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Ein Hauch von Magie

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15.02.2018
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Ein Hauch von Magie

Ich bin ein Taschendieb, ein Niemand. Ich kenne keine Seele in dieser Stadt. Mein Kumpel Marco ist siebzehn und wenn ich meiner Tante glauben darf, so bin ich vielleicht zwölf.
Wir arbeiten in der Stadt, wie viele andere auch. Wir gehen dafür jeden Tag aus dem Haus, ganz wie ehrliche Menschen. Ich weiß, dass das, was wir machen, schlecht sein soll. Ich dachte früher auch mal so. Marco sagt, ich bin schnell erwachsen geworden. Er sagt, Erwachsene unterscheiden sich von Kindern dadurch, dass sie immer wissen, was sie sehen. Ein Kind, sagt Marco, sieht die Welt, wie er sie haben möchte. Ein Erwachsener kann aber sehen, wie die Welt wirklich ist.
Ich dachte immer, Marco gehört nicht zu uns Taschendieben. Sein Vater ist Priester und er stiehlt nicht aus den gleichen Gründen wie wir. Er macht es aus Trotz, offenbar weil er’s besser weiß. Marco weiß viel, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht behandelt Toni ihn deswegen auch so großzügig: Durch seine Herkunft wirkt Marco mysteriös. Davon profitiert er, betrügt gerne Toni und gibt ihm nur einen Teil von unserer Beute ab. Auch Toni weiß das, dass er betrogen wird, da bin ich mir ganz sicher. Nur ist er abergläubisch und zu faul, um sich Gedanken über die Welt zu machen. Dafür ist er kräftig, gedrungen und hat O-Beine. Und er hat genug Jungs wie uns, die für ihn arbeiten.
Wir sind insgesamt zwölf. Wir bleiben zwei, drei Monate in der Stadt, dann ziehen wir weiter. Wir sind ein halbes Jahr im Norden und den Winter verbringen wir daheim. Marco sagt, in Dänemark lässt sich am besten arbeiten. Toni findet Belgien besser. Ich, ich mag es hier.
Ich weiß nicht warum, aber hier fühle ich mich wohl. Wie zuhause. Die Sprache hier gefällt mir. Ich kann sie zwar schlecht sprechen, ich verstehe aber die Menschen gut. Meine Tante sagt, manchmal wird man wiedergeboren. Und wenn das der Fall ist, dann zieht es einen immer in die Ferne. Irgendwohin. Man muss suchen, bis man seine wahre Heimat findet.
Sie starb, meine Tante, und fand ihr eigentliches Zuhause nicht. Ich habe Glück, ich bin ein Glückspilz. Ich bin früh erwachsen und mir scheint, als wäre ich immer so gewesen.
Marco und ich, wir sind wie Brüder. Wir haben uns gegenseitig tätowiert, jeder ein umgedrehtes Kreuz am Fußgelenk. Es war Marcos Idee, und sie gefiel mir. Das Kreuz stand für etwas, etwas, was Männer gerne tun. Wir hatten es nur umgedreht, als Zeichen unseres Muts. Auch wir waren Männer und kannten den Respekt. Nur, wie es mir schien, sahen wir die Welt mit anderen Augen.
„Was ist mit deiner Tante passiert?“, sagt Marco.
„Nichts“, sage ich.
„Ist sie tot?“
„Nein.“
„Nein?“
„Sie lebt und gleichzeitig ist sie gestorben.“
„Wie das denn?“, sagt Marco.
„Meine Tante arbeitete viel“, sage ich. „Für mich, für ihre Töchter, für das Haus. Einmal, da war sie über Wochen nur müde. Und dann fiel sie um, einfach so.“
„Koma?“, sagt Marco.
„Nein, sie kam wieder zu sich. Aber sie begann, Dinge zu vergessen. Am Anfang, wie der Hund hieß, wer die Nachbarn waren. Und gegen Ende, da wusste sie nicht mehr, wer meine Kusinen waren.“
„Dich hat sie auch vergessen?“, sagt Marco.
„Ja, aber bei mir war es anders. Sie nannte mich immer Lukas, das war mein Vater. Mit mir sprach sie auch normal, nur war ich halt Lukas.“
„Lukas“, sagt Marco. „Das ist ein schwuler Name. Voll aus den Evangelien.“
„Halt’s Maul“, sage ich.
„Komm, Lukas, lass uns lieber arbeiten“, sagt Marco. Wir werfen unsere Zigaretten weg und steigen die Treppen zur U-Bahn hinab.

&

Toni sieht mich an, er blinzelt wie ein Affe. Er grinst und schlägt mir ins Gesicht. Ich spüre, wie ich vom Boden abhebe. Für den Bruchteil einer Sekunde hänge ich wie ein Astronaut in der Luft. Ich bin behäbig, meine Bewegungen dickflüssig. Ich wundere mich, warum Toni das nicht kann.
Dann falle ich mit dem Gesicht gegen die Wand. Mein Hals wird schief, es tut mir weh im Nacken. Beide Backen brennen, wie heiße Herdplatten. Mein Eckzahn hat die Lippe durchlöchert und ich schmecke Blut.
„Wenn er nichts hat, dann hol ich’s mir von dir“, sagt Toni. Marco steht hinter ihm, er ist kreideweiß, hat große, aufgerissene Augen.
„Unter der Matratze“, sage ich, „da hinten, in der Ecke.“
„Hier?“, sagt Toni. Er hebt die Matratze an. „Wer sagt’s denn, da haben wir’s, den Schatz!“
Toni sitzt die ganze Zeit vorm Fernseher. Wir gehen ihn täglich besuchen, geben unsere Sachen bei ihm ab. Dabei schaut Toni unentwegt ‚Herr der Ringe‘. Gollum hat’s ihm angetan, oder wie der Glatzkopf heißt. Heute ist ein Ehrentag, Toni kommt mal zu uns.
„Smeagol, mein Bester, du warst aber fleißig. Ein guter Junge warst du, da ist was angespart.“ Er meint natürlich mich, nicht Marco. Würde er Marcos Matratze hochheben, da wäre wirklich etwas zu holen. Marco hat so viel, dass seine Matratze einen Buckel in der Mitte macht.
„Das ist für meine Tante“, sage ich, „das habe ich mir ehrlich verdient.“
„Hast du das?“, sagt Toni. „Dann musst du mir das nachweisen, wo du die Uhren her hast, den Schmuck, das Bargeld? Was würdest du den Bullen erzählen, kleiner Smeagol?“
„Wir sind Diebe“, sage ich, „wir haben eine Ehre, ein Gesetz.“
„Haben wir?“, sagt Toni.
„Ja, das weiß doch jeder. Wenn du mich bestiehlst, dann bist du verflucht. Verflucht, in einem Grab zu modern, lebendig, für eine ganze Ewigkeit. Und niemanden wirst du haben, der mit dir auch nur ein Wort spricht. Nur du wirst da sein, du und deine blöden Witze.“
Toni schwankt, er wiegt meine Sachen in der Hand.
„Toni“, sagt Marco, „er hat dich nie bestohlen. Ich kann’s bezeugen, kann schwören, dass es wahr ist.“
Toni schaut mich eindringlich an, dann lässt er von uns ab. Er geht. Im Laufen wirft er meine Wertsachen in der Luft.
„Ich bin wie Gandalf, ihr Arschlöcher, mich könnt ihr nicht bescheißen. Ich sehe alles“, sagt Toni und knallt die Tür hinter sich zu.

&


Ich laufe die Treppen hoch, biege rechts auf eine große Kreuzung und verschwinde in den anliegenden Park. Ich trage zwei Geldbörsen mit mir, ein weißes Lederetui mit glitzernden Steinen und einen speckigen Geldbeutel mit Klettverschluss. Das Damenportemonnaie hebe ich mir für später auf, das andere öffneich schon im Laufen. Geld finde ich wenig, vielleicht zwanzig Euro. Ich ziehe die Kredit- und Bankkarten heraus, werfe den Blutspendeausweis und den Führerschein in den Müll. Es war Marcos Idee, den Studenten anzurempeln. Ich konnte gleich sehen, dass der Aufwand sich nicht lohnte. Aber Marco wusste es besser. Er fand die Freundin des Studenten interessant und nur der Gedanke an den Verlust des jungen Mannes bereitete Marco Vorfreude.
Ich suche mir einen Sitzplatz auf einer leeren Bank und warte. Ich warte auf Marco, der mit dem Studenten weiterfuhr. Er setzte sich neben die beiden Verliebten hin, fischte die Geldbörse des Typen raus und gab sie mir dann. Ich stand im Gang und wippte im Gleichklang mit einer voluminösen Dame. Die Frau war stark geschminkt und redete unentwegt in ihr Telefon. Ich öffnete ihre Tasche, als die Bahn abbremste. Zog die Geldbörse heraus, als sie wieder anfuhr. Ein guter Dieb erzwingt nichts, er lässt es immer machen: Es war die Fliehkraft, die mir die Börse brachte.
Ich sitze in der Sonne und sauge an meinem kariösen Backenzahn. Spucke gelegentlich dünnflüssigen Speichel. Ziehe dann und wann an meiner Zigarette. Der Park ist friedlich, gleich neben der Straße: eine ganz andere Welt. Ich sehe Senioren und auch ein paar Kinder. Ein Hund zieht einen jungen Mann an mir vorbei, der Mann hat nur das Smartphone im Blick.
Plötzlich höre ich: „Es ist wahr, Meister Feng, so steht es geschrieben. Ramakrishna sagt: Ein Dieb betritt einen dunklen Raum und tastet darin die verschiedenen Dinge ab.'“
Ich drehe mich um, versuche, den Sprecher ausfindig zu machen. Durch das Gestrüpp sehe ich den Pferdeschwanz: ein großer, dünner Mann. Sehe, dass die Brust sich nach innen wölbt und seine Arme lang und elastisch wie die Tentakel eines Tintenfischs sind.
„‚Der Dieb legt vielleicht seine Hand auf einen Tisch und geht weiter, indem er ‚Das ist es nicht‘ sagt“, sagt der Mann. „‚Als nächstes trifft er auf andere Gegenstände, einen Stuhl vielleicht und auch hier sagt er: ‚Das ist es nicht.‘ Er versucht sich weiter, tastet in der Dunkelheit Gegenstand nach Gegenstand ab. Schließlich fühlt seine Hand die Kiste mit dem Schatz und da ruft er: ‚Es ist hier!‘ Damit endet seine Suche. Und derart, sagt Ramakrishna, derart ist die Suche nach Gott, nach Brahman.‘“
Ich versuche, durch das Gebüsch zu blicken. Will sehen, wer sich da mit wem unterhält. Der Mann mit dem Pferdeschwanz dreht sich um: „Du kannst dich ruhig zeigen“, sagt er. Und dann, aus unerfindlichen Grund, fügt er noch hinzu: „Nur keine Angst, kleiner Dieb.“
Ich springe auf, schnippe die Zigarette weg. Ich werfe beide Geldbörsen im hohen Bogen in die Büsche und renne, was das Zeug hält.

