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Ein Hauch von Magie
Ich bin ein Taschendieb, ein Niemand. Ich kenne keine Seele in dieser Stadt. Mein Kumpel Marco ist siebzehn und wenn ich meiner Tante glauben darf, so bin ich vielleicht zwölf.
Wir arbeiten in der Stadt, wie viele andere auch. Wir gehen dafür jeden Tag aus dem Haus, ganz wie ehrliche Menschen. Ich weiß, dass das, was wir machen, schlecht sein soll. Ich dachte früher auch mal so. Marco sagt, ich bin schnell erwachsen geworden. Er sagt, Erwachsene unterscheiden sich von Kindern dadurch, dass sie immer wissen, was sie sehen. Ein Kind, sagt Marco, sieht die Welt, wie er sie haben möchte. Ein Erwachsener kann aber sehen, wie die Welt wirklich ist.
Ich dachte immer, Marco gehört nicht zu uns Taschendieben. Sein Vater ist Priester und er stiehlt nicht aus den gleichen Gründen wie wir. Er macht es aus Trotz, offenbar weil er’s besser weiß. Marco weiß viel, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht behandelt Toni ihn deswegen auch so großzügig: Durch seine Herkunft wirkt Marco mysteriös. Davon profitiert er, betrügt gerne Toni und gibt ihm nur einen Teil von unserer Beute ab. Auch Toni weiß das, dass er betrogen wird, da bin ich mir ganz sicher. Nur ist er abergläubisch und zu faul, um sich Gedanken über die Welt zu machen. Dafür ist er kräftig, gedrungen und hat O-Beine. Und er hat genug Jungs wie uns, die für ihn arbeiten.
Wir sind insgesamt zwölf. Wir bleiben zwei, drei Monate in der Stadt, dann ziehen wir weiter. Wir sind ein halbes Jahr im Norden und den Winter verbringen wir daheim. Marco sagt, in Dänemark lässt sich am besten arbeiten. Toni findet Belgien besser. Ich, ich mag es hier.
Ich weiß nicht warum, aber hier fühle ich mich wohl. Wie zuhause. Die Sprache hier gefällt mir. Ich kann sie zwar schlecht sprechen, ich verstehe aber die Menschen gut. Meine Tante sagt, manchmal wird man wiedergeboren. Und wenn das der Fall ist, dann zieht es einen immer in die Ferne. Irgendwohin. Man muss suchen, bis man seine wahre Heimat findet.
Sie starb, meine Tante, und fand ihr eigentliches Zuhause nicht. Ich habe Glück, ich bin ein Glückspilz. Ich bin früh erwachsen und mir scheint, als wäre ich immer so gewesen.
Marco und ich, wir sind wie Brüder. Wir haben uns gegenseitig tätowiert, jeder ein umgedrehtes Kreuz am Fußgelenk. Es war Marcos Idee, und sie gefiel mir. Das Kreuz stand für etwas, etwas, was Männer gerne tun. Wir hatten es nur umgedreht, als Zeichen unseres Muts. Auch wir waren Männer und kannten den Respekt. Nur, wie es mir schien, sahen wir die Welt mit anderen Augen.
„Was ist mit deiner Tante passiert?“, sagt Marco.
„Nichts“, sage ich.
„Ist sie tot?“
„Nein.“
„Nein?“
„Sie lebt und gleichzeitig ist sie gestorben.“
„Wie das denn?“, sagt Marco.
„Meine Tante arbeitete viel“, sage ich. „Für mich, für ihre Töchter, für das Haus. Einmal, da war sie über Wochen nur müde. Und dann fiel sie um, einfach so.“
„Koma?“, sagt Marco.
„Nein, sie kam wieder zu sich. Aber sie begann, Dinge zu vergessen. Am Anfang, wie der Hund hieß, wer die Nachbarn waren. Und gegen Ende, da wusste sie nicht mehr, wer meine Kusinen waren.“
„Dich hat sie auch vergessen?“, sagt Marco.
„Ja, aber bei mir war es anders. Sie nannte mich immer Lukas, das war mein Vater. Mit mir sprach sie auch normal, nur war ich halt Lukas.“
„Lukas“, sagt Marco. „Das ist ein schwuler Name. Voll aus den Evangelien.“
„Halt’s Maul“, sage ich.
„Komm, Lukas, lass uns lieber arbeiten“, sagt Marco. Wir werfen unsere Zigaretten weg und steigen die Treppen zur U-Bahn hinab.
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Toni sieht mich an, er blinzelt wie ein Affe. Er grinst und schlägt mir ins Gesicht. Ich spüre, wie ich vom Boden abhebe. Für den Bruchteil einer Sekunde hänge ich wie ein Astronaut in der Luft. Ich bin behäbig, meine Bewegungen dickflüssig. Ich wundere mich, warum Toni das nicht kann.
Dann falle ich mit dem Gesicht gegen die Wand. Mein Hals wird schief, es tut mir weh im Nacken. Beide Backen brennen, wie heiße Herdplatten. Mein Eckzahn hat die Lippe durchlöchert und ich schmecke Blut.
