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Ein Haufen Blech
1.Teil
Sonntagmorgen liegt er im Straßengraben.
Von einer zarten Schneeschicht bedeckt und einem vielseitig penetranten Geruch umgeben, liegt er nun schon eine ganze Weile dort und gibt Lebenszeichen von sich.
Mit den holprigen Geräuschen seiner Atemwege saugt er kleine Kristalle in die Nase und wirft sie flüssig wieder heraus, wo sie den Bart mit filigranen Eiszapfen verzieren und nebenbei ätherische Nebel aus dem Graben steigen lassen.
Es ist nichts besonderes, ihn da liegen zu sehen. Besonders an diesem Tag ist nur, was in seinem Kopf vorgehen sollte, sobald er sich aus dem Halbkoma erhebt.
Frau Berta, die Leiterin des Kirchenchors und auch sonst tonangebend was die Geschicke des Dorfes angehen war die erste an diesem Tag.
Mit angewiederten Gesichtsverrenkungen nähert sie sich, würgt das Frühstück hoch, schluckt, und geht mit einem Handschwenker weiter Richtung Kirche.
Es ist noch früh und die Glocken stumm.
Hans liegt da, zusammengekauert und tief in seinem Restrausch versunken, während sich von weitem die ersten Kirchgänger nähern. In einer ländlichen Gegend wie dieser ist es üblich, dass Messbesucher einen weiten Weg zurücklegen und dadurch schon sehr früh losgehen müssen, um rechtzeitig anzukommen.
So auch Familie Kurz, die heute ohne die Großmutter aufbrachen. Sie sollten als nächstes das Vergnügen haben die Unverwüstlichkeit eines Alkoholikers bestaunen zu können. Kevin, der mittelgroße und breiteste Sohn der Familie läuft voraus und pickst mit seinem Gehstock in den Arm von Hans. "Ist der tot?", fragt er beiläufig und stochert weiter. Mit einem Schmunzeln erwiedert Herr Kurz, das rustikale Oberhaupt der Familie: "Nein mein Junge. Die sind erst tot, wenn sie nicht mehr so übel stinken." Sie gehen lachend weiter und rufen den Jungen herbei.
Hans stöhnt, wendet sich, öffnet langsam ein Auge und schließt es wieder. Er macht dies mehrere male, bis sich seine Pupillen einigermaßen an des grelle Licht gewöhnen, welches die aufgehende Sonne ihm mithilfe des Schnees seitlich zuwirft. Er dreht sich auf den Rücken, blickt durch die kahlen Äste nach oben und zeichnet mit den aderdurchfluteten Augen Kreise in die Luft.
Unter den künstlich angelegten Bäumen, welche den Gehweg von einer danebenliegenden Wiese trennen und gleichmäßig über den Zaun ragen, gehen nun immer mehr Kirchgänger und streifen das Sichtfeld von Hans.
"Hey! Einen Schnaps du Witzfigur?"
"Schon wieder..."
"Der liegt ja öfter hier als der Schnee!"
Unaufhörlich prasseln Bemerkungen auf ihn hinab, mal an ihn gerichtet, mal flüsternd, mal laut, und manchmal sogar etwas Mitgefühl.
Schließlich kriecht er an den Zaun, zieht sich angestrengt hoch und lehnt sich an. In seinen steifen Haaren hängt ein Blatt, seine Jacke an den Oberarmen und er am Zaun. Im Hintergrund die schneebedeckte Wiese und davor ein Gesicht, welches von dem Weiß im Hintergrund kaum zu unterscheiden ist.
-Ding, Dong, Ding, Dong-
Immer mehr Menschen drängen sich über den Gehsteig. Sie bilden meist Dreiergruppen und unterhalten sich, bloß dort wo Hans steht lößen sich die Formationen auf.
Hans verzieht sein Gesicht, als wolle er es auftauen, streift die nasse Hose hoch und staunt. Seinen Gesichtsausdruck könnte man wohl am besten mit: "Was ist denn jetzt wieder passiert!?" beschreiben, doch das drückt Hans, der kein Mann vieler Worte ist, nur mit einem weit geöffneten Mund aus. Er hat sich wieder einigermaßen gefangen und steht nun fast auf eigenen Beinen, blickt auf seine Uhr, die an der zittrigen Hand hängt und dann auf den Kirchturm.