&

Ich stehe in unserer kleinen Wohnung. Marco kam nicht wieder. Die wenigen Habseligkeiten, die wir besaßen, sind allesamt zerstört. Mein Erspartes ist ebenso weg wie Marcos. Selbst die Notreserve im Bad, die wir hinter einer losen Fliese angelegt hatten, selbst die ist nicht mehr da.
Ich schaue lange aus dem Fenster, sehe die zwei Mormonen aus dem Nachbarhaus kommen und gehen. Weiße Hemden, schwarze Stoffhosen. Sie sehen - wie immer - gepflegt und gut genährt aus. Marco machte sich stets einen Spaß daraus, sie aufzuziehen. Er sagte, dass sie ihre Zeit hier vertrödelten. Die Mormonen haben sich auf zwei Jahre verpflichtet. Sie gehen in irgendeine Großstadt dieser Welt, leben ohne Alkohol und Sex und versuchen, andere Menschen zu ihrem Glauben zu bekehren.
„Ihr kommt über den Atlantik“, sagte Marco, „und ihr verpulvert eure beste Zeit. Für nichts und wieder nichts. Dabei seid ihr nicht mehr in Utah … oder Kansas, wie Dorothy.“
Die Mormonen hörten nicht darauf. Sie fingen an, Marco von Joseph Smith zu erzählen, ihrem Propheten.
„Das kann ich auch“, sagte Marco. „Meinen Kopf in irgendeinen Sack zu stecken und Blödsinn von mir zu geben. Das ist nicht schwer, glaubt mir. Und ihr könnt das genauso gut wie ich, wetten?“
Auf diese Einwände hörten die Mormonen natürlich nicht. Sie waren es gewohnt, auf den Arm genommen zu werden. Mir imponierte ihre Ruhe, wie sie dabei weiterhin nett lächelten und gelassen weitersprachen.
„Schaut mal, Lukas hier“, sagte Marco und er zeigte auf mich. „Selbst er weiß, wie eine Frau schmeckt. Wisst ihr das auch? Nicht? Hey, Lukas, wie schmeckt eine Frau?“
„Gut“, sagte ich. Schlicht. Ich bin ein Mann und natürlich auf Diskretion bedacht. Mehr wollte ich nicht sagen, aber das war auch nicht nötig, denn Marco sagte:
„Die Stadt hier ist wie eine Goldgrube, wisst ihr das? Ihr könnt trinken und rumhuren, so viel ihr wollt. Das einzige Problem dabei sind nicht euer Gott, oder eure Propheten. Eure langen Unterhosen sind das Problem, das und die Tatsache, dass man für alles im Leben Geld braucht. Wenn ihr mir eure Unterhosen gebt, dann gebe ich euch so viel Geld, dass ihr eine Woche am Stück ununterbrochen feiern könnt. Na, wie wäre das?“
Natürlich gingen die Mormonen nicht auf Marcos Angebot ein. Warum sollten sie es auch tun? Ich sah aber den leichten Zweifel in ihren Augen, sah auch, wie sie diesen Zweifel damit bekämpften, dass sie Marco nur noch mehr missionieren wollten. Aber Marco lachte nur. So wie nur er lachen kann, mit dem ganzen Körper, ohne Zwang.
Ich warte seit zwei Tage in der Wohnung. Am dritten Tag fasse ich mich ans Herz und suche Toni auf. Ich nehme die U-Bahn, fahre quer durch die Stadt. Entkomme um ein Haar den Fahrkartenkontrolleuren. Nicht, dass mir die Kontrolleure irgendetwas anhaben können. Wenn sie mich erwischen, rufen sie die Polizei. Die Polizei kommt, nimmt mich mit. Ich bin aber minderjährig, das kann jeder sehen. Sie können mich nur in ein Jugendheim stecken. Daraus zu entkommen, ist ein Kinderspiel: Ich gehe einfach, niemand darf mich festhalten. Es ist nur eine lange Prozedur und wenn man das zwei, drei Mal mitmacht, dann achtet man in Zukunft besser darauf, nicht in so eine Situation zu geraten. Marco sagt, im Grunde könnte ich einen Mord begehen, groß anders würde es auch nicht ablaufen. Ich habe da meine Zweifel, weiß aber auch, dass Marco sich selten täuscht.
Toni ist auch verschwunden. Ich finde die Tür zu seiner Wohnung angelehnt. Auch bei ihm ist das Mobiliar zertrümmert, der Bildschirm des Fernsehers eingeschlagen, die Spielkonsole zerstört. Ich kann mir schwer einen Reim darauf machen, wer das gewesen sein könnte. Denn das machen wir gelegentlich auch, wenn wir eine Stadt verlassen und weiterziehen. Dann trinken wir und schlagen alles kurz und klein. Es ist wie eine Abschiedsfeier und das Austoben gibt uns den Mut, unsere Zelte woanders aufzuschlagen.
Ich spucke auf Tonis Sofa, dorthin, wo Toni immer gerne saß. Von dort schaute er seine ‚Herr der Ringe‘-Filme an, sprach immer großkotzig von Orks und Elfen und ähnlichem Gesindel. Ich bin Toni nicht böse, er ist nun mal ein Schwachkopf. Ich war Zeuge, wie er eine Lektion erhielt: Die Männer, an die er abliefert, die hatten ihn vor unseren Augen verprügelt. Die Männer versammelten uns alle, wollten ein Exempel an ihm statuieren. Sie zogen ihn aus. Steckten ihm eine Flasche in den Hintern. Toni blutete und weinte viel. Es nützte nichts, die Männer waren grausam, sie schlugen Toni bewusstlos. Dass er mir gelegentlich eine Ohrfeige verpasst, das ist ja gar nichts in Vergleich dazu. So ist es nun mal, wenn man erwachsen ist: Gut und Böse existieren einfach nicht mehr. Es gibt sie nur noch vermischt, ein wenig mehr von einem, ein wenig mehr vom anderen.
Es regnet ununterbrochen und ich laufe ziellos durch die Gegend. Ich bleibe vor Vitrinen stehen, sehe mir die Waren in den Regalen an. Stelle mir vor, wie es so wäre, unbekümmert einen Laden zu betreten. Ich würde mit den Verkäufern scherzen, mich danach erkundigen, ob sie Kinder hätten. Ich würde auch nicht feilschen, sondern immer den geforderten Preis zahlen. Meine Kleidung wäre elegant und respekteinflößend, ganz wie die Kleidung der Leute, die ich in den Geschäften einkaufen sehe. Dann ziehe ich weiter und nur der Lärm von Motoren und nassen Reifen begleitet mich auf meiner Wanderschaft durch die Stadt.

&

„Da bist du wieder“, höre ich. Ich bleibe stehen, blicke auf und sehe den Pferdeschwanz. Hinter mir ist eine Mauer, der Mann vor mir. Er schneidet mir den Weg ab. Zu fliehen ist unmöglich, er bewegt sich weich und gleitend, wie eine Katze. Wenn ich jetzt losrenne, holt er mich mit seinen langen Stelzen sofort ein. Ich überlege zu schreien, um Hilfe zu rufen.
„Musst du nicht“, sagt der Mann. Mein Mund ist offen, ich kann meinen Ohren nicht trauen. „Wenn du um Hilfe rufst, lässt du dir etwas Großartiges entgehen. Willst du das?“, sagt er. Und dann fügt er aus einem unerfindlichen Grund hinzu: „Du kleiner Dieb, du.“
Ich kann schwer sagen, was mit mir passiert. Eine ganze Reihe von Gefühlen bemächtigt sich meiner. Sie wechseln sich ab, ganz schnell, wie auf ein Kommando. Ich spüre Zorn und Liebe, Nervosität und Gelassenheit, Furcht und Vertrauen. Und viel, viel mehr. Da sind Empfindungen dabei, für die ich noch gar keine Bezeichnung habe. Die Gefühle vermischen sich, folgen eins auf das andere und als Resultat bin ich wie paralysiert. Ich kann mich nicht bewegen, nur denken. Und das Komische dabei ist, dass ich mir dabei zuschaue. Ich stehe daneben wie ein Zaungast, beobachte mich selbst. Ich gaffe nur, wie bei einer Militärparade. Und mit mir gafft auch der Mann, der mittlerweile herzlich lacht.
„Wie heißt du?“, sagt er.
„Lukas“, sage ich. Ich sage das wie aus der Pistole geschossen.
Der Mann lacht. „Gut, Lukas, wollen wir was essen?“
‚Ich hab' kein Hunger‘, möchte ich sagen. Stattdessen sage ich: „Klar.“ Er schlägt die Richtung vor, schiebt mich sachte an. Wir gehen gemeinsam und mir ist es, als wäre dieses gemeinsame Gehen sehr vertraut. Der Mann spricht mit mir wie mit einen Bekannten. Er fuchtelt mit den langen Armen. Sein Kopf bewegt sich wie bei einem großen Vogel und seine Augen wandern suchend überall hin.
„Meister Feng hat mir von dir erzählt“, sagt er. „Du kennst Meister Feng?“
Ich kenne niemanden dieses Namens. Ich kenne Geschichten und Filme, da kommen ‚Meister‘ vor. Aber einen Meister habe ich niemals kennengelernt. Ich kenne nur gewöhnliche Menschen, wie wir alle. Keiner von uns ist ein Meister, ich nicht, Marco nicht, nicht mal der amerikanische Präsident. Würde ich einen Meister kennen, dessen wäre ich mir sehr bewusst.
„Meister Feng?“, sage ich.
„Ja“, sagt der Mann „du erinnerst dich, das letzte Mal, im Park? Es war seine Idee, dort auf dich zu warten. Hast du ihn nicht gesehen?“
Ich schüttle den Kopf. Tatsächlich war da jemand, der Mann hatte mit jemandem gesprochen. Und doch, wenn ich versuche, darüber nachzudenken, so scheint es mir, als hätte er damals alleine auf der Bank gesessen.
„Ja“, sagt der Mann, „wenn ich von Meister Feng erzählen will, dann ist es so, als würde ich versuchen, den Wind mit der bloßen Hand zu fangen. Seine größte Eigenschaft ist die Unscheinbarkeit, verstehst du?“
„Ja“, sage ich. Ich lüge nicht, das meine ich wirklich so. Es ist die größte Errungenschaft eines Diebes, das habe ich oft genug von alten Dieben gehört. Nur schafft man es ganz selten, durchweg unscheinbar zu bleiben. Wir sind alle lediglich Menschen, die Leidenschaft geht früher oder später mit jeden von uns durch.
„Was möchtest du denn essen?“
„McDonalds“, sage ich. Ich möchte nicht zu viel von mir verraten, bedanke mich im Geist bei Meister Feng für den Tipp.
„Abgemacht“, sagt er. Wir überqueren eine Straße. Es regnet jetzt mehr und wir laufen geduckt entlang den Wänden. Manchmal bleibt der Mann stehen, wartet auf mich. Dann gleitet er wieder vorwärts, schmiegt sich wie eine Schlange zwischen Regentropfen, Passanten und Warenkörbe durch.
„Also gut“, sagt er, „hier sind wir. Bevor wir reingehen, nur noch eine Sache: Ich bin pleite, du hast nicht zufällig Geld?“
Ich blicke hoch zu dem Mann, ich blinzle. Dann schüttle ich den Kopf. Ich brauche ihm nicht von meinem Notgroschen zu erzählen, eingenäht in den Kragen meiner Jacke, die fünfhundert Euro.
„Die fassen wir nicht an, die gehören ganz dir“, sagt er. Mir ist es erneut, als könnte ich mich nicht bewegen. Als sei ich durchsichtig und der Mann blickt durch mich hindurch. Man wird bestohlen ohne jede Ablenkung, man kann den Raub sogar genau sehen.
„Dann werden wir uns selber helfen müssen“, sagt er. Er hält die Tür auf und schiebt mich sachte hinein.

