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Ein hoffnungsloser Fall
Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob meine Nachbarn schon einmal etwas von Privatsphäre gehört haben.
Es klingelt nun schon zum dritten Mal an meiner Wohnungstür und ich freunde mich mit dem Gedanken an, dass ich früher oder später die Tür aufmachen muss. Mein unangekündigter Besucher scheint nicht aufzugeben. Wahrscheinlich hat er von draußen bereits meinen Fernseher gehört, so zu tun als ob ich gerade nicht da wäre ist also auch keine Option. Ich werfe meine Bettdecke auf die Dreckwäsche in der Ecke, kicke ein paar leere Bierflaschen unter mein Bett und atme einmal tief durch. Bereits als ich die Tür den ersten Spalt aufgemacht habe, bereue ich es. Irgendetwas hat meinen alten Nachbarn von ganz oben beweget, sich aus der obersten Etage in meine Winzwohnung im Souterrain zu begeben. Alfried Kruppkowski, wie immer in seinem braunen Anzug und dem gebügelten Hemd sieht mich erwartungsvoll an.
„Guten Tag“, sagt er und streckt mir seine kräftige Hand entgegen.
„Morgen“, sage ich nur halbwegs freundlich und schüttle sie halbherzig. „Ich wollte nur mal fragen, wie es denn so aussieht“, sagt er und zeigt auf ein seltsam aussehendes Gerät in seiner Hand. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. „Wie es womit aussieht?“, frage ich zurück. „Junge, ich war doch über vierzig Jahre Elektrikermeister, haben Sie denn nicht meine Notiz gelesen?“
Mist, denke ich, wann habe ich eigentlich zuletzt in meinen Briefkasten geschaut? „Ne, hab ich nicht“, sage ich. „Ich hab auch ehrlich gesagt gerade gar keine Zeit“, füge ich hoffnungsvoll hinzu doch Herr Kruppowski macht keine Anstalten zu gehen.
„Kein Problem, ich bin für schnelles Arbeiten bekannt. Darf ich dann mal reinkommen? Von hier kann ich die Prüfung kaum vornehmen.“ Ich werfe einen Blick über die Schulter in mein unaufgeräumtes Zimmer. Auch das erwies sich als Fehler, denn in dem unbeobachteten Moment hat Herr Kruppowski es geschafft, sich an mir vorbei durch meine Haustür zu quetschen.
„So, dann prüf ich mal, ob sie auf ihren Geräten auch überall genug Strom haben.“ Sein kleines Gerät scheint also ein Messgerät zu sein, eifrig hält er zwei Elektroden an die Kabel meiner glühenden Nachttischlampe. „Jap, hier ist schon mal Strom drauf“, sagt er. Ich beschließe, ihm nicht zu sagen, dass ich das bereits wusste – schließlich leuchtet die Lampe ja. „Ich schätze, ich kann Ihnen dabei wohl nicht helfen?“, sage ich halb fragend, halb feststellend. „Ein Kaffee wäre nett“, sagt Herr Kruppowski. Mit einem Seufzer schließe ich die Tür. Das kann dauern.
Als ich die Tür hinter Herrn Kruppowski schließe fühle ich mich in etwa so, wie sich jeder nach einer typischen Familienfeier eines entfernten Verwandten fühlt – irgendwie müde vom Nichtstun, irgendwie genervt von den ganzen alten Geschichten und irgendwie erleichtert, den Nachmittag überlebt zu haben.
Herr Kruppowski war ganze vier Stunden geblieben, hatte mehrere Tassen Kaffee, meine Notfallkekse für das gesamte Wochenende und auch noch meinen letzten Joghurt gegessen. Dass dieser seit gut zehn Tagen abgelaufen war hatte ihn rein gar nicht gestört.
„Kind“, hatte er gesagt, „das ist doch bloß das Mindesthaltbarkeitsdatum, das ist doch nur eine Masche der Industrie, den kannst du in zwei Monaten noch essen.“
Er hatte sich großzügig die Zeit genommen, alle meine Lampen, mein Fernsehkabel, meine Ladegeräte und sogar einen alten mp3-Player, den wir in einer Kiste neben meinem Schrank gefunden hatten, auf ihren Stromfluss zu überprüfen. Nun war es also später Nachmittag, ein weiterer Tag schien an mir vorbeigezogen zu sein und ich hatte nichts weiter getan, als irgendwann gegen Mittag aufzustehen, ein Ei in der Pfanne zu verbrennen und vier Stunden mit meinem leicht senilen Nachbarn zu verbringen. Nachdenklich sitze ich auf meinem Sessel, habe die Füße auf einem Berg ungewaschener Wäsche, in einer Hand mein Handy, in der anderen eine angebrochene Flasche Bier. Ich scheine mich auf eine überreife Banane gesetzt zu haben und langsam fühle ich, wie die Fruchtpampe meine Jogginghose durchnässt. Wann genau war mein Leben eigentlich so eintönig geworden? Wann waren meine Tage einfach ineinander übergegangen und wann war das Highlight meiner Woche der Flirt mit der DHL-Lieferantin geworden, die mir meine AmazonPrime-Lieferung überreichte? Manchmal bestellte ich mir einfach ein Duschgel, nur um sie am nächsten Tag in ihrem immer leicht verschwitzten T-Shirt sehen zu können. Ein Haufen halb ausgefüllter Arbeitsblätter auf meinem Schreibtisch erinnert mich daran, dass ich wohl nicht immer so war. Vor zehn Semestern war ich mit meinen Ideen für atemberaubende Apps, der Immatrikulationsbescheinigung für mein Informatikstudium und einem selbstbedruckten Shirt meiner Mutter mit der Aufschrift „Tschüss Hotel Mama“ in die Großstadt gezogen. Mit frisch angespitzten Stiften und einem nagelneuen Karohemd war ich in die Vorlesungen des ersten Semesters gegangen. Damals hatte ich sogar einen Kalender, damals war ich tatsächlich noch pünktlich, damals hatte ich tatsächlich noch Termine, zu denen es angemessen erschien, ein Hemd zu tragen.