„Wenn er nichts hat, dann hol ich’s mir von dir“, sagt Toni. Marco steht hinter ihm, er ist kreideweiß, hat große, aufgerissene Augen.
„Unter der Matratze“, sage ich, „da hinten, in der Ecke.“
„Hier?“, sagt Toni. Er hebt die Matratze an. „Wer sagt’s denn, da haben wir’s, den Schatz!“
Toni sitzt die ganze Zeit vorm Fernseher. Wir gehen ihn täglich besuchen, geben unsere Sachen bei ihm ab. Dabei schaut Toni unentwegt ‚Herr der Ringe‘. Gollum hat’s ihm angetan, oder wie der Glatzkopf heißt. Heute ist ein Ehrentag, Toni kommt mal zu uns.
„Smeagol, mein Bester, du warst aber fleißig. Ein guter Junge warst du, da ist was angespart.“ Er meint natürlich mich, nicht Marco. Würde er Marcos Matratze hochheben, da wäre wirklich etwas zu holen. Marco hat so viel, dass seine Matratze einen Buckel in der Mitte macht.
„Das ist für meine Tante“, sage ich, „das habe ich mir ehrlich verdient.“
„Hast du das?“, sagt Toni. „Dann musst du mir das nachweisen, wo du die Uhren her hast, den Schmuck, das Bargeld? Was würdest du den Bullen erzählen, kleiner Smeagol?“
„Wir sind Diebe“, sage ich, „wir haben eine Ehre, ein Gesetz.“
„Haben wir?“, sagt Toni.
„Ja, das weiß doch jeder. Wenn du mich bestiehlst, dann bist du verflucht. Verflucht, in einem Grab zu modern, lebendig, für eine ganze Ewigkeit. Und niemanden wirst du haben, der mit dir auch nur ein Wort spricht. Nur du wirst da sein, du und deine blöden Witze.“
Toni schwankt, er wiegt meine Sachen in der Hand.
„Toni“, sagt Marco, „er hat dich nie bestohlen. Ich kann’s bezeugen, kann schwören, dass es wahr ist.“
Toni schaut mich eindringlich an, dann lässt er von uns ab. Er geht. Im Laufen wirft er meine Wertsachen in der Luft.
„Ich bin wie Gandalf, ihr Arschlöcher, mich könnt ihr nicht bescheißen. Ich sehe alles“, sagt Toni und knallt die Tür hinter sich zu.
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Ich laufe die Treppen hoch, biege rechts auf eine große Kreuzung und verschwinde in den anliegenden Park. Ich trage zwei Geldbörsen mit mir, ein weißes Lederetui mit glitzernden Steinen und einen speckigen Geldbeutel mit Klettverschluss. Das Damenportemonnaie hebe ich mir für später auf, das andere öffneich schon im Laufen. Geld finde ich wenig, vielleicht zwanzig Euro. Ich ziehe die Kredit- und Bankkarten heraus, werfe den Blutspendeausweis und den Führerschein in den Müll. Es war Marcos Idee, den Studenten anzurempeln. Ich konnte gleich sehen, dass der Aufwand sich nicht lohnte. Aber Marco wusste es besser. Er fand die Freundin des Studenten interessant und nur der Gedanke an den Verlust des jungen Mannes bereitete Marco Vorfreude.
Ich suche mir einen Sitzplatz auf einer leeren Bank und warte. Ich warte auf Marco, der mit dem Studenten weiterfuhr. Er setzte sich neben die beiden Verliebten hin, fischte die Geldbörse des Typen raus und gab sie mir dann. Ich stand im Gang und wippte im Gleichklang mit einer voluminösen Dame. Die Frau war stark geschminkt und redete unentwegt in ihr Telefon. Ich öffnete ihre Tasche, als die Bahn abbremste. Zog die Geldbörse heraus, als sie wieder anfuhr. Ein guter Dieb erzwingt nichts, er lässt es immer machen: Es war die Fliehkraft, die mir die Börse brachte.
Ich sitze in der Sonne und sauge an meinem kariösen Backenzahn. Spucke gelegentlich dünnflüssigen Speichel. Ziehe dann und wann an meiner Zigarette. Der Park ist friedlich, gleich neben der Straße: eine ganz andere Welt. Ich sehe Senioren und auch ein paar Kinder. Ein Hund zieht einen jungen Mann an mir vorbei, der Mann hat nur das Smartphone im Blick.
Plötzlich höre ich: „Es ist wahr, Meister Feng, so steht es geschrieben. Ramakrishna sagt: Ein Dieb betritt einen dunklen Raum und tastet darin die verschiedenen Dinge ab.'“
Ich drehe mich um, versuche, den Sprecher ausfindig zu machen. Durch das Gestrüpp sehe ich den Pferdeschwanz: ein großer, dünner Mann. Sehe, dass die Brust sich nach innen wölbt und seine Arme lang und elastisch wie die Tentakel eines Tintenfischs sind.