&

Schon an der Tür entledigt er sich seiner Jacke. Ich mache es ihm gleich, wir setzen uns unweit der Kasse. Dann geht er, doch anstatt zu bestellen, wendet er sich den Regalen mit den abgestellten Tabletts zu. Er greift sich seelenruhig Reste von Hamburgern, Pommes, Nuggets. Die packt er sich auf ein Tablett, dann nimmt er sich die Getränke vor.
„Magst du ein Fischmac haben?“, ruft er. Ich nicke. Mittlerweile schauen ihm die meisten im Lokal zu. Hinter der Kasse steht ein junger Mitarbeiter, er wirkt unschlüssig. Er blickt um sich, als erwarte er Hilfe. Ich nehme an, sein Chef ist nicht zugegen. Er wird energisch, sagt: „Entschuldigen Sie bitte, das können Sie nicht tun!“
Darauf scheint der Mann nur gewartet zu haben. Er dreht sich um, gleitet auf die Kasse zu. Hält das Tablett mit den Resten in der Hand. Er sagt: „Es bleibt mir nichts anderes übrig, Herr … Peschke. Wenn Sie’s genau wissen wollen, mein Junge und ich haben seit Wochen nicht mehr richtig gegessen. Seit seine Mutter im Krankenhaus liegt und eine Chemo nach der anderen macht. Dass wir pleite sind, gehört dazu, finden Sie nicht auch?“
Herr Peschke räuspert sich, blickt unruhig um sich. Der Mann lässt ihm keinen Raum zu denken, sagt: „Mehr als Reste können wir uns einfach nicht leisten. Wollen Sie uns das verbieten? Was glauben Sie, wie die Presse auf so etwas reagiert?“ Er beißt in einen der Burger. Und hält mir den Rest mit ausgestrecktem Arm hin.
Tatsächlich sind mittlerweile drei Smartphones auf den Mann gerichtet. Und Peschke, bei aller Unsicherheit, weiß genau, was das dann heißt.
Peschke bringt uns ein Menü, dann noch ein zweites. Ich esse Fischmacs, bis ich die Remoulade nicht mehr riechen kann. Ich stopfe mich mit Pommes voll, als verhungerte ich. Der Mann ist auch kein Kostverächter, verschlingt gierig jeden Bissen. Wir kommen nicht dazu zu sprechen, wir essen wölfisch, schlingen ununterbrochen. Es macht jetzt sogar Spaß, wir wetteifern miteinander. Und mir scheint es, als lachten die Augen des Mannes, als sei er ein Kobold. Ein Kobold, der sich für den Nachmittag ein kleiner Scherz erlaubt.
Wir seufzen beide lange, bemühen uns, leise zu rülpsen. Peschke beobachtet uns, weiß jetzt, dass unser Hunger echt war. Er kommt, um Entschuldigung zu erbitten, ist ganz verlegen. Der Mann steht respektvoll auf, senkt dabei den Kopf.
„Ich möchte Ihnen danken, Herr Peschke“, sagt der Mann. „Sie sind ein guter Mensch und edel, vergessen Sie das nie. Das ist das Wichtige im Leben: Sie dürfen die Güte nie unterdrücken. Für nichts in der Welt eintauschen. Niemals.“
Der junge Angestellte ist verblüfft, er hält inne. Seine Augen sind groß und ich kann seine Gefühle genau nachempfinden. Mir scheint es auch, als stünde Peschke neben sich, als würde er sich selbst beobachten. Und er empfindet bestimmt keine Verwunderung, als der Mann sagt: „Ich möchte auch für Sie etwas Gutes tun, für Sie persönlich. Sie schreiben am Dienstag eine Klausur. Sie sollten hingehen, überhaupt weiter studieren. Für Dienstag brauchen Sie übrigens Trigonometrie.“
Peschke nickt, wie selbstvergessen. Ich habe es auch erlebt, man weiß einfach, der Mann sagt Wahres.
„Und wenn Sie wieder am Leben zweifeln“, sagt der Mann, „dann denken Sie an das Gute. Es muss aber für jemand anderes sein, nie für Sie. Sie werden es aber stets zurückbekommen, darauf müssen Sie vertrauen.“
Wir verlassen das Lokal, es hat aufgehört zu regnen. Es ist dunkel geworden, ein gleitender Übergang zum verregneten Tag. Der Mann hält mir wieder die Tür auf, sagt: „Viktorjeff mein Name. Du kannst mich auch Viktor nennen, wenn du magst.“ Er blickt mir in die Augen und ich, ich reiche ihm die Hand.
„Meister Viktorjeff, vielleicht?“, sage ich. Viktorjeff lacht, entblößt dabei die Zähne.
„Ein Klugscheißer bist du also auch. Nein, nicht Meister, nur Viktorjeff. Aber dann Herr Viktorjeff, verstanden? Und jetzt beweg deinen Arsch hier raus, du kleiner, fetter Dieb.“

&

„Das ist also Ihr Neffe?“, sagt Frau Ehing. „Wie reizend, er sieht so …“ Frau Ehing sucht nach Worten, schlägt die Luft wie Schlagsahne mit der Hand auf.
„Gesund“, sagt Herr Viktorjeff. „Sehen Sie ihn sich nur mal an: Pausbackig ist er, wie ein Ferkel.“
„Ja“, sagt Frau Ehing. „Sehr inspirierend.“ Sie vergisst mich aber gleich, nimmt dafür Herrn Viktorjeff an den Arm. „Sie müssen wieder zu mir kommen, Sie Guter. Sie haben mir das letzte Mal so wohl getan.“
Herr Viktorjeff sagt nichts, er kritzelt nur in seinem Notizbuch. Ich fühle mich verloren unter den vielen Leuten. Wenn ich auch gestehen muss, dass hier etwas zu holen ist. Die Menschen um uns herum sind gut betucht und nur ihr Notgroschen – das, was sie bei sich für Taxifahrten und dergleichen mit sich führen - könnte einem Dieb den Tag versüßen. Die Damen tragen schwere Bernsteinketten, viele davon aus Plastik. Immer aber ist der Plastikschmuck mit einem kostbaren Schmuckstück ergänzt. Die Brosche an Frau Ehing kostet locker einen Tausender. Zweihundert bekomme ich jederzeit dafür.
Aber ich möchte jetzt nicht daran denken. Nicht an das Stehlen, nicht an die Arbeit. Ich versuche stattdessen, zu atmen. So wie Herr Viktorjeff es mir beigebracht hat: tief im Unterbauch. Ich achte darauf, dass der Atem einen Kreis in meinem Körper bildet. Ich ziehe die Energie durch meine Fersen, führe sie durch die Lenden die Wirbelsäule hinauf. Am Scheitel lasse ich sie kurz innehalten, bevor sie wie eine Welle bricht, über mein Gesicht nach unten, entlang des Magens und dann durch die Fußspitzen wieder in den Boden raus. An diesem Kreislauf gibt’s einen Motor. Etwas, was den Fluss des Atems in Gang setzt. Es ist nicht die Lunge, wie ich zunächst dachte. Es ist der Unterbauch. Der kleine, pralle Unterbauch. Und der muss immer weich sein.
Herr Viktorjeff sagt, der Atem ist das Allerwichtigste. Er muss es wissen, denn unter den Leuten hier benimmt er sich wie ein Arzt. Er hört sich immer wieder ihre Sorgen an, sie haben stets Gebrechen. Für jeden hat er mindestens einen guten Rat. Mir aber sagt er, das wäre alles nicht nötig. Wenn man nur zu atmen wüsste, wären die meisten Probleme gar nicht da. Es ist allerdings unglaublich schwer, das zu erlernen. Dass man es regelmäßig macht und diese Atmung irgendwann natürlich wird. Dann, sagt Herr Viktorjeff, dann ist das aber das Höchste. Dann kann man heilen und mit Geistern reden, man lebt außerhalb der Zeit.
Es fällt mir natürlich schwer, das alles zu glauben. In dieser Hinsicht bin ich wohl erwachsener als er. Ich sehe aber, dass er es gut meint, keine Frage. Er möchte Gutes in der Welt bewegen.
Ich frage mich, was Marco zu alledem sagen würde. Ich denke, er würde wie mit den Mormonen verfahren, über die Menschen hier nur lachen. Genug zu lachen gibt es hier, da muss man nur die Gespräche belauschen: Kornkreise, Kondensstreifen an Flugzeugen, Fluorid. Und Geister, viele Geister. Die Herren reden über Geheimbünde mit sinisterer Macht.
„Was“, sagt Herr Viktorjeff, „dein Freund zieht über die Mormonen her? Dein Freund ist aber ein Schwachkopf, tut mir leid.“
„Warum denn?“, sage ich.
„Weil es eigentlich vollkommen egal ist, woran die Mormonen glauben. Es ist die Hingabe dabei, die wichtig ist. Das solltest du an ihnen sehen, nicht ihre Fehler.“
Ich möchte natürlich sagen, dass das noch trauriger ist. An etwas zu glauben, was gar kein Sinn macht. Dann lieber den Glauben vernünftig anlegen. In etwas, was mir auch einen Vorteil bringt.
„Ich weiß, was du denkst“, sagt Herr Viktorjeff. „Du denkst, sie sind blöd, weil sie so leben. Lass mich dir etwas über Mormonen erzählen: bei allem Schwachsinn, woran die glauben, sie haben einen Ritus in ihrem Kult, für jeden ist es eine Pflicht. Jeder Mormone muss regelmäßig tanzen. Das Tanzen ist für sie, was für dich das Atmen ist. Denk darüber nach, kleiner Fettwanst. Und lass die Augen von den Klunkern, das sage ich dir nur einmal.“
Frau Ehing bittet darum, dass alle sich versammeln. Wir treten in den Garten hinaus, stehen barhäuptig unter den Sternen. Ein Flugzeug über uns versprüht giftige Chemikalien. Man schenkt uns Wasser ein aus einer Glaskaraffe. Darin klimpert ein Amulett, es blinzelt silbrig in der Nacht.
Frau Ehing spricht über vergangene Zeiten. Als die Menschen edel waren, friedlich und erhaben. Als die Natur uns freund war, uns beschützte. Und dass es damals nicht so viele von uns Menschen gab.
Ich rieche an meinem Wasser, verziehe das Gesicht. Das Wasser riecht nach Schwefel, als hätte jemand hineingepinkelt. Ich kippe das Wasser heimlich in den Garten. Und sehe Herrn Viktorjeff, der mit seinem Wasser das Gleiche macht.

