontaktes zum Altöl wurden über die Haut Gifte aufgenommen, die zu einem Atemstillstand oder Nierenversagen geführt hätten, wenn das Opfer nicht schon vorher an einem Herzstillstand verstorben wäre, herbeigeführt durch Schwäche, Dehydration und Unterkühlung“, er lässt seinen Löffel sinken und schaut abwechselnd auf die Ermittler.
Bozena hält die leere Gabel hoch und piekst in die Luft: „ Wie lange hat das Opfer noch tot da gelegen?“
„Den histologischen Untersuchungen zufolge, ebenfalls drei Tage.“
Krummbiegel brummt: „Also vor sechs Tagen...“
„Sieben, verbessert Bozena, „inzwischen ist wieder ein Tag dazugekommen, genau vor einer Woche ist der Mord geschehen.“
Der Kommissar bekommt schlechte Laune: „...mindestens“, gibt er schulmeisterlich zu bedenken.
Wieder im Büro lehnt Krummbiegel sich in seinem bequemen Drehstuhl zurück und ist nach dem Essen so hundemüde, dass er einschläft. Aber Bozena ist hellwach und unternehmungslustig, sie schleicht hinaus und fährt auf eigene Faust zum Jugendamt.
Dort spricht sie mit der Leiterin, Frau Neugebohren.
„Ja, wissen Sie, den alten Herrn Knoche kenne ich gar nicht, der war vor meiner Zeit hier, aber der Herr Dr. Hansel müsste ihn gut kennen, die beiden haben einige Jahre hier zusammengearb...“, das Telefon klingelt. Die Leiterin hebt ab: „Jugendamt Düsseldorf, Neugebohren?“
Bozena hört leises Gewisper aus dem Telefon, blickt ihrem Gegenüber in’ s Gesicht.
„Aber es ist doch bereits eine Mitarbeiterin von ihnen hier...ja doch...nein...sie sitzt mir jetzt gerade gegenüber!“, Frau Neugebohren nimmt den Hörer vom Ohr, „entschuldigung, wie war noch gleich ihr Name?“
„Wodritzki“
Das Gewisper aus dem Hörer wird schlagartig lauter.
„Ja, gut“, sagt die Leiterin, „schon unterwegs, aha...na schön...ja!...wir warten dann auf sie“, die Frau legt auf.
„Ich weiß schon“, seufzt Bozena, „ mein Chef wissen Sie“, Sie streckt ihrer Gesprächspartnerin den Kopf etwas entgegen, „er ist ein bisschen...“, dabei macht sie eine Schüttelbewegung mit der gespreizten Hand und zieht die Nase kraus.
„Verstehe“, entgegnet die Leiterin.
„Sie sprachen von einem Dr. Hansel?“
„Ja, ein sehr netter Mann. Er war jahrelang Knoche ’s Stellvertreter und hat nach dessen Ausscheiden noch zwei, drei Jahre das Amt geleitet. In dieser Zeit kam ich hierher.“
„Wo finde ich ihn?“
Frau Neugebohren gibt ihr die Adresse, worauf Bozena sich erhebt.
„Aber wir sollten doch auf Herrn Krummbiegel warten...!“, wendet die Leiterin verwundert ein.
„Ach, meinem Chef begegne ich bestimmt gleich noch“, Bozena bedankt sich eilig und macht sich auf den Weg.
Als sie das Gebäude verlässt, sieht sie ihren Chef mit seinem BMW auf den Parkplatz einbiegen. Sie stockt, überlegt kurz und stellt sich hinter eine Mauerecke. Die Autotür klappt und kurz darauf ächzt Krummbiegel schnaufend und murmelnd durch die Eingangstür.
‚Neunzig Kilogramm untrainiertes Lebendgewicht wollen bewegt sein’, denkt Bozena.
Sie will gerade ihr Versteck verlassen, da kommt er noch mal raus und hält seinen Autoschlüssel am gestreckten Arm. Es piepst und blinkt, dann stürzt er endgültig hinein.
Bozena kommt in Düsseldorf-Hubbelrath an und findet die Villa in der Bergischen Landstraße. Außen ein Schild: Arno Hansel - Dr. der Psychologie.
„Ach, das tut mir aber Leid“, sagt er, nachdem er in’ s Bild gesetzt wurde, „Oscar war nicht gerade zartfühlend, aber das...“
Bozena nimmt einen Keks und trinkt einen Schluck Tee, den eine Haushälterin servierte.