„‚Der Dieb legt vielleicht seine Hand auf einen Tisch und geht weiter, indem er ‚Das ist es nicht‘ sagt“, sagt der Mann. „‚Als nächstes trifft er auf andere Gegenstände, einen Stuhl vielleicht und auch hier sagt er: ‚Das ist es nicht.‘ Er versucht sich weiter, tastet in der Dunkelheit Gegenstand nach Gegenstand ab. Schließlich fühlt seine Hand die Kiste mit dem Schatz und da ruft er: ‚Es ist hier!‘ Damit endet seine Suche. Und derart, sagt Ramakrishna, derart ist die Suche nach Gott, nach Brahman.‘“
Ich versuche, durch das Gebüsch zu blicken. Will sehen, wer sich da mit wem unterhält. Der Mann mit dem Pferdeschwanz dreht sich um: „Du kannst dich ruhig zeigen“, sagt er. Und dann, aus unerfindlichen Grund, fügt er noch hinzu: „Nur keine Angst, kleiner Dieb.“
Ich springe auf, schnippe die Zigarette weg. Ich werfe beide Geldbörsen im hohen Bogen in die Büsche und renne, was das Zeug hält.
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Ich stehe in unserer kleinen Wohnung. Marco kam nicht wieder. Die wenigen Habseligkeiten, die wir besaßen, sind allesamt zerstört. Mein Erspartes ist ebenso weg wie Marcos. Selbst die Notreserve im Bad, die wir hinter einer losen Fliese angelegt hatten, selbst die ist nicht mehr da.
Ich schaue lange aus dem Fenster, sehe die zwei Mormonen aus dem Nachbarhaus kommen und gehen. Weiße Hemden, schwarze Stoffhosen. Sie sehen - wie immer - gepflegt und gut genährt aus. Marco machte sich stets einen Spaß daraus, sie aufzuziehen. Er sagte, dass sie ihre Zeit hier vertrödelten. Die Mormonen haben sich auf zwei Jahre verpflichtet. Sie gehen in irgendeine Großstadt dieser Welt, leben ohne Alkohol und Sex und versuchen, andere Menschen zu ihrem Glauben zu bekehren.
„Ihr kommt über den Atlantik“, sagte Marco, „und ihr verpulvert eure beste Zeit. Für nichts und wieder nichts. Dabei seid ihr nicht mehr in Utah … oder Kansas, wie Dorothy.“
Die Mormonen hörten nicht darauf. Sie fingen an, Marco von Joseph Smith zu erzählen, ihrem Propheten.
„Das kann ich auch“, sagte Marco. „Meinen Kopf in irgendeinen Sack zu stecken und Blödsinn von mir zu geben. Das ist nicht schwer, glaubt mir. Und ihr könnt das genauso gut wie ich, wetten?“
Auf diese Einwände hörten die Mormonen natürlich nicht. Sie waren es gewohnt, auf den Arm genommen zu werden. Mir imponierte ihre Ruhe, wie sie dabei weiterhin nett lächelten und gelassen weitersprachen.
„Schaut mal, Lukas hier“, sagte Marco und er zeigte auf mich. „Selbst er weiß, wie eine Frau schmeckt. Wisst ihr das auch? Nicht? Hey, Lukas, wie schmeckt eine Frau?“
„Gut“, sagte ich. Schlicht. Ich bin ein Mann und natürlich auf Diskretion bedacht. Mehr wollte ich nicht sagen, aber das war auch nicht nötig, denn Marco sagte:
„Die Stadt hier ist wie eine Goldgrube, wisst ihr das? Ihr könnt trinken und rumhuren, so viel ihr wollt. Das einzige Problem dabei sind nicht euer Gott, oder eure Propheten. Eure langen Unterhosen sind das Problem, das und die Tatsache, dass man für alles im Leben Geld braucht. Wenn ihr mir eure Unterhosen gebt, dann gebe ich euch so viel Geld, dass ihr eine Woche am Stück ununterbrochen feiern könnt. Na, wie wäre das?“
Natürlich gingen die Mormonen nicht auf Marcos Angebot ein. Warum sollten sie es auch tun? Ich sah aber den leichten Zweifel in ihren Augen, sah auch, wie sie diesen Zweifel damit bekämpften, dass sie Marco nur noch mehr missionieren wollten. Aber Marco lachte nur. So wie nur er lachen kann, mit dem ganzen Körper, ohne Zwang.
Ich warte seit zwei Tage in der Wohnung. Am dritten Tag fasse ich mich ans Herz und suche Toni auf. Ich nehme die U-Bahn, fahre quer durch die Stadt. Entkomme um ein Haar den Fahrkartenkontrolleuren. Nicht, dass mir die Kontrolleure irgendetwas anhaben können. Wenn sie mich erwischen, rufen sie die Polizei. Die Polizei kommt, nimmt mich mit. Ich bin aber minderjährig, das kann jeder sehen. Sie können mich nur in ein Jugendheim stecken. Daraus zu entkommen, ist ein Kinderspiel: Ich gehe einfach, niemand darf mich festhalten. Es ist nur eine lange Prozedur und wenn man das zwei, drei Mal mitmacht, dann achtet man in Zukunft besser darauf, nicht in so eine Situation zu geraten. Marco sagt, im Grunde könnte ich einen Mord begehen, groß anders würde es auch nicht ablaufen. Ich habe da meine Zweifel, weiß aber auch, dass Marco sich selten täuscht.