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Herr Viktorjeff ist ein Magier. Er ist jemand, der Okkultismus praktiziert. Er sagt mir, das heißt ‚dem Auge verborgen‘. Als Okkultist sieht er hinter die Dinge. Dorthin, wo man für gewöhnlich nicht hinsieht.
Herr Viktorjeff sagt, das ist ungemein gefährlich. Was hinter den Dingen lauert, kann furchtbar oder auch göttlich sein. Es kommt immer auf den Betrachter an, das ist alles. Jedes Geheimnis ist wie ein Spiegel: Es reflektiert und klärt nicht auf. Darin können sich Menschen verlieren. Gehen zugrunde an ihrer eigenen Schönheit.
Um Geheimnisse zu erfahren, dafür braucht man eine besondere Einstellung. Man darf nicht festhalten, an dem, was man eigentlich will. Man kann das Universum nicht wie ein Kaufhaus betrachten: Jetzt nehme ich mir dies und dann das. Nein, das Universum versteckt die Wahrheit. Die Erkenntnisse muss man klauen, nicht erarbeiten. Wenn man auf Arbeit setzt, dann kommt man nie voran.
Wir sind in seiner Wohnung: Herr Viktorjeff sagt, er möchte von mir lernen. Ich bin verblüfft, daran habe ich nicht gedacht. Er sagt, ich solle ihm zeigen, wie man richtig stiehlt. Ich denke wirklich, er nimmt mich auf den Arm.
Er rempelt mich an, ich spüre seine Finger in meiner Jackentasche. Ich mache große Augen, Herr Viktorjeff ist wirklich geschickt. Er zeigt mir, was er kann, die paar Handgriffe. Dann setzen wir uns hin und ich erkläre ihm mein Handwerk.
„Zunächst“, sage ich, „muss man wissen, wofür man stiehlt. Als Zeitvertreib taugt diese Beschäftigung nicht: Sie ist gefährlich und nur den Mutigen erlaubt. Man stiehlt, um zu überleben, nicht für den Luxus. Zumindest ist es das, was man mir als Dieb beigebracht hat.“
„Warum nicht für den Luxus?“, sagt Herr Viktorjeff. „Du weißt sicherlich auch, dass die Reichen die größten Diebe sind.“
„Nein, sie sind nur gierig. Alles, was sie zusätzlich stehlen, um über die Not zu kommen, ist verflucht und bringt ihnen am Ende nur Unglück. Das ist Diebesgesetz, das weiß doch jeder.“
Herr Viktorjeff beäugt mich, neigt ungläubig den Kopf.
„Heißt das, dass, wenn du an einem Tag fette Beute machst, dass du tags darauf nicht mehr stiehlst?“
„Nein, das nicht. Um gut zu stehlen, braucht man den Rhythmus. Man arbeitet eine Weile und bleibt dabei in Form. Man stiehlt nur für den Sommer, bis man sein Ziel erreicht.“
„Was ist dein Ziel?“
„Ach“, sage ich, „daran darf ich nicht denken. Der Sommer ist futsch, ich warte auf das nächste Jahr. Aber ich war dieses Jahr gut dabei, das können Sie mir glauben.“
Herr Viktorjeff überlegt, geht auf und ab im Zimmer. Manchmal bleibt er stehen, will etwas sagen. Dann grübelt er doch weiter. Ich lasse ihn denken, konzentriere mich auf das Atmen. Atme im Unterbauch ein, halte die Luft an. Schlucke trocken mehrmals hintereinander. Dann stelle ich mir eine Spirale vor dem Bauch vor. Ich lasse sie kreisen, und mit ihr entweicht langsam die Luft.
„Wie würdest du jemandem erklären, weshalb das Stehlen schlecht ist?“, sagt Herr Viktorjeff.
Ich halte die Luft an, die Frage ist ziemlich gut. Anstatt zu antworten, zwinge ich mich, zu atmen. Und wie von selbst kommen mir die Worte in den Mund: „Man wird nicht vom Blitz erschlagen, das ist schon mal sicher. Es mischt sich auch nie Gott ein, der das Diebesgut zurückgibt. Das einzige Problem ist, wie man dann die Welt sieht. Als Dieb kann ich nicht umhin zu denken, dass alle Menschen Diebe sind. Das macht einem dann zu schaffen, man wird schnell einsam. Und man fürchtet sich permanent davor, bestohlen zu werden.“
„Bist du dann einsam?“
„Nein, ich achte das Gesetz. Dafür ist es da, mich davor zu schützen. Und außerdem arbeitet man nie alleine: Man sucht sich Freunde, die zu einem halten. Die alten Diebe aber meinen, Freundschaften sind vergänglich. Das Gesetz alleine, das ist immer da.“
„Du stiehlst also für deine Tante?“, fragt Herr Viktorjeff.
Ich nicke und sage: „Und Sie, für wen stehlen dann Sie?“
„Ich denke, für die Welt“, sagt Herr Viktorjeff. „Für dich, deinen Freund Marco, deine Tante. Aber auch für Frau Ehing und Peschke von McDonalds. Wenn dabei Gutes herauskommt, stelle ich mich ganz hinten an.“
Ich bin sehr zufrieden mit Herrn Viktorjeff. Was er auch immer gedenkt zu stehlen, wenn er es auch so meint, dann hat er sicherlich darin Glück. Gewissheit kann man in unserem Beruf nie haben. Aber man spürt, wenn etwas richtig oder falsch abläuft. Und wie es aussieht, ist Herr Viktorjeff für den Beruf des Diebes vorherbestimmt.

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Ich habe mich gut eingelebt bei Herrn Viktorjeff. Wir sind gute Freunde, wenn auch nicht so wie mit Marco. Ich muss zum Rauchen immer auf den Balkon gehen, oder nach draußen, vor die Tür. Wir essen auch ganz selten Fleisch und trinken viel Wasser.
Marco würde mich nicht wiedererkennen. Ich bin in die Höhe geschossen, sehe langsam aus wie Herr Viktorjeff selbst. Meine Stimme ist brüchig, ich habe es schwer, eine Tonlage zu halten. Herr Viktorjeff sagt mir, meiner Tante geht es unverändert. Er spricht manchmal mit ihr, für gewöhnlich im Traum.
Ich weiß jetzt, dass Meister Feng ein Hirngespinst ist. Dass er manchmal Herrn Viktorjeff aufsucht, ihn unvermittelt überfällt. Dann spricht Herr Viktorjeff mit ganz hoher Stimme. Er wird dabei zu einem Asiaten, erklärt mir immer die Welt. Zugegeben, er redet viel wirres Zeug. Auch wenn Herr Viktorjeff meint, dass alles, was Meister Feng sagt, tiefsinnig ist.
„Durch die Welt zu gehen“, sagt Herr Viktorjeff mit dünner Stimme, „gelingt dir am besten als Schatten.“
Ich lache erstickt und Herr Viktorjeff ist mir nicht böse: Er lacht einfach mit. „Doch keiner von uns kann bloß zu einem Schatten schrumpfen“, sagt er. „Was uns dabei übrig bleibt, ist, wie ein alter Mann zu gehen, der im Winter einen zugefrorenen Fluss überquert.“
„Vorsichtig also?“, sage ich.
„Nein, du Dummkopf, nicht vorsichtig. Wie ich’s gesagt habe: Wie ein alter Mann, der im Winter den Fluss überquert.“
„Also doch vorsichtig“, sage ich, trotzig, mit brüchiger Stimme.
Herr Viktorjeff lacht, winkt ab. Ich bin mir sicher, dass er mir später den Unterschied erklärt.
In letzter Zeit sind Herrn Viktorjeffs Kräfte gewachsen. Er hat viel gefastet und noch mehr meditiert. Er führt Tagebuch darüber, notiert peinlich die Veränderungen, die mit ihm passieren. Er sagt, bald wird er gehen müssen, seine Reise antreten. Es trifft sich gut, denn bald sind meine Freunde wieder in der Stadt.
Ich halte manchmal nach ihnen Ausschau, besuche die alte Wohnung. Ich treffe die Mormonen, halte mit ihnen ein Schwätzchen. Der eine heißt Tom, das ist der Große von den beiden. Ben ist der Kleine, mit den weichen Augen. Und Marco haben auch sie schon lange nicht mehr gesehen.
Das mit dem Atmen, das ist eine gute Sache. Ich merke, wie sie mich verändert, etwas in mir aufweckt. Es scheint mir, als würde die Welt ein anderes Gesicht besitzen. Ich sehe es immer öfter, wenn auch stets verzerrt. Es fühlt sich so an, als würde alles eine Seele haben. Selbst das neue Smartphone, das Ben in seiner gepflegten Hand hält.
Wenn mich der Zorn überfällt, dann atme ich. Ich atme, wenn ich hungrig, durstig oder müde bin. Ich atme, wenn ich Bösem begegne, in jeglicher Form. Und liebe es mittlerweile regelrecht, wenn ich mit mir selbst im Einklang bin.
Herr Viktorjeff sagt, das ist die erste Stufe. Was danach kommt, das muss ich selbst rausfinden. Er wird nicht da sein, um mich darin zu unterrichten. Er lässt mir aber dafür seine vielen Bücher da.
Die Bücher sind sein ganzer Stolz, sein einziger Besitz. Sie füllen seine Wohnung wie eine bunte Tapete. Überall stapeln sie sich an den Wänden. Regale braucht er dafür nicht. Er weiß immer, wo etwas steht. Ob im Bad auf dem Boden oder hinter dem Schrank. Sein Gedächtnis ist beeindruckend. Wenn er sich auch in letzter Zeit damit etwas schwer tut.
Es ist bestimmt die Aufregung, die Aufregung vor seiner Abreise. Da verwechselt man manchmal ein Messer mit einer Gabel, das ist kein Weltuntergang. Seine Gedanken sind einfach nur nach vorne gerichtet. Und zielstrebig ist Herr Viktorjeff allemal.
Dann steht er eines Nachts vor der Türe. Er sagt, es sei so weit, jetzt müsse er gehen. Sein Gesicht ist eingefallen, die Züge müde. Er hat seit Tagen nicht schlafen können, hat kaum etwas gegessen. Ich sehe aber, dass er lächelt. Und das gibt mir Mut.
Herr Viktorjeff ruft Frau Ehing an, will sich verabschieden. Frau Ehing lässt alles stehen und eilt mitten in der Nacht zu uns. Sie ist es auch, die den Krankenwagen bestellt. Wir stehen unten an der Straße und sehen Herrn Viktorjeff zu: Wie er auf einer Trage in den Wagen geschoben wird, wie er dabei winkt und lächelt.
Frau Ehing kann nicht an sich halten, beginnt herzzerreißend zu weinen. Ich atme ruhig, lege ihr die Hand auf die Schulter. Und plötzlich, da ist diese Wärme. Sie fließt durch mich wie durch eine Leitung. Sie tritt durch meine Handfläche aus, versickert in Frau Ehings Körper. Ich ziehe meine Hand weg, wie elektrisiert.