„Wissen Sie“, beginnt er, „Herr Knoche war ein Leiter der alten Schule: stille sitzen – Öhrchen spitzen, Sie wissen was ich meine“, er nimmt einen Schluck Tee, “sehr autoritär, die Kinder mussten aufstehen, wenn er hereinkam, die Finger auf den Tisch, nicht sprechen, na ja, das ganze Programm eben. Und dabei hatte er keine so gute Ausbildung, wie das seinerzeit eben so war.“
Es klingelt. Kurz darauf hört man Gesprächsfetzen einer Frauenstimme von der Haustür ’...sie haben keinen Termin...bitte einen Moment Geduld...der Doktor hat schon Besuch...aber!...’, es nähern sich stampfende Schritte.
Bozena legt einen bereits genommenen Keks wieder hin und strafft ihre Haltung.
„Entschuldigung, ich müsste mal wohin“, ...zu spät.
Die Tür fliegt auf, Krummbiegel tritt mit hochrotem Kopf ein und schaut auf die traute Runde. Er holt tief Luft und poltert los:
„Wenn ich mich kurz vorstellen darf, Herr Dr. Hansel, ich bin der, die Untersuchung dieses Mordfalles leitende, Kriminalhauptkommissar Hermann Krummbiegel. Meine Assistentin haben Sie ja schon kennengelernt“, dabei wirft er ihr einen süßsäuerlichen Blick zu,
„Ach, Frau Wodritzki, seien Sie doch so lieb und warten kurz am Auto auf mich. Ich habe da noch das ein oder andere mit Herrn Dr. Hansel zu besprechen“, bei den letzten Worten macht er ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Wieder in Unterbilk, straft Krummbiegel seine Assistentin mit Nichtachtung. Und auch den ganzen Nachmittag herrscht dicke Luft im Büro.
„So, Frau Wodritzki!“, kommt er schließlich auf sie zu, eine Fotokopie in der Hand, „damit ziehen sie los und klappern sämtliche Psychologen dieser Stadt ab, ob sie diese Frau schon mal gesehen haben. Abmarsch!“
„Aber es ist doch gleich Feierab...“, sie verstummt, als sie sein Gesicht sieht.
Es ist das restaurierte Bild der Fotoecke mit der blonden Frau Mitte zwanzig: „Viel besser ist es ja nicht geworden“, murmelt sie und zieht los.
Krummbiegel sitzt jetzt alleine im Büro und denkt nach. Er hat in Hubbelrath so einiges erfahren.
Oscar Knoche war ein kaltherziger Mensch ohne Feingefühl, wie es einem Amtsleiter, der mit Kindern zu tun hat, nicht gut ansteht. Ein Vorfall von vielen sticht besonders heraus, wie Dr. Hansel berichtete:
Vor etwa dreißig Jahren sollte ein fünfjähriges Mädchen in eine Adoptivfamilie gegeben werden. Es war ein etwas schüchternes Kind, wollte nicht sofort zu ihrem neuen Vater kommen. Da setzte es Ohrfeigen, gleich bei der ersten Begegnung! Die Stiefmutter war hässlich, mit schwarzen Zähnen und auch sonst ungepflegt, sie roch. Der zukünftige großer Bruder war frech und grob. Das Mädchen hatte furchtbare Angst. Sie riss sich los und warf sich, voller dunkler Vorahnungen, vor dem damaligen Leiter Knoche, der zufällig über den Flur ging, zu Boden und umschlang bitterlich weinend seine Knie. Sie bebte am ganzen Körper und flehte darum, bleiben zu dürfen.
Oscar Knoche sah angewidert zu ihr hinunter und schüttelte sie von seinen Beinen ab, es kam nur ein leises, eisiges ‚...nein...’
Durch das Geschrei aufmerksam geworden, streckten die Mitarbeiter ihre Köpfe durch die geöffneten Türen auf den Flur hinaus, hatten alles mitbekommen. Beklemmende Stille, keiner rührte sich.
Dann, vielleicht dreizehn Jahre später, tauchte das Mädchen, jetzt eine junge Frau, wieder im Amt auf. Knoche war immer noch Leiter. Sie war sturzbetrunken und machte ein Heidenspektakel, belastete Knoche schwer. Er hätte ihr Leben zerstört, es war von Vergewaltigungen, Schlägen und Demütigungen von Seiten der Adoptiveltern die Rede. Sie wäre mit vierzehn ausgerissen, hätte auf der Straße gelebt, mit siebzehn ein Kind bekommen, das man ihr sofort wegnahm, da sie dem Alkohol verfallen war und so weiter.