Toni ist auch verschwunden. Ich finde die Tür zu seiner Wohnung angelehnt. Auch bei ihm ist das Mobiliar zertrümmert, der Bildschirm des Fernsehers eingeschlagen, die Spielkonsole zerstört. Ich kann mir schwer einen Reim darauf machen, wer das gewesen sein könnte. Denn das machen wir gelegentlich auch, wenn wir eine Stadt verlassen und weiterziehen. Dann trinken wir und schlagen alles kurz und klein. Es ist wie eine Abschiedsfeier und das Austoben gibt uns den Mut, unsere Zelte woanders aufzuschlagen.
Ich spucke auf Tonis Sofa, dorthin, wo Toni immer gerne saß. Von dort schaute er seine ‚Herr der Ringe‘-Filme an, sprach immer großkotzig von Orks und Elfen und ähnlichem Gesindel. Ich bin Toni nicht böse, er ist nun mal ein Schwachkopf. Ich war Zeuge, wie er eine Lektion erhielt: Die Männer, an die er abliefert, die hatten ihn vor unseren Augen verprügelt. Die Männer versammelten uns alle, wollten ein Exempel an ihm statuieren. Sie zogen ihn aus. Steckten ihm eine Flasche in den Hintern. Toni blutete und weinte viel. Es nützte nichts, die Männer waren grausam, sie schlugen Toni bewusstlos. Dass er mir gelegentlich eine Ohrfeige verpasst, das ist ja gar nichts in Vergleich dazu. So ist es nun mal, wenn man erwachsen ist: Gut und Böse existieren einfach nicht mehr. Es gibt sie nur noch vermischt, ein wenig mehr von einem, ein wenig mehr vom anderen.
Es regnet ununterbrochen und ich laufe ziellos durch die Gegend. Ich bleibe vor Vitrinen stehen, sehe mir die Waren in den Regalen an. Stelle mir vor, wie es so wäre, unbekümmert einen Laden zu betreten. Ich würde mit den Verkäufern scherzen, mich danach erkundigen, ob sie Kinder hätten. Ich würde auch nicht feilschen, sondern immer den geforderten Preis zahlen. Meine Kleidung wäre elegant und respekteinflößend, ganz wie die Kleidung der Leute, die ich in den Geschäften einkaufen sehe. Dann ziehe ich weiter und nur der Lärm von Motoren und nassen Reifen begleitet mich auf meiner Wanderschaft durch die Stadt.
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„Da bist du wieder“, höre ich. Ich bleibe stehen, blicke auf und sehe den Pferdeschwanz. Hinter mir ist eine Mauer, der Mann vor mir. Er schneidet mir den Weg ab. Zu fliehen ist unmöglich, er bewegt sich weich und gleitend, wie eine Katze. Wenn ich jetzt losrenne, holt er mich mit seinen langen Stelzen sofort ein. Ich überlege zu schreien, um Hilfe zu rufen.
„Musst du nicht“, sagt der Mann. Mein Mund ist offen, ich kann meinen Ohren nicht trauen. „Wenn du um Hilfe rufst, lässt du dir etwas Großartiges entgehen. Willst du das?“, sagt er. Und dann fügt er aus einem unerfindlichen Grund hinzu: „Du kleiner Dieb, du.“
Ich kann schwer sagen, was mit mir passiert. Eine ganze Reihe von Gefühlen bemächtigt sich meiner. Sie wechseln sich ab, ganz schnell, wie auf ein Kommando. Ich spüre Zorn und Liebe, Nervosität und Gelassenheit, Furcht und Vertrauen. Und viel, viel mehr. Da sind Empfindungen dabei, für die ich noch gar keine Bezeichnung habe. Die Gefühle vermischen sich, folgen eins auf das andere und als Resultat bin ich wie paralysiert. Ich kann mich nicht bewegen, nur denken. Und das Komische dabei ist, dass ich mir dabei zuschaue. Ich stehe daneben wie ein Zaungast, beobachte mich selbst. Ich gaffe nur, wie bei einer Militärparade. Und mit mir gafft auch der Mann, der mittlerweile herzlich lacht.
„Wie heißt du?“, sagt er.
„Lukas“, sage ich. Ich sage das wie aus der Pistole geschossen.
Der Mann lacht. „Gut, Lukas, wollen wir was essen?“
‚Ich hab' kein Hunger‘, möchte ich sagen. Stattdessen sage ich: „Klar.“ Er schlägt die Richtung vor, schiebt mich sachte an. Wir gehen gemeinsam und mir ist es, als wäre dieses gemeinsame Gehen sehr vertraut. Der Mann spricht mit mir wie mit einen Bekannten. Er fuchtelt mit den langen Armen. Sein Kopf bewegt sich wie bei einem großen Vogel und seine Augen wandern suchend überall hin.