&

Ich sehe Marco und Toni. Sie verlassen die Wohnung, gehen dabei gebückt. Marco hat viel abgenommen, trägt Ränder unter den Augen. Ich verfolge sie im Gewühl, sehen ihnen bei der Arbeit zu.
Marco geht jetzt grob dabei vor, nicht wie früher. Toni und er lenken kaum noch jemanden ab, wenden offen Gewalt an. Beide treiben sich um Geldautomaten herum. Sie suchen sich die Opfer je nach zu erwartendem Widerstand aus. Marco ist kein Dieb mehr, er ist jetzt ein Räuber. Und davor warnt das Gesetz nach wie vor: Wer mit Gewalt stiehlt, der darf sich nicht mehr Dieb nennen. Ein Unglücksrabe ist Marco jetzt, dem Schicksal ausgeliefert.
Ich folge ihnen bis vor die Tür. Ich höre sie im Inneren der Wohnung streiten, wem was gehört. Glas geht zu Bruch, erstickte Flüche. Dann sehe ich Ben draußen rumlaufen. Ich gehe auf ihn zu. „Whatcha doin‘ Ben?“, sage ich.
„Nothing“, sagt Ben, „just getting Tom. We’re supposed to meet other people, you want to join us? Wanna come?“
Wir laufen zu dritt durch die Siedlung. Dann treffen wir zwei Pärchen, auch junge Mormonen. Sie sehen alle rosig aus, sie lächeln freundlich. Ich lächle mit, wenn auch zuerst auf meine Atmung bedacht.
Das Tanzlokal ist voll mit alten Menschen. Wir sind wie Außerirdische hier, nur wir sieben sind jung. Die Mormonen stürzen sich auf die Tanzfläche, die Augen leuchten, die Lippen rosig. Die Zähne blitzen weiß. Ich sehe, wie sie die Arme in die Höhe werfen. Sie drehen die Hüften, schlagen Pirouetten. Man kann das schwerlich Tanzen nennen, was sie da machen. Aber durch sie fließt die Kraft.
Ich kann das sehen, wie ein goldenes Glühen. Ja, die Mormonen glühen regelrecht. Ich nähere mich Ben, der etwas abseits steht. Schreie ihm ins Ohr: „Teach me to dance, will you?“
„Dance?“, sagt Ben und lebt auf, „did you say … dance?“ Er reißt sich die Jacke vom Leib, krempelt die weißen Hemdsärmel hoch. „Come on, my boy“, sagt er wichtigtuerisch. Und er beginnt, mit den Fingern den Takt zu schnippeln.
„Together“, sagt er. Er hakt sich bei mir ein, wir bewegen uns langsam. „Let’s go!“, sagt Ben. Wir machen einen Satz nach vorne, im Gleichklang. Ben lacht, ich lache auch. „Again!“, sagt Ben und auch diesmal hüpfen wir synchron.
Ich habe langsam den Dreh raus, ich beginne zu fühlen. Fühle, wie die Energie durch meinen Körper rast. Ich weiß, was das ist, und sehe Herrn Viktorjeff lachen. Ich sammle, wie gelernt, die Energie in meinem Bauch.
„Down!“, sagt Ben und er berührt den Boden. Sein Gesicht strahlt.
„Ben“, sage ich, „I have so much to tell you.“
Ben nickt, als seien Worte überflüssig.
„I never before loved life, like I do now“, sage ich. Wir grinsen beide wie verrückt. Dann tanzen wir wild darauf los, drehen uns im Kreis, bis uns schwindlig wird.

 
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Hallo Tanghai,

hübscher Nick, übrigens, ich liebe Haie und denke da an so einen kleinen Wobbegong.

Deine Berggeschichte fand ich größtenteils ganz schön (wenn ich Zeit habe, schreibe ich gern dazu was im thread), aber diese hab ich nach ein paar Absätzen abgebrochen. Hier sind die Gründe:

Ich bin ein Taschendieb, ein Niemand. Ich kenne keine Seele in dieser Stadt. Mein Kumpel Marco ist siebzehn, und wenn ich meiner Tante glauben soll, so bin ich vielleicht zwölf.
-> Also, da ist eine Tante und ein Kumpel, und später noch eine ganze Gruppe Taschendiebe, da kann es nicht sein, dass er keinen in der Stadt kennt. Warum bezeichnet er sich als „Niemand“? Das steht da so hingeknallt, ohne Bezug. Schöner als ‚Seele‘ würde ich ‚keinen Menschen‘ o.ä. finden, weil es dann auch außerhalb einer Ideologie funktioniert. Da wir in Fantasy sind, erwarte ich was an Weltenbau, der nicht alles aus unserer Realität übernimmt, und das Wort schränkt für mich das Setting zu stark ein (mag aber sein, da ist ein Grund für, später.)

Wir arbeiten in der Stadt, wie viele andere auch. Wir gehen dafür jeden Tag aus dem Haus, ganz wie ehrliche Menschen. Ich weiß, dass das, was wir machen, schlecht sein soll. Ich dachte früher auch mal so. Marco sagt, ich bin schnell erwachsen geworden. Er sagt, Erwachsene unterscheiden sich von Kindern dadurch, dass sie immer wissen, was sie sehen. Ein Kind, sagt Marco, sieht die Welt, wie er sie haben möchte. Ein Erwachsener kann aber sehen, wie die Welt wirklich ist.
Ich dachte immer, Marco gehört nicht zu uns Taschendieben. Sein Vater ist Priester und er stiehlt nicht aus den gleichen Gründen wie wir. Er macht es aus Trotz, offenbar weil er’s besser weiß. Marco weiß viel, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht behandelt Toni ihn deswegen auch so großzügig: Durch seine Herkunft wirkt Marco mysteriös. Davon profitiert er, betrügt gerne Toni und gibt ihm nur einen Teil von unserer Beute ab. Auch Toni weiß das, dass er betrogen wird, da bin ich mir ganz sicher. Nur ist er abergläubisch und zu faul, um sich Gedanken über die Welt zu machen. Dafür ist er kräftig, gedrungen und hat O-Beinen. Und er hat genug Jungs wie uns, die für ihn arbeiten.
Wir sind insgesamt zwölf. Wir bleiben zwei, drei Monate in der Stadt, dann ziehen wir weiter. Wir sind ein halbes Ja, hier im Norden und den Winter verbringen wir daheim. Marco sagt, in Dänemark lässt sich am besten arbeiten. Toni findet Belgien besser. Ich, ich mag es hier.
Das ist aber praktisch, dass dem Prot das alles so ordentlich thematisch geordnet und chronologisch durch den Kopf geht, just an der Stelle, an der eine Einführung für den Leser praktisch wäre. Oh, "hier in Dänemark" also! Kann er bitte noch zufällig-unzufällig die Jahresangabe dazu erwähnen? :D Will sagen: Das nehme ich dir so nicht ab. Absolut nicht, das ist alles viel zu sehr über's erzählerische Knie gebrochen. Es ist schon klar, dass außerhalb des stream of consciousness ein 1.-Person Erzähler auch etwas von einem übergeordneten Erzähler hat, der irgendwie noch Setting und Handlung/Plot vermitteln muss, also unrealistische Gedankengänge hat. Allerdings müsste das wesentlich geschickter verpackt sein. Der Autor darf nicht das, was er vermitteln will, seinen Prots in den Mund legen, wie es ihm gerade recht kommt oder die Prots handeln lassen, wie er es für die Geschichte braucht, das ist ein handwerklicher Fehler (hier speziell: Bruch in der Perspektive / Erzählstimme).

Warum macht es einen 'mysteriös', wenn man einen Pfarrer zum Vater hätte, und inwiefern hilft so ein 'mysteriös-wirken' dabei, andere Diebe zu übervorteilen?

Und: Wenn er der einzige NIchtdäne ist, warum haben die eigentlichen Dänen dann keine dänischen Namen? Toni und Marco sind Italienier. Also bezieht sich Nord/Süd nicht auf die Landesregionen, sondern auf Europa. Ist das hier überhaupt Fantasy?

Durch seine Herkunft wirkt Marco mysteriös. Davon profitiert er, betrügt gerne Toni und gibt ihm nur einen Teil von unserer Beute ab. Auch Toni weiß das, dass er betrogen wird, da bin ich mir ganz sicher. Nur ist er abergläubisch und zu faul, um sich Gedanken über die Welt zu machen.
-> Das sind eine ganze Menge stark wertender Behauptungen, die ich als Leser einfach so schlucken muss. Hier – wie auch im Rest des Intros – wäre show, don’t tell eine wesentlich bessere Option. (Obwohl ich gutes tell mag, auch ausschließlich verwendet, aber das darf nicht in unüberprüfbare / unnachvollziehbare Behauptungen ausarten).

Dafur ist er abergläubisch und zu faul, um sich Gedanken über die Welt zu machen. Dafür ist er kräftig, gedrungen und hat O-Beinen.
-> 'Dafür' leitet einen Ausgleich ein - er ist faul, dafür unattraktiv geht außerhalb von Sarkasmus nicht.

Sein Vater ist Priester und er stiehlt nicht aus den gleichen Gründen wie wir. Er macht es aus Trotz, offenbar weil er’s besser weiß.
-> Dann aber frage ich mich, warum er es besser wissen sollte, denn der Vater ist der noch größere Dieb. Die Jungs stehlen bestimmt, um überleben zu können, der Vater erzählt den Gläubigen in seiner Kirche was von Schuld und Vergebung im Namen eines imaginary sky daddy, um dann in der Kollekte das Geld einfordern. Ich hatte das 'er stiehlt' erst auf den Vater bezogen, was von der Syntax her mAn nach möglich ist - wenn du viele (oder ausschlißelich) gleichgeschlechtliche Prots hast, ist es gut, mit den Pronomen möglichst klar umzugehen.

Ich weiß nicht warum, aber hier fühle ich mich wohl. Wie zuhause.
-> Ich als Leser weiß das selbstverständlich noch weniger. Es gibt nichtmal eine Andeutung; und dann denke ich: Ist der Prot sich über sich selbst so wenig im Klaren? Hat er einen Grund, mir sonst alles kleinteilig zu erläutern, aber mir hier seine Beweggründe zu verschweigen? Wollte der Autor den Prot geheimnisvoll machen und hat ein ungünstiges Beispiel gewählt, oder war er zu faul, das hier auszuführen? Wie auch immer, mich als Leser lässt du da im Regen stehen.
'Zu Hause fühlen' ist ja auch eine sehr spezielle Empfindung, die nur aufkommen kann, wenn man an dem momentanen Ort stark emotional gefärbt an etwas von dem Herkunftsort erinnert wird. Mag an mir liegen, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand so fühlt, ohne es irgendwie - rational oder irrational - begründen zu können. Gerade hier wäre eine gute Stelle gewesen, durch Einnerungen / Assoziationen sowohl seine Heimat wie auch die Umgebung unaufällig zu vermitteln: er erinnert sich an die Heimat, hier ist es aber sounso - das ist ähnlich, das ist anders und was weckt das in ihm für Emotionen? etc.

Die Sprache hier gefällt mir. Ich kann sie zwar schlecht sprechen, ich verstehe aber die Menschen gut. Meine Tante sagt, manchmal wird man wiedergeboren. Und wenn das der Fall ist, dann zieht es einen immer in die Ferne. Irgendwo hin. Man muss suchen, bis man seine wahre Heimat findet.
Sie starb, meine Tante, und fand ihr eigentliches Zuhause nicht. Ich habe Glück, ich bin ein Glückspilz. Ich bin früh erwachsen und mir scheint, als wäre ich immer so gewesen.
- > Das sind alles Behauptungen des Autors, die ich ab hier auch langsam nicht mehr nur wertend, sondern schlichtweg unnachvollziehbar finde. Du gibst trotz des langen Intro Null Hintergrund, worin ich das alles konzeptionell einzuordnen habe. „Wiedergeboren“ – What has that to do with anything?! Was hat die Ferne speziell mit dem Konzept der Wiedergeburt zu tun? Es werden ja komischerweise Leute meist in z.B. hinduistischen Ländern „wiedergeboren“, und nicht inmitten des evangelistischen Utah, USA. Komisch, hm? Also, warum führt ihn gerade das weg, wo es ihn in seinem eigenen Glaubenskreis halten sollte? Das alles liest sich (ich mag damit falsch liegen, aber das ist eben mein Eindruck), als ob hier der Autor den Prot nicht nur zum Sprachrohr macht, wo es um Setting / Weltenbau geht, sondern auch um eine persönliche Haltung. Das ist extrem unliterarisch, und wie oben ein Perspektivfehler. Es gibt nur eine Art von fiktionalem Text, in dem der Autor durch seine Prots spricht, und das ist Propaganda. Propaganda dient der Rechtfertigung einer Ideologie, und das muss nicht nur Faschismus oder Religion sein, sondern kann auch etwas mit positiven Aspekten sein, wie etwa Pazifismus. Propaganda und Literatur schließen sich allerdings aus.
P.S. Wieso kanzelt der Prot den Pfarrersohn als 'abergläubisch / fremd' ab, wenn er selbst an Wiedergeburt glaubt? Das ist doch genauso ein esoterischer Nonsense. Das macht es schwer, die Geisteshaltung deines Prots klar einzuordnen.

