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Ein Jahr in einer Höhle
Es gab ein Jahr, da lebte ich in einer Höhle.
Verwende ich den Begriff Höhle, denken die meisten an einen Kaninchenbau oder an einen von Steinzeitmenschen behausten Felsen, aber eigentlich war es mehr eine kleine, in den Erdboden gehauene Wohnung, als eine solche Höhle.
Sie war groß und geräumig und es gab ein einfaches Bett, eine Dusche und eine Schaukel.
Dennoch spreche ich stets von einer Höhle, wenn ich jemanden von meinem Jahr erzähle, denn die Bestürzung in den Gesichtern der Leute ist mir ein Vergnügen und nur zu gerne amüsiere ich mich auf ihre Kosten.
Damals war ich noch recht jung, kaum ein Erwachsener, nur ein leichter Flaum säumte meine Oberlippe. Ich war mehr dürr als schlank und hatte gerade das Haus meiner Eltern mit einer guten Summe Zusammengespartem verlassen, um die die große, weite Weld zu erkunden.
Zunächst ging das gut, ich bereiste fremde Städte und traf neue Menschen und war gut gelaunt und voller Ambitionen, doch bereits nach zwei Monaten verließ mich die anfängliche Euphorie und ich begann mich zu langweilen.
Auf der Suche nach neuen Abenteuern gab ich mein ganzes Geld für betrunkene Nächte aus und vertrieb infolge überaus törichten Streits meinen damaligen Reisebegleiter.
Kurz, ich ließ mich gehen.
Nun kam wohl oder übel der Tag, an dem mir das Geld aus ging. Ich stand im Foyer des einzigen Hotels in einem 2.000 Einwohner Dorf und flehte um Unterschlupf für die Nacht. Ich war müde und erschöpft.
Aber der Rezeptionist hatte kein Erbarmen und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Er musste schließlich auch seine Familie ernähren.
Ich wollte mich bereits geschlagen gegeben und mich mit der Aussicht auf eine Nacht auf der Straße davon machen, als eine alte Dame mir auf die Schulter tippte und mir von einer kostenlosen Schlafstelle erzählte, nicht weit von dem Dorf entfernt. Ohne zu zögern ließ ich mir die Adresse geben und verließ das Hotel.
Die Dame war sogar so nett, mich zur Busstation zu begleiten und kaufte mir außerdem noch ein Busticket. Ich erinnere mich, dass ich eine tiefe Zuneigung und Dankbarkeit gegenüber jener fremden Helferin empfand.
Mit frischer Hoffnung fuhr ich zu dem empfohlenen Hotel, das sich als ein großes, schneeweißes Haus mit einer neurotisch sauberen Empfangshalle herausstellte.
Eine junge Frau nahm mich strahlend hinter dem Tresen in Empfang.
Die gesamte Szenerie war mir seltsam unheimlich und mein Herz pochte vor Nervosität, als ich sie nach den kostenlosen Schlafstellen fragte.
Ich war bereits überzeugt, mich verirrt zu haben und war drauf und dran mich zu entschuldigen, doch ohne Umschweife führte sie mich in ihr Büro, wo sie mich Unterlagen schneller ausfüllen ließ, als ich sie lesen konnte.
Was wirklich auf diesen Unterlagen stand, weiß ich bis heute nicht, doch irgendwo in den Archiven des Unternehmens steht vielleicht heute noch mein Name.
Die strahlende Frau führte mich über einen Kiesweg in einen dunklen Kiefernwald und öffnete mir die Tür zur Höhle Nummer 4.
In regelmäßigen Abständen von etwa 30 Metern reihten sich diese Höhlen aneinander, doch nur selten konnte ich tatsächlich einen anderen Menschen vorbeigehen hören. Anfangs war ich so erpicht auf die Anwesenheit anderer, dass ich jeden Windstoß und jedes Igelrascheln mit menschlichen Schritten verwechselte, doch diese Wachsamkeit ließ rasch nach und ich bequemte mich in der Einsamkeit meiner Höhle.