„Meister Feng hat mir von dir erzählt“, sagt er. „Du kennst Meister Feng?“
Ich kenne niemanden dieses Namens. Ich kenne Geschichten und Filme, da kommen ‚Meister‘ vor. Aber einen Meister habe ich niemals kennengelernt. Ich kenne nur gewöhnliche Menschen, wie wir alle. Keiner von uns ist ein Meister, ich nicht, Marco nicht, nicht mal der amerikanische Präsident. Würde ich einen Meister kennen, dessen wäre ich mir sehr bewusst.
„Meister Feng?“, sage ich.
„Ja“, sagt der Mann „du erinnerst dich, das letzte Mal, im Park? Es war seine Idee, dort auf dich zu warten. Hast du ihn nicht gesehen?“
Ich schüttle den Kopf. Tatsächlich war da jemand, der Mann hatte mit jemandem gesprochen. Und doch, wenn ich versuche, darüber nachzudenken, so scheint es mir, als hätte er damals alleine auf der Bank gesessen.
„Ja“, sagt der Mann, „wenn ich von Meister Feng erzählen will, dann ist es so, als würde ich versuchen, den Wind mit der bloßen Hand zu fangen. Seine größte Eigenschaft ist die Unscheinbarkeit, verstehst du?“
„Ja“, sage ich. Ich lüge nicht, das meine ich wirklich so. Es ist die größte Errungenschaft eines Diebes, das habe ich oft genug von alten Dieben gehört. Nur schafft man es ganz selten, durchweg unscheinbar zu bleiben. Wir sind alle lediglich Menschen, die Leidenschaft geht früher oder später mit jeden von uns durch.
„Was möchtest du denn essen?“
„McDonalds“, sage ich. Ich möchte nicht zu viel von mir verraten, bedanke mich im Geist bei Meister Feng für den Tipp.
„Abgemacht“, sagt er. Wir überqueren eine Straße. Es regnet jetzt mehr und wir laufen geduckt entlang den Wänden. Manchmal bleibt der Mann stehen, wartet auf mich. Dann gleitet er wieder vorwärts, schmiegt sich wie eine Schlange zwischen Regentropfen, Passanten und Warenkörbe durch.
„Also gut“, sagt er, „hier sind wir. Bevor wir reingehen, nur noch eine Sache: Ich bin pleite, du hast nicht zufällig Geld?“
Ich blicke hoch zu dem Mann, ich blinzle. Dann schüttle ich den Kopf. Ich brauche ihm nicht von meinem Notgroschen zu erzählen, eingenäht in den Kragen meiner Jacke, die fünfhundert Euro.
„Die fassen wir nicht an, die gehören ganz dir“, sagt er. Mir ist es erneut, als könnte ich mich nicht bewegen. Als sei ich durchsichtig und der Mann blickt durch mich hindurch. Man wird bestohlen ohne jede Ablenkung, man kann den Raub sogar genau sehen.
„Dann werden wir uns selber helfen müssen“, sagt er. Er hält die Tür auf und schiebt mich sachte hinein.
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Schon an der Tür entledigt er sich seiner Jacke. Ich mache es ihm gleich, wir setzen uns unweit der Kasse. Dann geht er, doch anstatt zu bestellen, wendet er sich den Regalen mit den abgestellten Tabletts zu. Er greift sich seelenruhig Reste von Hamburgern, Pommes, Nuggets. Die packt er sich auf ein Tablett, dann nimmt er sich die Getränke vor.
„Magst du ein Fischmac haben?“, ruft er. Ich nicke. Mittlerweile schauen ihm die meisten im Lokal zu. Hinter der Kasse steht ein junger Mitarbeiter, er wirkt unschlüssig. Er blickt um sich, als erwarte er Hilfe. Ich nehme an, sein Chef ist nicht zugegen. Er wird energisch, sagt: „Entschuldigen Sie bitte, das können Sie nicht tun!“
Darauf scheint der Mann nur gewartet zu haben. Er dreht sich um, gleitet auf die Kasse zu. Hält das Tablett mit den Resten in der Hand. Er sagt: „Es bleibt mir nichts anderes übrig, Herr … Peschke. Wenn Sie’s genau wissen wollen, mein Junge und ich haben seit Wochen nicht mehr richtig gegessen. Seit seine Mutter im Krankenhaus liegt und eine Chemo nach der anderen macht. Dass wir pleite sind, gehört dazu, finden Sie nicht auch?“
Herr Peschke räuspert sich, blickt unruhig um sich. Der Mann lässt ihm keinen Raum zu denken, sagt: „Mehr als Reste können wir uns einfach nicht leisten. Wollen Sie uns das verbieten? Was glauben Sie, wie die Presse auf so etwas reagiert?“ Er beißt in einen der Burger. Und hält mir den Rest mit ausgestrecktem Arm hin.
Tatsächlich sind mittlerweile drei Smartphones auf den Mann gerichtet. Und Peschke, bei aller Unsicherheit, weiß genau, was das dann heißt.