Wieder waren alle Türen auf und man schaute. Es war der gleiche dunkle Flur wie damals.
Krummbiegel lehnt sich zurück. Er denkt nach. Die Frau, die heute etwa fünfunddreißig Jahre alt sein müsste, hätte allen Grund Knoche zu hassen. Das ist ein starkes Motiv.
Dr. Hansel weiß keine Namen mehr, aber ein Anruf bei Frau Neugebohren bringt Klarheit. Die Leiterin des Jugendamtes schaut noch am Telefon in die Akten: die Frau, die jetzt vierunddreißig Jahre alt ist, heißt Almut Schütt. - mut - . Jetzt hat er eine Verdächtige mit einem starken Motiv.
Aber die Sache mit dem Foto geht ihm nicht aus dem Kopf. Irgendwas stimmt nicht.
Da klingelt das Telefon.
„Bozena hier, ich weiß wer es war!“, sie platzt vor Stolz. Aber er will ihr den Triumph nicht gönnen und erwidert nur:
„Ich auch“
„Wirklich Chef? Ich hab’ da meine Zweifel, wer war’s denn, ihrer Meinung nach?“
“Die Frau auf dem Foto: Almut Schütt!“
„Die ist seit einem Jahr tot“, Krummbiegel glaubt nicht richtig zu hören, lässt sich aber nichts anmerken.
„Ach nee“, kommt es aus seinem Mund, „wie denn das?“
„Erzähl’ ich gleich Chef, bin schon auf dem Parkplatz!“
Wenig später fliegt die Tür auf. Sie schmeißt ihre Handtasche auf den Schreibtisch, baut sich dahinter auf und sieht Krummbiegel in’ s Gesicht
„Ob sie es glauben, oder nicht Chef. Gleich der erste Psychologe auf meiner Liste war ein Volltreffer. Er hat die Frau auf dem Foto sofort erkannt und weiß die ganze Geschichte, von vorn bis hinten.“
„Auch das mit der Pflegefamilie?“
„Alles!“
„Na, dann lassen sie mal hören“, er ist gespannt.
„Also“, beginnt sie, „der Psychologe heißt Udo van de Lücht und Frau Schütt war wegen schwerster psychischer Störungen jahrelang bei ihm in Behandlung. Und da sie bereits verstorben ist, darf er uns gegenüber davon berichten. Almut wurde im Alter von fünf Jahren adoptiert und...“
„ Ja, das weiß ich schon“
„Auch das sie auf der Straße lebend und alkoholabhängig mit siebzehn ein Kind bekam, das man ihr wegnahm?“
„Auch das“, er wurde ungeduldig.
„Es war eine Tochter“, berichtet sie weiter, „die ihrerseits zur Adoption freigegeben wurde und etwas mehr Glück hatte mit ihren Stiefeltern. Ihr Name: Saskia Thurau.
Aber, und das ist der Knackpunkt, Almut hatte von Anfang an heimlichen Kontakt zu ihrem Kind, wie sie ihre Tochter gefunden hat, wissen wir nicht. Sie hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Als Saskia etwa fünfzehn Jahre alt war, hat Almut sich als ihre Mutter geoutet und ihr die ganze Geschichte haarklein erzählt. Das hat Saskia nie verkraftet. Als sich Almut dann, ein Jahr später aus dem vierzehnten Stock in den Tod stürzte, kann man sich vorstellen was in einer Tochter vorgegangen sein muss.
Das war jetzt vor einem Jahr. Da ist auch Saskia ausgerissen und lebt wahrscheinlich hier in Düsseldorf auf der Straße“, Bozena lehnt sich zurück.
„Gut gemacht“, das Lob fällt ihm sichtbar schwer, „Saskia hat das stärkste Motiv, das man sich vorstellen kann, Hass auf Knoche und Liebe zur Mutter. Wir müssen sie so schnell wie möglich finden.“
Bozena nickt zustimmend.
„Chef, jetzt aber nicht böse sein, bitte. Aber ich habe vor unserem Telefonat mit dem Staatsanwalt vom Dienst gesprochen. Mit Dr. Abraham. Er hat sofort ein paar Zivilbeamte unter Zuhilfenahme eines Streetworkers, der sich in der Szene auskennt und auch die Lokalitäten weiß, losgeschickt.“
Krummbiegel ballt die Fäuste, steht auf und gibt ein paar unartikulierte Laute von sich. Als er wieder klar denken kann schreit er: „Ich habe hier die Verantwortung für alles, verdammte Scheiße noch mal!“, Bozena macht einen Schritt rückwärts und hält sich schützend die Handtasche vor die Brust:
„Tut mir leid Chef, aber sie waren unterwegs und nicht erreichbar.“
Er nimmt sein Handy und knallt es schreiend auf den Tisch: „Und was ist das!?“
„...das ist aus...“, Bozena weicht noch einen Schritt zurück und zieht den Kopf ein.