Außerdem: Ich würde anregen, was mit dem Titel zu machen. „Ein Hauch von …“ wird zu oft in der Werbung und im Marketing verwendet, um noch zu wirken. ‚Kaufen Sie Chanel Allure und erleben einen Hauch von Magie‘ – so ungefähr klingt das, und tut deinem Text nicht gut.

Marco und ich, wir sind wie Brüder. Wir haben uns gegenseitig tätowiert, jeder ein umgedrehtes Kreuz am Fußgelenk. Es war Marcos Idee, und sie gefiel mir. Das Kreuz stand für etwas, etwas, was Männer gerne tun. Wir hatten es nur umgedreht, als Zeichen unseres Muts. Auch wir waren Männer und kannten den Respekt. Nur, wie es mir schien, sahen wir die Welt mit anderen Augen.
„Was ist mit deiner Tante passiert?“, sagt Marco.
„Nichts“, sage ich.
„Ist sie tot?“
„Nein.“
„Nein?“
„Sie lebt und gleichzeitig ist sie gestorben.“
„Wie das denn?“, sagt Marco.
„Meine Tante arbeitete viel“, sage ich. „Für mich, für ihre Töchter, für das Haus. Einmal, da war sie über Wochen nur müde. Und dann fiel sie um, einfach so.“
„Koma?“, sagt Marco.
„Nein, sie kam wieder zu sich. Aber sie begann, Dinge zu vergessen. Am Anfang, wie der Hund hieß, wer die Nachbarn waren. Und gegen Ende, da wusste sie nicht mehr, wer meine Kusinen waren.“
„Dich hat sie auch vergessen?“, sagt Marco.
„Ja, aber bei mir war es anders. Sie nannte mich immer Lukas, das war mein Vater. Mit mir sprach sie auch normal, nur war ich halt Lukas.“
„Lukas“, sagt Marco. „Das ist ein schwuler Name. Voll aus den Evangelien.“

"Das Kreuz stand für etwas, etwas, was Männer gerne tun. Wir hatten es nur umgedreht, als Zeichen unseres Muts." -> Ich hab keinen Plan, auf was sich das bezieht. Männer saufen gern, debattieren, gucken Fußball, erobern andere Länder … was soll das hier sein, was hat das mit einem Kreuz zu tun und warum ist das umgedrehte dann ein Zeichen von echtem Mut?

Der ganze Dialog steht hier nur, um die Backstory zu erklären – gleiches Problem wie oben, nur in anderer Form. Falls du Lust hast, ein gutes, eher analytisches als ‚ratgeberisches‘ Buch dazu zu lesen, schau doch mal in; James Wood: How Fiction Works / Die Kunst des Erzählens.

„schwuler Name“?! WTF?! Ist das Fantasy mit Kirche im hintersten Neukölln? Wann verortest du denn deine Story? Ich hab jetzt so weit gelesen, und weiß immer noch nichts von deiner Welt, außer, dass da Diebe in Dänemark sind (einem fiktiven Paralleluniversum oder dem realen historischen oder zeitgenössischem), und es das Christentum bis dahin geschafft hat. Urban Fantasy? Cassandra Clare nur mit straffälligen Jugendlichen? Hm ...
Okay, mir reicht’s, sorry, das ist so ein Checker-ey-Alder-Typ, die laufen genug in der Realität rum, davon will ich nix in Literatur lesen. Ich bin weit genug gekommen, um dir raten zu können, gleich am Anfang – am besten durch show, don’t tell – klarzumachen, in welchem Fantasy-Universum das hier spielt, sodass man nicht ständig rausgeworfen wird durch diesen eigenartigen Epochen-/Anschauungs-Mix. Kürzungen würden dem Text auch guttun. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Satz rausgstrichen gehört, wenn er weder die äußere noch die innere Handlung vorantreibt, kannst du das auf die Hälfte eindampfen und würdest den Einsteig auch spannender machen. Überprüfe nochmal, was du eigentlich sagst, im Sinne von: was will der Prot aussagen und warum, und was sagt das dem Leser über ihn?

Sorry, dass ich jetzt nichts Positives dazu anmerken konnte. Ich denke, eine Beschäftigung mit den Grundlagen von Erzählstrukturen und -techniken würde dir viel nützen.

Viele Grüße, Katla

 

Hallo Katla,

herzlichen Dank zu Deinen ausführlichen Kommentar. Du sprichst sehr viele Dinge an und ich werde nicht nur James Woods wieder zur Hand nehmen, Deine Kritikpunkte gehen nicht spurlos an mir vorbei.

Primär habe ich diesen Text geschrieben, weil ich der Meinung bin, dass 'Fantasy' grundsätzlich einschränkend ist. Es ist gewiss nicht meine Gattung und was meine persönliche Kritik am Genre betrifft, so sehe ich diese Form Themen zu behandeln stark von Klischees und einengende Narration bestimmt. Man übernimmt einfach Erfindungen anderer Autoren, liest Texte in der Erwartung, vom Genre befriedigt zu werden und nicht selten, bleibt man an Informationen hängen, die gar nicht im Text vorhanden sind. Das sind grobe Denk- und Aufmerksamkeitsfehler, die Du sicherlich von den vielen geposteten Texte hier auf der Site kennst. Daher wahrscheinlich die Überfülle an Informationen, zumindest als Hinweis, dass ich nicht wirklich dazu gehöre.

Ich habe natürlich nicht den Anspruch, Dich als Fantasy-Veteranin damit zufriedenzustellen. Und es wäre außerordentlich vermessen von mir anzunehmen, dass ich am Genre etwas ändern könnte. Aber Du hast vollkommen recht damit, mir Propaganda zu unterstellen. Sie ist hier nicht mal subversiv, und da könnte ich tatsächlich noch etwas daran ändern.

Persönlich habe ich als junger Mensch nie Fantasy gelesen. In meiner Jugend habe ich mich mit andere Gattungen beschäftigt, die weit davon entfernt waren, den Fantasyhunger meiner damaligen Freunde zu entsprechen. Aber ich habe beobachtet, dass die Lektüre, die in meinem Bekanntenkreis populär war, mit einer Narration arbeitet, die von Angst, Unsicherheit, Schrecken bestimmt ist. Das missfiel mir schon immer daran, der Phantasie einiger Autoren ausgeliefert zu sein, die ihre Zeit damit verschwenden, Angst und Unsicherheit in mir zu erzeugen und damit zu spielen. Ich würde Dich gerne fragen, unterscheidet sich das vom klassischen Propaganda? Ein derart 'unnatürliches' Weltbild zu verbreiten? Was würde Edward Bernays dazu sagen? Und die Konsequenzen, wie Du damit im Alltag umgehst, verdienen die nicht auch darunter kategorisiert zu werden? Schließlich möchtest Du ja wissen, wie die Welt funktioniert, also bist Du Dir sicher, dass Du eine klare Trennlinie ziehen kannst, zwischen was echt und was Hirngespinst ist?

Diese und ähnliche Überlegungen flossen in meinem Text ein. Ich möchte Dir sagen, dass es nicht meine Absicht ist, herausfordernd, besserwisserisch oder gar streitsüchtig zu sein. Ganz im Gegenteil, ich mag gerne Späße. Und was meine Meinung angeht, da lohnt es sich bestimmt nicht, darüber zu streiten: Oft genug hat sie mich im Stich gelassen, darauf vertraue ich mal null. Da höre ich lieber hin, was andere mir erzählen, wenn auch mit der nötigen Vorsicht, die so etwas mit sich bringt.

Und dafür nehme ich mir Deine Kritik als Vorbild. Denn Du sprichst wichtige Sachen an, leider - vielleicht aus Zeitgründen - nur im ersten Drittel des Textes. Ich hätte es mir gewünscht, dass Du dieser Genreerwartung nicht erliegst und weiterliest. Denn manche Dinge werden später aufgeklärt, etwa, dass nirgendswo steht, was für Landsmänner die guten Diebe sind, noch was für ein Land das „hier“ ist, und vieles mehr. Und ja, der Titel ist eine Notlösung gewesen, ‚A kind of magic‘ war meine Wahl, aber da hat jemand im Vorfeld die Anglismenkeule geschwungen.

Schönes Wochenende Dir, liebe Katla,

und

Liebe Grüße

Tanghai (auch hier nichts von Haien, nur Verspieltheit)

 
Zuletzt bearbeitet:

EDIT:
Eigentlich hatte ich - aus Höflichkeit - sehr ausführlich auf Tanghais Fragen, die direkt an mich gerichtet waren, geantwortet, aber das war a) größtenteils eh off topic und b) írritiert nun offenbar den OP. Daher gelöscht.
Viele Grüße, Katla

 
Zuletzt bearbeitet:

Edit:

DAnke für die ausführliche Antwort. Trotz Missverständnisse, off topic, usw., weiss ich die guten Tipps sehr zu schätzen.

Liebe Grüße

Tanghai

 

Servus Tanghai!

Auch wenn wir hier Kommentare anderer Autoren nicht kommentieren, komme ich nicht darum herum, vorauszuschieben, dass ich mit den allermeisten Kritikpunkten von Katla nicht übereinstimme. Ich finde die Geschichte sehr gut geschrieben, sprachlich, die Art wie Szenen aufgebaut sind. Auch die Figurenzeichnung fand ich fast durchweg sehr gut, und dein Bewusstseinsstrom hat mich deinem jungen Dieb von Anfang an sehr nahe gebracht. Ich werde jetzt nicht auf die Kritikpunnkte von Katla eingehen, was er in seinem ersten Kommentar kritisierte, aber mir ist all das, was er als unschöne Leseerfahrung verbuchte, beim Lesen überhaupt nicht aufgefallen. Es wirkte auch weder konstruiert noch unecht oder so, als würdest du Dinge dahinstellen und sie mir nicht "beweisen". Im Gegenteil, ich finde, Behauptungen, die du aufstellst, erläuterst du auf eine Art im Folgesatz dann oft mit Beispiel-Szenen. Marco, den Prot und Viktor hatte ich sehr gut vor Augen, da hat mir nichts gefehlt.

Jetzt zu meinem Leseeindruck und einer kritischen, konstruktiven Sicht. Wie gesagt, ich fand das alles sehr schön geschrieben und ich habe es gerne gelesen und hatte einen tollen Zugang in den Kopf deines Helden. Ich glaube bloß im letzten Drittel oder Viertel verzettelst du dich auf eine Art. Ich weiß nicht, ob das noch jemand hier angesprochen hat, ich hab lediglich Katlas ersten Kommentar gelesen. Ich finde, du verhaspelst dich am meisten mit dem Tag "Fantasy" - und auch, dass du ein Szenario, das in der Realität angesiedelt ist, irgendwie mit Fantasy-Elementen bestücken willst. Das wirkt auf eine Art irgendwie gewollt, als wolltest du jetzt unbedingt Fantasy schreiben, aber eigentlich bist du dort nicht zuhause, sondern in der Realität, im Realismus. Es gibt auch so etwas wie einen Magischen Realismus, kennst du sicherlicher. Ich würde deine Geschichte eher dahingehend überarbeiten, wäre ich du, und die Story noch mehr in der Realität spielen lassen, und bloß einige Elemente von Viktor einen "magischen" oder "fantastischen" Touch geben und so offen lassen, ob das nun Realität oder eine Art von Magie in der Realität ist. Kannst du etwas damit anfangen, oder klingt das zu schwammig?
Ich würde wirklich alles fantasymäßige aus der Story kicken, und das einen Dieb irgendwie in einer mitteleuropäischen Großstadt sein lassen. Im Grunde ist das ja auch schon so. Ich würde, wäre das meine Story, mich am Realismus orientieren, daran, dem Leser das Gefühl zu geben, das spiele heute tatsächlich wo in der Realität. 90% der Story sind ja schon darauf angelegt, das wäre bloß eine Art von größerer Feinschliff. Lediglich Viktor mit seinen katzenartigen Bewegungen und seinem Mind und seiner Art, aber auch dieser Frage: Ist er einfach schizophren oder empfängt er den Krishna wirklich?, würde ich ins Magische stehen bzw. offen lassen. So würde mir die Story wesentlich besser gefallen. Fantasy ist wirklich der falsche Tag, der erzeugt falsche Erwartungshaltungen beim Leser und dahingehend befürchte ich, könnte die Story einfach falsch bewertet wären, obwohl ihr das nicht gerecht wäre. Ich finde sie wirklich gut, gut geschrieben, erzählt und nah an den lebendigen Figuren.