Peschke bringt uns ein Menü, dann noch ein zweites. Ich esse Fischmacs, bis ich die Remoulade nicht mehr riechen kann. Ich stopfe mich mit Pommes voll, als verhungerte ich. Der Mann ist auch kein Kostverächter, verschlingt gierig jeden Bissen. Wir kommen nicht dazu zu sprechen, wir essen wölfisch, schlingen ununterbrochen. Es macht jetzt sogar Spaß, wir wetteifern miteinander. Und mir scheint es, als lachten die Augen des Mannes, als sei er ein Kobold. Ein Kobold, der sich für den Nachmittag ein kleiner Scherz erlaubt.
Wir seufzen beide lange, bemühen uns, leise zu rülpsen. Peschke beobachtet uns, weiß jetzt, dass unser Hunger echt war. Er kommt, um Entschuldigung zu erbitten, ist ganz verlegen. Der Mann steht respektvoll auf, senkt dabei den Kopf.
„Ich möchte Ihnen danken, Herr Peschke“, sagt der Mann. „Sie sind ein guter Mensch und edel, vergessen Sie das nie. Das ist das Wichtige im Leben: Sie dürfen die Güte nie unterdrücken. Für nichts in der Welt eintauschen. Niemals.“
Der junge Angestellte ist verblüfft, er hält inne. Seine Augen sind groß und ich kann seine Gefühle genau nachempfinden. Mir scheint es auch, als stünde Peschke neben sich, als würde er sich selbst beobachten. Und er empfindet bestimmt keine Verwunderung, als der Mann sagt: „Ich möchte auch für Sie etwas Gutes tun, für Sie persönlich. Sie schreiben am Dienstag eine Klausur. Sie sollten hingehen, überhaupt weiter studieren. Für Dienstag brauchen Sie übrigens Trigonometrie.“
Peschke nickt, wie selbstvergessen. Ich habe es auch erlebt, man weiß einfach, der Mann sagt Wahres.
„Und wenn Sie wieder am Leben zweifeln“, sagt der Mann, „dann denken Sie an das Gute. Es muss aber für jemand anderes sein, nie für Sie. Sie werden es aber stets zurückbekommen, darauf müssen Sie vertrauen.“
Wir verlassen das Lokal, es hat aufgehört zu regnen. Es ist dunkel geworden, ein gleitender Übergang zum verregneten Tag. Der Mann hält mir wieder die Tür auf, sagt: „Viktorjeff mein Name. Du kannst mich auch Viktor nennen, wenn du magst.“ Er blickt mir in die Augen und ich, ich reiche ihm die Hand.
„Meister Viktorjeff, vielleicht?“, sage ich. Viktorjeff lacht, entblößt dabei die Zähne.
„Ein Klugscheißer bist du also auch. Nein, nicht Meister, nur Viktorjeff. Aber dann Herr Viktorjeff, verstanden? Und jetzt beweg deinen Arsch hier raus, du kleiner, fetter Dieb.“
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„Das ist also Ihr Neffe?“, sagt Frau Ehing. „Wie reizend, er sieht so …“ Frau Ehing sucht nach Worten, schlägt die Luft wie Schlagsahne mit der Hand auf.
„Gesund“, sagt Herr Viktorjeff. „Sehen Sie ihn sich nur mal an: Pausbackig ist er, wie ein Ferkel.“
„Ja“, sagt Frau Ehing. „Sehr inspirierend.“ Sie vergisst mich aber gleich, nimmt dafür Herrn Viktorjeff an den Arm. „Sie müssen wieder zu mir kommen, Sie Guter. Sie haben mir das letzte Mal so wohl getan.“
Herr Viktorjeff sagt nichts, er kritzelt nur in seinem Notizbuch. Ich fühle mich verloren unter den vielen Leuten. Wenn ich auch gestehen muss, dass hier etwas zu holen ist. Die Menschen um uns herum sind gut betucht und nur ihr Notgroschen – das, was sie bei sich für Taxifahrten und dergleichen mit sich führen - könnte einem Dieb den Tag versüßen. Die Damen tragen schwere Bernsteinketten, viele davon aus Plastik. Immer aber ist der Plastikschmuck mit einem kostbaren Schmuckstück ergänzt. Die Brosche an Frau Ehing kostet locker einen Tausender. Zweihundert bekomme ich jederzeit dafür.
Aber ich möchte jetzt nicht daran denken. Nicht an das Stehlen, nicht an die Arbeit. Ich versuche stattdessen, zu atmen. So wie Herr Viktorjeff es mir beigebracht hat: tief im Unterbauch. Ich achte darauf, dass der Atem einen Kreis in meinem Körper bildet. Ich ziehe die Energie durch meine Fersen, führe sie durch die Lenden die Wirbelsäule hinauf. Am Scheitel lasse ich sie kurz innehalten, bevor sie wie eine Welle bricht, über mein Gesicht nach unten, entlang des Magens und dann durch die Fußspitzen wieder in den Boden raus. An diesem Kreislauf gibt’s einen Motor. Etwas, was den Fluss des Atems in Gang setzt. Es ist nicht die Lunge, wie ich zunächst dachte. Es ist der Unterbauch. Der kleine, pralle Unterbauch. Und der muss immer weich sein.