"Fast neun", murmelt er vor sich hin und holt tief Luft. Beim ausatmen nimmt er noch etwas Dreck mit, spuckt, stemmt sich in eine gerade Haltung und schwankt den Kirchgängern entgegen.
"Na? Auch schon wach?", fährt ihn wieder jemand an.
Hans hat Mühe an den ganzen Leuten vorbeizukommen und so erklärt er bald die Straße zu seinem Gehweg. Als er da entlangtorkelt, den Blick fest an den Teer geheftet, schreckt ihn schon bald ein Hupen auf. "Hau ab da! Kann doch nicht wahr sein!" Ein junger Mann nimmt ihn beiseite, zerrt ihn wieder auf den Gehweg und fragt fordernd: "Wohin des Weges, alter Mann?" Hans grinst, und antwortet mit brüchiger Stimme: "Na, rüber wieder."
"He Tom, hast du gehört? Der will schon wieder saufen!" Tom, ein mit Tracht gekleideter Zögling des Bäckers, was an seinem schmalen Gesicht und spärlichen Körperbau unverkennbar ist, zeigt sich interessiert: "Wenn er uns einen ausgibt!"
Johannes, der übrigends aus einem Nachbardorf stammt und neben dem halben Namen auch die Zuneigung für Alkohol mit Hans teilt, wendet sich belustig zu ihm:
"Na? Gibst du uns einen aus? Wieviel hast du?"
Hans freut sich, was man an seinen nun weit geöffneten Augen erkennen kann. Er tastet sich selbst ab und zieht die Geldtasche hervor. Mit bemerkenswerter Langsamkeit öffnet er das Papierfach, dann die Münztasche und beginnt kleine Centstücke zu zählen.
"Das ist doch ein Witz", meint Johannes spöttisch, reißt ihm die Geldtasche aus der Hand und leert den Inhalt über den Boden. "Wo ist dein Geld!? Hää? Wohl alles versoffen! Überflüssige Gestalt!"
Es ist ruhig. Die Straße ist leer, die Kirche voll, Hans am ausnüchtern und die zwei jungen Männer gehen nun ohne ihn Richtung Gasthaus.
Mit beschämten Unterton ruft er ihnen nach: "Zuhause!"
Johannes dreht sich um:" Zuhause? Und wo ist das? Hast du sowas überhaupt?"
"Oben, bei den alten Ferienhäusern, da ist mein Geld."
"Dann würde ich mal gehen, damit du vor Sonnenuntergang wieder hier bist. Alter Mann!"
Hans schweigt und es hat den Anschein als würde er nachdenken.
"Habt ihr Autos?" fragt er nach einer Weile. Doch er fragt nur die leere Straße, oder die Bäume. Sie sind verschwunden. "Und ich bin nicht alt!" fügt er bedrückt hinzu.
Tatsächlich hatte dieser junge Mann Recht was die Entfernung zu den alten Ferienhäusern betrifft. Außerdem hat dieses Dorf, in dem Hans schon immer lebt, erfolgreich auch nur die kleinsten Anzeichen von Fortschritt zu verhindern gelernt, was in diesem Fall bedeutet, dass Hans keinen Bus oder etwas ähnliches zu seinem weit entfernten Zuhause benutzen kann. Auch ein Auto zählt hier zu den eher seltenen Besitztümern. Das liegt einerseits an der gewohnten Abgeschiedenheit und Wanderlust, andererseits an der krankhaften Sturheit der Bewohner, allen voran den seit über 30 Jahren amtierenden Bürgermeister. Sein Wahlspruch lautet: "War schon immer so, weils ja geht, und bleibt auch so, weils sonst ja anders wird und dann vielleicht nicht mehr so gut geht."
Hans sieht sich um, schaut nochmal auf seine zittrige Hand und dann Richtung Kirche. Seine Augen sind nun wieder halb verschlossen. Er zieht die Jacke fest zusammen, lässt seine Hände darin verschwinden und geht los.
An der Kirche angekommen setzt er sich hin und wartet, bis die Uhr wieder viermal schlägt.
-Ding, Dong-