Warum ich so lange dort blieb, weiß ich eigentlich gar nicht so genau. Ich war frei zu gehen wann ich wollte, doch ich mochte es dort und so blieb ich.
Dreimal am Tag wurde mir eine Mahlzeit vor die Tür gestellt und wenn ich meine dreckige Kleidung vor die Tür legte, kam sie am nächsten Tag frisch gewaschen zurück.
Denke ich nun an diese Zeit zurück, kann ich mich eigentlich gar nicht so recht erinnern, was ich die ganzen Tage und Nächte in der Höhle so gedacht habe, doch die Zeit verging wie im Flug.
An mein Tun erinnere ich mich dafür umso besser.
Im Laufe der Zeit eignete ich mir einige wenige Tätigkeiten an, die ich Tag um Tag zu tun pflegte. Ich startete jeden Tag mit einer langen heißen Dusche, bis meine Haut gerötet war und brannte. Danach setzte ich mich nackt auf die Schaukel und aß mein Frühstück, so langsam und genüsslich wie möglich. Tatsächlich schaffte ich es, dieses Frühstück auf eine ganze Stunde zu strecken, indem ich jeden Bissen so lange kaute, bis er sich fast ganz in meinem Mund aufgelöst hatte und so dünn wie meine Spucke war, bevor ich ihn schluckte. Nach diesem Frühstück zog ich die frische Wäsche an. Ich legte mich mit dem Rücken auf den harten Boden, faltete die Hände über der Brust und konzentrierte mich gänzlich aufs Atmen, bis ich völlig weggetreten war. Wenn ich danach erwachte, war ich stets in einem seltsam entrückten Zustand, in dem ich hunderte von Kreisen in der Höhle ging, bis schließlich das Mittagessen kam und mich aus diesem Zustand riss. Ich setzte mich wieder auf die Schaukel und aß auch dieses ich langsam und genüsslich, selbst dann wenn mir das Gericht zuwider war.
Nach dem Mittagessen begann ich mich dem Sport. Zum Aufwärmen dehnte ich mich, dann machte ich Liegestützen, Kniebeugen, Handstände und Hampelmänner bis mir jeder einzelne Muskel schmerzte und meine Augen tränten.
Erst dann beendete ich die tägliche Sporteinheit mit einer eiskalten Dusche.
Das Abendessen nahm ich erneut nackt auf der Schaukel sitzend zu mir.
So war im Nu ein Tag vorüber und ich konnte mich schlafen legen, in dem guten Gewissen, dass auch der Folgende sich nicht vom Vorherigen unterscheiden würde.
Wenn ich früher jemanden von meinen Tagen in der Höhle erzählte, berichtete ich von dem intensiven Sport und den genüsslichen Mahlzeiten. Die Zuhörer gratulierten mir, denn ich hatte mich selbst gefunden und das schien mir immer sehr nett, auch wenn ich mir nie sicher war, was sie mir damit sagen wollten.
Ich fand mich nicht selber, weder an dem Tag an dem ich die Höhle verließ, noch ein Jahr danach, als ich mich wieder völlig in der Zivilisation eingelebt hatte und meine Muskeln wieder meiner natürlich dürren Statur gewichen waren.
Wenn ich jetzt zurückblicke, hat mich das Jahr in der Höhle kaum verändert. Tatsächlich bin ich mir manchmal nicht sicher, ob es nicht nur eine Einbildung war, ein Hirngespinst als Resultat durchzechter Nächte und jugendlicher Einsamkeit.
Inzwischen bin ich alt und dick und habe ein Haus und eine Frau, Kinder und Enkelkinder und Haustiere und viele andere wundervolle Dinge und wenn ich jetzt zu einigen seltenen Gelegenheiten dieses Jahr erwähne, dann spreche ich nur noch von einer Höhle, denn die Bestürzung in den Gesichtern der Leute ist mir ein Vergnügen und nur zu gerne amüsiere ich mich auf ihre Kosten.