Herr Viktorjeff sagt, der Atem ist das Allerwichtigste. Er muss es wissen, denn unter den Leuten hier benimmt er sich wie ein Arzt. Er hört sich immer wieder ihre Sorgen an, sie haben stets Gebrechen. Für jeden hat er mindestens einen guten Rat. Mir aber sagt er, das wäre alles nicht nötig. Wenn man nur zu atmen wüsste, wären die meisten Probleme gar nicht da. Es ist allerdings unglaublich schwer, das zu erlernen. Dass man es regelmäßig macht und diese Atmung irgendwann natürlich wird. Dann, sagt Herr Viktorjeff, dann ist das aber das Höchste. Dann kann man heilen und mit Geistern reden, man lebt außerhalb der Zeit.
Es fällt mir natürlich schwer, das alles zu glauben. In dieser Hinsicht bin ich wohl erwachsener als er. Ich sehe aber, dass er es gut meint, keine Frage. Er möchte Gutes in der Welt bewegen.
Ich frage mich, was Marco zu alledem sagen würde. Ich denke, er würde wie mit den Mormonen verfahren, über die Menschen hier nur lachen. Genug zu lachen gibt es hier, da muss man nur die Gespräche belauschen: Kornkreise, Kondensstreifen an Flugzeugen, Fluorid. Und Geister, viele Geister. Die Herren reden über Geheimbünde mit sinisterer Macht.
„Was“, sagt Herr Viktorjeff, „dein Freund zieht über die Mormonen her? Dein Freund ist aber ein Schwachkopf, tut mir leid.“
„Warum denn?“, sage ich.
„Weil es eigentlich vollkommen egal ist, woran die Mormonen glauben. Es ist die Hingabe dabei, die wichtig ist. Das solltest du an ihnen sehen, nicht ihre Fehler.“
Ich möchte natürlich sagen, dass das noch trauriger ist. An etwas zu glauben, was gar kein Sinn macht. Dann lieber den Glauben vernünftig anlegen. In etwas, was mir auch einen Vorteil bringt.
„Ich weiß, was du denkst“, sagt Herr Viktorjeff. „Du denkst, sie sind blöd, weil sie so leben. Lass mich dir etwas über Mormonen erzählen: bei allem Schwachsinn, woran die glauben, sie haben einen Ritus in ihrem Kult, für jeden ist es eine Pflicht. Jeder Mormone muss regelmäßig tanzen. Das Tanzen ist für sie, was für dich das Atmen ist. Denk darüber nach, kleiner Fettwanst. Und lass die Augen von den Klunkern, das sage ich dir nur einmal.“
Frau Ehing bittet darum, dass alle sich versammeln. Wir treten in den Garten hinaus, stehen barhäuptig unter den Sternen. Ein Flugzeug über uns versprüht giftige Chemikalien. Man schenkt uns Wasser ein aus einer Glaskaraffe. Darin klimpert ein Amulett, es blinzelt silbrig in der Nacht.
Frau Ehing spricht über vergangene Zeiten. Als die Menschen edel waren, friedlich und erhaben. Als die Natur uns freund war, uns beschützte. Und dass es damals nicht so viele von uns Menschen gab.
Ich rieche an meinem Wasser, verziehe das Gesicht. Das Wasser riecht nach Schwefel, als hätte jemand hineingepinkelt. Ich kippe das Wasser heimlich in den Garten. Und sehe Herrn Viktorjeff, der mit seinem Wasser das Gleiche macht.
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Herr Viktorjeff ist ein Magier. Er ist jemand, der Okkultismus praktiziert. Er sagt mir, das heißt ‚dem Auge verborgen‘. Als Okkultist sieht er hinter die Dinge. Dorthin, wo man für gewöhnlich nicht hinsieht.
Herr Viktorjeff sagt, das ist ungemein gefährlich. Was hinter den Dingen lauert, kann furchtbar oder auch göttlich sein. Es kommt immer auf den Betrachter an, das ist alles. Jedes Geheimnis ist wie ein Spiegel: Es reflektiert und klärt nicht auf. Darin können sich Menschen verlieren. Gehen zugrunde an ihrer eigenen Schönheit.
Um Geheimnisse zu erfahren, dafür braucht man eine besondere Einstellung. Man darf nicht festhalten, an dem, was man eigentlich will. Man kann das Universum nicht wie ein Kaufhaus betrachten: Jetzt nehme ich mir dies und dann das. Nein, das Universum versteckt die Wahrheit. Die Erkenntnisse muss man klauen, nicht erarbeiten. Wenn man auf Arbeit setzt, dann kommt man nie voran.
Wir sind in seiner Wohnung: Herr Viktorjeff sagt, er möchte von mir lernen. Ich bin verblüfft, daran habe ich nicht gedacht. Er sagt, ich solle ihm zeigen, wie man richtig stiehlt. Ich denke wirklich, er nimmt mich auf den Arm.
Er rempelt mich an, ich spüre seine Finger in meiner Jackentasche. Ich mache große Augen, Herr Viktorjeff ist wirklich geschickt. Er zeigt mir, was er kann, die paar Handgriffe. Dann setzen wir uns hin und ich erkläre ihm mein Handwerk.