Zweiter Kritikpunkt: Zum Schluss, im letzten Drittel oder Viertel verhaspelst du dich auf eine Art. Habe ich ja oben schon erwähnt, aber jetzt noch mal Konkreter: Da zerbröselt mir die Geschichte auf eine Art. Am Anfang geht es um einen Dieb, dann trifft er einen "Lehrmeister", aber er bringt ihm gar nichts über Diebsein o.ä. bei, sondern der Fokus oder die Prämisse verändert sich irgendwie, scheint zu zerbröseln, es wird viel über geistige/geistliche Dinge geredet, über Glauben und die Welt usw. Aber mir scheint das gar nichts mit den anderen drei Vierteln der Geschichte zu tun zu haben. Verstehst du, wie ich meine? Ich fand das, was im letzten Teil stand, gut, über die Welt, das Leben, aber es kam mir einfach fehl am Platze vor, als ob es eine andere Geschichte wäre und nicht die des Diebes. Wenn du in diese Richtung konstruieren wollen würdest bzw. deine Geschichte in diese Richtung laufen lassen wollen würdest, müsstest du zu Beginn noch mal umstellen, drüberarbeiten, damit das kohärent wirkt - so meine Einschätzung.

Tanghai, trotzdem wirklich gerne gelesen. Erzählen kannst du, jetzt müsstest du nur noch in die richtigen Formen gießen bzw. mehr Kohärenz hinbekommen. Meine persönliche Einschätzung.

Beste Grüße
zigga

 

Ich weiß nicht warum, aber hier fühle ich mich wohl. Wie zuhause. Die Sprache hier gefällt mir. Ich kann sie zwar schlecht sprechen, ich verstehe aber die Menschen gut.

Hallo Tanghai -

an sich umgeh ich Fantasy so weiträumig wie die Kategorien Horror und SF, für Krimis - auch hierorts wie im Buchhandel nahezu eine weibliche Domäne - parodier ich bestenfalls wohlwollend. Gut, Tolkien hab ich gelesen - seine Übersetzung isländischen Sagengutes, der Edda, schließlich lebte ja bekanntermaßen die Brunni der Nibelungen auf Island, das ja erst zehn Generationen nach dem Untergang der rheinischen Burgundionen entdeckt wurde ... die Burg aber - Isenstein - findet sich im Ruhrgebiet (Isenstein bedeutet da weniger "Eis" als "Eisenstein" = Erz ...

Aber - sehn wir mal von den Hobbits Gollum und Smeagol ab, Meister Feng wird wohl nicht auszublenden sein - interpretier ich die Geschichte einfach um - als hätte sie ein moderner Charles Dickens geschrieben, was mit dem Rückfall des als Neoliberalismus getarnten Manchesterkapitalismus und dem Aufblühen der Bandenkriminalität ja gar nicht so abwegig ist, vor allem aber mit den Tafeln. Da find ich die Burger-Szene genial ... und bekomme noch eine ethische Vorschule des Diebstahls ... darum find ich - im Gegensatz zu meinem Vorredner - das Ende sogar als notwendige Läuterung ...

Aber der Einstieg lässt mich schon ab Satz drei stocken

Mein Kumpel Marco ist siebzehn, und wenn ich meiner Tante glauben soll, so bin ich vielleicht zwölf.
Wir arbeiten in der Stadt, wie viele andere auch. Wir gehen dafür jeden Tag aus dem Haus, ganz wie ehrliche Menschen. Ich weiß, dass das, was wir machen, schlecht sein soll. Ich dachte früher auch mal so. Marco sagt, ich bin schnell erwachsen geworden. Er sagt, Erwachsene unterscheiden sich von Kindern dadurch, dass sie immer wissen, was sie sehen. Ein Kind, sagt Marco, sieht die Welt, wie er sie haben möchte. Ein Erwachsener kann aber sehen, wie die Welt wirklich ist.
Warum das Komma zwischen "siebzehn" und "und", das doch seinen Job, das Komma zu vertreten, ganz ausgezeichnet erfüllt. Warum "soll" der Tante geglaubt werden, ist das ein Gebot oder eine Vermutung? "Sollen" ist was anderes als "dürfen", und was bei der Wertung "schlecht sein soll" passt, wirkt bei der Tante, der durchaus auch mal geglaubt werden darf, zwanghaft.

Und warum verwendet der Icherzähler, wenn er denn Marcos Rede referiert, den Indikativ statt der indirekten Rede - die er im folgenden dann auch für seine eigenen Gedanken verwenden könnte? Wenn Fünfjährige unter günstigen Bedingungen schon ein sprachliches Gefühl von korrekter Sprache entwickeln, sollte es Zwölfjährigen erst recht möglich sein.

Trivialitäten, vor allem das Problem mit den Endungen, aber alles in der Reihenfolge des Auftritts (der einfachheithalber)

Dafür ist er kräftig, gedrungen und hat O-Beine[...].
Irgendwo hin.
Ein Wort "irgendwohin"

Dann falle ich[...] mit dem Gesicht gegen die Wand.
Das Damenportemonnaie hebe ich mir für später auf, das andere mache ich im Laufen schon auf.
Zwomal auf - wenn auch unterschiedlicher Bedeutung, warum nicht "öffnen" als Alternative?

Hier solltestu noch mal den ganzen Block hinsichtlich der einfachen Gänsefüßchen, wörtl. Rede innerhalb der wört. Rede durchsehen

„Der Dieb legt vielleicht ..., nach Brahman.“

Selbst die Notreserve im Bad, die wir hinter einer losen Fliese angelegt hatten, selbst das ist nicht mehr da.
besser "selbst die ..."

Ich schaue lange aus dem Fenster, sehe die zwei Mormonen aus dem Nachbarshaus kommen ...
"Nachbarhaus" - ohne Fugen-s, liegt wahrscheinlich daran, das der Genitiv des Nachbarn selten des Nachbars ist ..., der Genitiv steht eh schon auf der Liste der bedrohten Arten

Marco machte sich stets ein[en] Spaß daraus, sie aufzuziehen.
„Das kann ich auch“, sagte Marco. „Mein[en] Kopf in irgendeinen Sack zu stecken und Blödsinn von mir zu geben.

„Die Stadt hier ist wie eine Goldgrube, wisst ihr das? Ihr könnt trinken und rumhuren, so[...]viel ihr wollt.
So viel nur als Konjunktion zusammen (i. d. R. als "soviel ich weiß" z. B., überwiegend aber als unbestimmte Anzahl auseinander)

Das einzige Problem dabei ist nicht euer Gott, oder eure Propheten.
Plural trotz ausschließender Konjunktion schon wegen der Propheten, also "... sind nicht euer ..."

Am dritten Tag fasse ich mir ans Herz und suche Toni auf.
Du fasst dir ein Herz, aber fasst dich ans Herz ...

Daraus zu entkommen[,] ist ein Kinderspiel:
Warum das Komma? Weil der Infinitiv sich auf ein Substantiv (das Heim) bezieht, das durchs "daraus" repräsentiert wird

Stelle mir vor, wie es so wäre, unbekümmert ein[en] Laden zu betreten.

Komma weg!
Ich stehe daneben[...] wie ein Zaungast, beobachte mich selbst.

‚Ich habe kein[en] Hunger‘, möchte ich sagen.
(geht natürlich auch mit Apostroph, also "hab kein' Hunger" ... nur so als Anregung)

Seit seine Mutter i[m] Krankenhaus liegt und ...

Ich stopfe mich mit Pommes voll, als sei ich am Verhungern.
Ja, durchs German gerund kann man den reinen Konjunktiv umgehen - aber wäre der nicht schöner, "als verhungerte ich"?

Frau Ehing sucht nach Worte[n], schlägt ...
Ohne Präposition sucht Frau E. tatsächlich nur Worte ...

Am Scheitel lasse ich sie kurz inne halten,...
innehalten

Etwas, was den Fluss des Atems i[n] Gang setzt.
Es ist allerdings unglaublich schwer[,] das zu erlernen.

Das Wasser riecht nach Schwefel, als hätte jemand hinein gepinkelt.
hineinpinkeln

Als Okkultist sieht er hinter den Dingen.
"hinter die Dinge", hinter den Dingen sieht er was - etwa ein Prinzip, die Wahrheit oder Lüge oder so ...

Ich muss zum Rauchen immer auf den Balkon gehen, nach draußen.
Ist der Balkon nicht immer irgendwie draußen? Aber Du meinst wahrscheinlich "nach draußen, vor die Tür"

Wie ein alter Mann, der im Winter ein[en] Fluss überquert.“
Hier hätte der bestimmte Artikel "den Fluss" sicherlich die Endungsmisere abgeschwächt

Wenn er sich auch in letzter Zeit damit etwas schwer macht.
Ist nicht falsch, aber die Redewendung lautet an sich "sich schwer tun"

Dann steht er eines Nachts vor meine[r] Türe.
(probier einfach mal immer zuerst mit dem Artikel aus, hier also "vor der Türe"

Frau Ehing kann nicht an sich halten, beginnt herzzerreißend zu weinen. Ich atme ruhig, lege ihr die Hand um die Schulter.
Die Hand "auf" die Schulter, den Arm um sie ..., der schafft das nämlich

Wer mit Gewalt stiehlt, der darf sich kein[en] Dieb mehr nennen.
alternativ - wider aller Endungsschmach "darf sich nicht mehr Dieb nennen"

Puh, jetzt brauch ich erst 'ne Mittagspause ...

Tschüss und bis bald

Friedel

 

Hallo nochmal, lieber zigga

Kannst du etwas damit anfangen, oder klingt das zu schwammig?

Sehr wohl, ich versteh‘ sehr gut, was du meinst. Der Grund, weshalb dieser Tag gewählt wurde, liegt darin, dass ich im Vorfeld eine Diskussion mit jemand hatte, was Fantasy allgemein für negative Auswirkungen auf einem hat. Dazu gehört, dass man mit Labels arbeitet und tatsächlich hat das nicht nur mit Literatur zu tun, es zieht sich durch das ganze Leben hindurch und stets hat es zur Folge, dass Unmut dabei kreiert wird. Das Leben – wie du sicherlich auch weißt – hält nichts von Labels. Diebe, Assis, Junkies, Neuköllner usw. , das sind stets Klischees. Kratzt man an der Oberfläche, kommt immer etwas Anderes zum Vorschein. Für gewöhnlich aber, tut man das nicht. Man hängt an seine Labels und reagiert aggressiv, wenn jemand einem vor Augen führt, wie dieser Prozess funktioniert. Das ging sogar so weit, dass ich im Vorfeld prognostiziert habe, wie sich das entwickeln wird: man wird sich am Label stören und gar nicht merken, dass meine Erzählung dennoch etwas zu bieten hat. Dass ich recht dabei hatte, ist nicht wirklich befriedigend. Ich musste auch die Aggression und den Unmut wegstecken und zumindest in dieser Hinsicht, denke ich, habe ich etwas dazu gelernt.