Da fliegt die Tür auf und die ganze Truppe kommt herein. Zwei Beamte in Zivil, der Streetworker, Staatsanwalt Dr. Abraham und ein in Tränen aufgelöstes junges Pärchen: Saskia mit ihrem Freund, beide in Handschellen.
Die zwei Jugendlichen haben keinen Widerstand geleistet. Saskia sagt aus, dass sie den ehemaligen Jugendamtsleiter schon öfter am Straßenstrich ‚Altes Industriegebiet’ gesehen hatte. Daher war es für sie nicht schwer, ihn mit Hilfe sexueller Avancen in die Maschinenhalle zu locken. Als Knoche eintrat hat ihr Freund mit einem Hammer von hinten zugeschlagen, woraufhin der alte Mann tot zusammenbrach. Sie entkleideten ihn um die Ermittlungen zu erschweren, stießen den Leichnam in die Grube mit Altöl und ließen dann ein angelehntes Gitterrost auf die Öffnung fallen.
Den Hammer und die Kleidung stopften sie auf dem Rückweg zu ihrer Behausung in eine Mülltonne, die am Straßenrand stand.
Das Foto, das einzige was ihr von der Mutter geblieben war, hatte sie in der Aufregung verloren, wusste aber nicht wo. Und zurück hatten sie sich nicht getraut.
Als Motiv gibt Saskia wie erwartet, den Hass auf Knoche an:“ Dieser Mann hat einfach so, quasi im Vorbeigehen, das Leben meiner Mutter zerstört und meines gleich mit. Dieser Teufel hat meine Mama in den Tod getrieben“, sie schluchzt.
Dennoch bereuen beide die Tat.
Im Büro herrscht Betroffenheit. Selbst der Hauptkommissar ist still in sich gekehrt.
Am Abend sind alle Formalitäten erledigt, Vernehmungen, Gespräche mit dem Staatsanwalt und dem Verteidiger, Protokolle und einiges mehr. Dr. Abraham meint am Ende, dass die beiden, in Anbetracht ihres jugendlichen Alters, ihres Irrtums in Bezug auf den Todeszeitpunkt und der psychischen Belastung durch die Vorgeschichte, mildernde Umstände geltend machen können, nicht zuletzt des Geständnisses wegen. Außerdem waren sie zur Tatzeit alkoholisiert und hatten sich in Rage geredet. Jedoch um einige Jahre Jugendarrest werden sie wohl nicht herumkommen.
Bozena hat sich bei Krummbiegel für ihre Alleingänge entschuldigt, wofür er im Nachhinein Verständnis äußert.
„Sie sind auch nicht anders als ich selbst in jungen Jahren“ , meint er väterlich zu ihr. Sie beschließen gemeinsam zu Abend zu essen, er lädt sie ein.
Als die Teller leer sind, sitzen sie noch bei einem Glas Wein. Sie reden über den Fall, über Schuld und Verantwortung und den Umgang mit Kindern.
Wie hätte man das Unglück verhindern können? Sie schweigen eine Weile.
„Ich werde gleich abgeholt“, läutet Bozena den Abschied ein.
„Ihr Freund“, erwidert er, „alles andere hätte mich auch stark gewundert.“
Er schmunzelt zu ihr hinüber. Da blitzen ihre Augen auf und sie strahlt wie ein Scheinwerfer, während sie sich erhebt. Ein blondes Mädchen steht am Tisch und nickt dem Kommissar zu. Dann geben sich die jungen Frauen einen etwas zu langen Kuss.
„Das ist Julia, wir wohnen jetzt zusammen.“
Man verabschiedet sich.
Krummbiegel sitzt allein am Tisch und schaut aus dem Fenster. Er sieht dem Straßenverkehr zu. Da kommen die beiden Mädchen eng umschlungen an seinem Fenster vorbei, winken noch mal hinein und laufen, gerade noch bei Grün, über eine Fußgängerampel. Er sieht ihnen noch eine Weile nach. Dann dreht er sich um, hält sein Glas hoch und ruft: „Bitte, noch eine Flasche von dem Roten hier!“