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Ein Herz für Ralf
Natürlich habe ich gestern vergessen, das Haus lautlos zu schalten, und jetzt rächt es sich mit „Guten Morgen Deutschland“.
„Ruhe!“, krächze ich, und das Haus verstummt.
Zum zweiten Mal wache ich auf, weil ich pissen muss. Schnell aufzustehen wäre ein Fehler, und so öffne ich erst mal die Augen. Natalie oder wie sie hieß ist natürlich nicht mehr da. Habe ich sie gestern noch rausgeworfen? Ich weiß es nicht mehr.
Das Mittagsjournal wabert lautlos über die Sonywand vor mir, und ich muss mich festhalten. Fuck, ist mir schlecht. Kotzen, pissen, und feststellen, dass Natalie oder wie sie hieß die Klobrille runtergeklappt hat.
Ich sage dem Haus, dass Dominique heute arbeitet und gehe in die Küche. Zwei Aspirin zum Eristoff und ich bin wieder Mensch.
„Es tut mir Leid, Herr Lohmann, früher ging nicht“, meint Dominique als sie gegen zwei endlich auftaucht.
„Jetzt ist auch schon egal. Klo, Schlafzimmer, und die Küche wenn ich fertig bin mit essen.“
Dominique braucht eine Stunde, aber wenigstens putzt sie gründlich.
„Ich konnte wirklich nicht schneller kommen, die Dadaisten haben die Busspur blockiert“, entschuldigt sie sich schon wieder.
Dominique hat Angst um ihre Stelle, aber ich bin kein Unmensch.
„Ist ja gut Dominique. Schönen Tag noch“, Tür zu, und endlich wieder Ruhe.
Nicole oder wie sie hieß hatte gestern natürlich auf Champagner bestanden, Pisse – kein Wunder, dass mir noch immer schlecht ist. Und natürlich, Gastripan verträgt sich nicht mit Beruhigungsmitteln. Also Magenschmerzen oder nüchtern bleiben.
Ich entscheide mich für ein paar Underberg, die helfen mit dem Magen und mit dem Distraneurin. Danach aufs Leder vor der Sonywand im Wohnzimmer und noch ein wenig ausschlafen bevor's wieder ans Feiern geht …
… und plötzlich heiße Nadeln in den Schläfen – Telefon!
„Verzeihen Sie … aber nachdem Sie bis sechzehn Uhr dreißig noch nicht online waren, dachten wir uns, fragen wir zur Sicherheit noch mal nach, ob bei Ihnen so weit alles bereit ist …“
Fuck, die Arbeit! Jetzt nur nichts anmerken lassen!
„Sicher ist bei mir alles so weit bereit! Sie denken doch nicht, dass ich den kleinen … na?“
„Schüte, Ralf … ?“
„Klar! Also denken Sie nicht, dass ich den kleinen Schüte warten lasse, oder, Günther!“
„Natürlich nicht … und bei Ihnen ist bestimmt alles in Ordnung?“
„Jetzt machen Sie sich nicht ins Hemd, in fünf Minuten bin ich online.“
Klick, weg mit dem Nokia, fuck, Kopf unter die kalte Dusche. Fuck! Und der Trip für heute Abend geht drauf, damit ich für den kleinen Schüte in die Gänge komme.
Danach die Brille aufgesetzt, die Hände in den Manipulator und online. Vor meinen Augen erscheinen die Daten von Schüte, Ralf, und eine dreidimensionale Darstellung des Jungen, Datum von vorgestern. Ich überspringe den Testlauf, und oben links tauchen die maskierten Gesichter von Günther und dem Anästhesisten auf. Darunter das Standbild eines Chinesen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Der Junge ist jetzt in Farbe, live.
Die Chromstahlarme, die sich auf den kleinen Schüte zu bewegen sind gyroskopstabilisiert und zittern lange nicht so stark wie die Arme, die ich im Manipulator nach vorne schiebe. Von rechts kommt der glänzende Arm des Chinesen und schneidet ein perfektes „T“ in die Brust des Jungen. Ich strecke sechs kristallene Finger nach vorne, tauche sie in den senkrechten Balken des „T“s und bringe die schmächtige Brust zum blühen. Aus den Augenwinkeln sehe ich die drei Assistenzärztinnen um den Jungen tanzen wie zur Walpurgisnacht, und irgend wo außerhalb des Schärfebereichs meiner Optik steht Günther und bewacht das Herz, das in den Jungen muss. Ich strecke meine Arme danach aus, aber sie sind zu kurz. Meine Arme sind zu kurz, und der Junge braucht ein Herz.
Die Hexen tanzen, und die jüngste beugt sich über den Jungen und macht irgend was an seiner Brust. Der Arm des Chinesen zittert trotz all der Gyroskope, Günther oben links lacht oder weint, das Herz strahlt wie eine Sonne, unendlich weit weg. Aber der Junge braucht ein Herz!
Und da begreife ich endlich. Der ganze Raum ist voller Herzen. Ich brauche nur die Arme auszustrecken.