Was dein Tipp mit ‚Magischer Realismus‘ angeht, davor habe ich wirklich Respekt. Ehrlich :) Und damit komme ich auf dein erster Kritikpunkt zu sprechen und ich möchte dir sagen, dass ich das sehr ernst nehme. Ich werde in Zukunft davon Abstand nehmen, Realismus und Fantasy derart miteinander zu vermischen. Und da die Story hier wieder in vielerlei Hinsicht ein Experiment war, ist es auch sehr gut, Feedback darüber zu bekommen. Ich werde deinem Vorschlag folgen und versuchen, das zu trennen. Und vor allem mir Themen aussuchen, wo ich wirklich zuhause bin.
Was der zweite Vorschlag angeht, da fällt mir spontan etwas über „Die Simpsons“ ein. Ich bin nach wie vor ein großer Fan der Serie, wenn auch nur der ersten Staffeln, als die Autoren den Anspruch hatten, gutes Storytelling zu schaffen. Damals haben die Leute wie Conan O’Brian im Team gehabt und jede 20 minütige Folge beginnt mit einer Story, die eigentlich kaum etwas zu tun hat mit der eigentlichen Geschichte in der jeweiligen Episode. Warum man das getan hat, ist hauptsächlich, weil man mit der Erwartungshaltung des Zuschauers spielt, seine Labels durcheinander bringt, bevor man ihm die eigentliche Story präsentiert. Tatsächlich ist das eine Arbeit, die mit Klischees operiert. Man greift die Klischees auf, die unbewusst jeder mit sich herumträgt, und dekonstruiert sie. Anhand dieses Prozesses erzählt man dann die eigentliche Story. Und unbewusst scheine ich diese Art der Erzählung übernommen zu haben, denn ich entdecke, dass ich es regelrecht liebe, damit zu spielen. Das einzige Problem ist, dass du als Leser/Zuschauer dabei gefordert bist. Um eine Analogie aus meiner Story aufzugreifen, wenn du ein Burger bestellst und stattdessen ein nahrhaftes Curry vorgesetzt bekommst, kannst du dich natürlich darüber beschweren. Oder, du setzt dich mit der Konsistenz des Gerichts auseinander, mit den Gehalt und bedankst dich dafür, ein kostenloses Mahl erhalten zu haben :) Denn nach wie vor ist das kostenlos und niemand zwingt dich, das zu essen. Es ist nur dein Ego, das stresst, weil du eben nicht bekommst, was du willst. Das funktioniert nicht in Restaurants (es wäre auch fatal, wenn das so wäre) aber das Leben selbst scheint tatsächlich so zu sein.
Wenn also ein Dieb ethische Fragen aufwirft, dann ist das in diesem Zusammenhang etwas, was mir besonders gut gefällt. Und ich denke auch, man ist eher bereit auf den Inhalt der Aussage einzugehen, als wenn – sagen wir mal klischeehaft – ein Priester das gleiche Argument vorträgt.

Ich danke dir also für die höffliche und ehrliche Weise, wie du deine Kritik vorträgst. Sie ist mir sehr willkommen, lieber zigga.


Hallo Friedrichard,

lieber Friedel, dein Beitrag ist – wie immer – äußerst bereichernd. Zunächst erlaube mir dir zu gratulieren, dass du über die eigenen Labels hinwegsiehst und dennoch bereit bist, dich mit meiner Story auseinanderzusetzen. Und wenn du diesen ersten Schritt schon mal getan hast, ist es auch kein Wunder, dass du meine Kritik erkennst und dabei fast in Uri Geller Manier, Dickens erwähnst. Nach wie vor gehört Dickens tatsächlich zu den Autoren, die mich inspirieren. Und ich weiß, dass man unentwegt Diskussionen darüber führt, welches seiner Bücher, das Beste sei. Für mich ist das stets „Große Erwartungen“ gewesen. Und ein Grund, weshalb ich Dickens mag, ist die Art, wie er mit Klischees arbeitet, eben mit ‚Erwartungen‘. Wenn er dabei über die eigenen, schlechten Erfahrungen im Leben sich erhebt und trotzdem auf das Gute verweisen kann, das rechne nicht nur ich ihm hoch an: Dafür zollt ihm Generation nach Generation unentwegt Respekt.

Puh, jetzt brauch ich erst 'ne Mittagspause ...
Es tut mir außerordentlich leid, derart viel Mühe erzeugt zu haben. Aber du weißt, es dauert eine Weile, bis die Arbeit Früchte trägt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich dafür zu entschuldigen und dir erneut zu versichern, dass ich mich wirklich um Besserung bemühe. Aber nach wie vor freut es mich, wenn ich dein Kommentar lese. Denn ich weiß, unabhängig davon, was du von der Story denkst, dabei habe ich immer etwas von dir zu lernen.
Deine ‚Trivialitäten‘ werden widerspruchslos und dankbar übernommen. Und ich muss erneut dir meine Bewunderung aussprechen, wie mühelos es dir stets gelingt, Respekt zu erzeugen, ohne es jemals einzufordern. Das ist nicht nur meine Meinung, andere Autoren hier scheinen das Gleiche für dich zu empfinden. Dass du jetzt ein wenig errötest und versuchst, mir zu widersprechen, gehört einfach mit dazu.

Liebe Grüße

Tanghai

 

Was der zweite Vorschlag angeht, da fällt mir spontan etwas über „Die Simpsons“ ein. (...) Damals haben die Leute wie Conan O’Brian im Team gehabt und jede 20 minütige Folge beginnt mit einer Story, die eigentlich kaum etwas zu tun hat mit der eigentlichen Geschichte in der jeweiligen Episode. Warum man das getan hat, ist hauptsächlich, weil man mit der Erwartungshaltung des Zuschauers spielt, seine Labels durcheinander bringt, bevor man ihm die eigentliche Story präsentiert.
Und unbewusst scheine ich diese Art der Erzählung übernommen zu haben, denn ich entdecke, dass ich es regelrecht liebe, damit zu spielen. Das einzige Problem ist, dass du als Leser/Zuschauer dabei gefordert bist.
Da muss ich noch mal einhaken und dir widersprechen. Ich bin auch Simpsons-Fan, die letzteren Staffeln wurden wieder besser, sind wieder zu ihrem Kern zurückgekehrt. Ich verstehe auch dein Interesse und deine Lust, so zu erzählen wie die Serie es tut. Es gibt bloß einen großen Unterschied. Meinem Gefühl nach nimmt dieser Miniplot, der vor der eigentlichen Handlung steht, bei jeder Folge ungefähr 1/7 der Zeit ein, danach folgen 6/7 kohärent erzählte Geschichte. Diesen Miniplot vor dem eigentlichen, großen Hauptplot jedes Mal spielen zu lassen, ist wirklich ein genialer Trick der Storyteller, und auch ein einzigartiger Kunstgriff, zumindest bis dato. Miniplot vor eigentlichen Hauptplots werden oft und gerne dafür verwendet, dem Leser oder Zuschauer begreifbar zu machen, weswegen der Held eines Romans oder Films auf ein gewisses auslösendes Ereignis, das dann zum Hauptplot führt, so reagiert, wie er reagiert bzw. weswegen das auslösende Ereignis eine solche Wirkung auf den Held hat. Dafür braucht man oft einen Miniplot, der zuvor steht. Das ist so die Storytelling-Theorie dahinter. Die Simpsons brechen wirklich damit und spielen auch damit auf eine Art, dass sie - zumindest ist das meine Erinnerung - eine vollkommen zusammenhangslose Handlung für den Miniplot stattfinden lassen, die dann durch ein unvorhersehbares Ereignis zum Hauptplot führt. Das ist wirklich ein einzigartiger Kunstgriff, finde ich, und macht die Serie auch spannend, da man am Anfang nie weiß, was aus dem Miniplot jetzt zur Haupthandlung führen wird. Ich denke, das macht auch einen großen Teil des Reizes und der Originalität und Einzigartigkeit der Simpsons aus.
Ich finde aber, dass diese Art des Erzählens in deiner Story nicht so stattfindet. Wie gesagt, bei den Simpsons nimmt das 1/7 der Zeit ein, bei dir die "Vorgeschichte", wenn man so will, 2/3. Es ist also kein Miniplot oder Vorgeschichte mehr, sondern der eigentliche Hauptplot - so mein Text- und Storyverständnis, das natürlich nur meine eigene Sicht der Dinge ist. Aber dann zum letzten Drittel eine vollkommen neue Richtung einzuschlagen ist leider für mich - und dabei muss ich bleiben - ein Zerfasern und Verwässern, zumindest ein Abkommen vom Pfad des Erzählten. Irgendwie finde ich eben, dass das letzte Drittel einfach sehr wenig mit den ersten beiden zu tun hat - ist mein Textverständnis, vielleicht geht es anderen anders und ich liege falsch.

Alles Beste
zigga

 
Zuletzt bearbeitet:

Wie sehr freut es mich, dass wir auch darin eine Gemeinsamkeit pflegen! :) Du hast natürlich recht, was die Einteilung der Zeit angeht, das stimt hier überhaupt nicht mit der Story überein.

Aber vom GRundgedanke her ist es ähnlich, dass ich mit ein Thema anfange und bei dir als Leser eine Erwartungshaltung erzeuge, dass du das GEfühl hast, du weißt, worum es in der Story geht. DAbei spreche ich von ganz anderen Dingen, eben wie in der 6/7 der Simpsons. Natürlich hilft dein Feedback enorm, wenn du mir das mit den letzten Drittel sagst. Denn eigentlich ist das mein Thema, nicht der Anfang. Und wiederum gebe ich auch hier dir recht, was die Nützlichkeit der Platform angeht.

Ich möchte dir herzlich danken für Murakami, heute früh angekommen und bin schon fast 3/4 durch. Hatte ich wirklich nicht erwartet, so viel Gutes darin zu finden. Vor allem so viel Ehrlichkeit, ganz untypisch von einem Asiaten.

Und nicht zuletzt, du sollst wirklich wissen, dass mir deine Story gefallen hat. Ich bringe das hier unter, aus Zeitgründen. Es ist nur so, dass ich an dich glaube und mir vorstelle, du kannst auch anders. Und das hat nach wie vor etwas mit deine Aufmerksamkeit zu tun, nicht mit Stilfragen. Wenn dieser Glaube nicht wäre, dann würde ich mich auch nicht so vehement äußern (nebst GEfahr, jemand auf die Füße zu treten). Ich verbuche das einfach unter 'Sturheit' , und du weißt, davon kann ich ein Lied singen :) Vielleicht vertraust du mir einfach mal, just for fun, ohne etwas von dir abzulegen. So wie ich dir einfach vertraue, just like that. Denn wenn ich lese, womit Murakami sein Buch anfängt, da richten sich meine Haare auf: Autoren im Umgang mit andere Autoren. Und obwohl es gängig ist und mir durchaus bewußt, glaube ich dennoch nicht, dass es so sein muss.

Liebe GRüße

Tanghai

 

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