„Zunächst“, sage ich, „muss man wissen, wofür man stiehlt. Als Zeitvertreib taugt diese Beschäftigung nicht: Sie ist gefährlich und nur den Mutigen erlaubt. Man stiehlt, um zu überleben, nicht für den Luxus. Zumindest ist es das, was man mir als Dieb beigebracht hat.“
„Warum nicht für den Luxus?“, sagt Herr Viktorjeff. „Du weißt sicherlich auch, dass die Reichen die größten Diebe sind.“
„Nein, sie sind nur gierig. Alles, was sie zusätzlich stehlen, um über die Not zu kommen, ist verflucht und bringt ihnen am Ende nur Unglück. Das ist Diebesgesetz, das weiß doch jeder.“
Herr Viktorjeff beäugt mich, neigt ungläubig den Kopf.
„Heißt das, dass, wenn du an einem Tag fette Beute machst, dass du tags darauf nicht mehr stiehlst?“
„Nein, das nicht. Um gut zu stehlen, braucht man den Rhythmus. Man arbeitet eine Weile und bleibt dabei in Form. Man stiehlt nur für den Sommer, bis man sein Ziel erreicht.“
„Was ist dein Ziel?“
„Ach“, sage ich, „daran darf ich nicht denken. Der Sommer ist futsch, ich warte auf das nächste Jahr. Aber ich war dieses Jahr gut dabei, das können Sie mir glauben.“
Herr Viktorjeff überlegt, geht auf und ab im Zimmer. Manchmal bleibt er stehen, will etwas sagen. Dann grübelt er doch weiter. Ich lasse ihn denken, konzentriere mich auf das Atmen. Atme im Unterbauch ein, halte die Luft an. Schlucke trocken mehrmals hintereinander. Dann stelle ich mir eine Spirale vor dem Bauch vor. Ich lasse sie kreisen, und mit ihr entweicht langsam die Luft.
„Wie würdest du jemandem erklären, weshalb das Stehlen schlecht ist?“, sagt Herr Viktorjeff.
Ich halte die Luft an, die Frage ist ziemlich gut. Anstatt zu antworten, zwinge ich mich, zu atmen. Und wie von selbst kommen mir die Worte in den Mund: „Man wird nicht vom Blitz erschlagen, das ist schon mal sicher. Es mischt sich auch nie Gott ein, der das Diebesgut zurückgibt. Das einzige Problem ist, wie man dann die Welt sieht. Als Dieb kann ich nicht umhin zu denken, dass alle Menschen Diebe sind. Das macht einem dann zu schaffen, man wird schnell einsam. Und man fürchtet sich permanent davor, bestohlen zu werden.“
„Bist du dann einsam?“
„Nein, ich achte das Gesetz. Dafür ist es da, mich davor zu schützen. Und außerdem arbeitet man nie alleine: Man sucht sich Freunde, die zu einem halten. Die alten Diebe aber meinen, Freundschaften sind vergänglich. Das Gesetz alleine, das ist immer da.“
„Du stiehlst also für deine Tante?“, fragt Herr Viktorjeff.
Ich nicke und sage: „Und Sie, für wen stehlen dann Sie?“
„Ich denke, für die Welt“, sagt Herr Viktorjeff. „Für dich, deinen Freund Marco, deine Tante. Aber auch für Frau Ehing und Peschke von McDonalds. Wenn dabei Gutes herauskommt, stelle ich mich ganz hinten an.“
Ich bin sehr zufrieden mit Herrn Viktorjeff. Was er auch immer gedenkt zu stehlen, wenn er es auch so meint, dann hat er sicherlich darin Glück. Gewissheit kann man in unserem Beruf nie haben. Aber man spürt, wenn etwas richtig oder falsch abläuft. Und wie es aussieht, ist Herr Viktorjeff für den Beruf des Diebes vorherbestimmt.
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Ich habe mich gut eingelebt bei Herrn Viktorjeff. Wir sind gute Freunde, wenn auch nicht so wie mit Marco. Ich muss zum Rauchen immer auf den Balkon gehen, oder nach draußen, vor die Tür. Wir essen auch ganz selten Fleisch und trinken viel Wasser.
Marco würde mich nicht wiedererkennen. Ich bin in die Höhe geschossen, sehe langsam aus wie Herr Viktorjeff selbst. Meine Stimme ist brüchig, ich habe es schwer, eine Tonlage zu halten. Herr Viktorjeff sagt mir, meiner Tante geht es unverändert. Er spricht manchmal mit ihr, für gewöhnlich im Traum.
Ich weiß jetzt, dass Meister Feng ein Hirngespinst ist. Dass er manchmal Herrn Viktorjeff aufsucht, ihn unvermittelt überfällt. Dann spricht Herr Viktorjeff mit ganz hoher Stimme. Er wird dabei zu einem Asiaten, erklärt mir immer die Welt. Zugegeben, er redet viel wirres Zeug. Auch wenn Herr Viktorjeff meint, dass alles, was Meister Feng sagt, tiefsinnig ist.
„Durch die Welt zu gehen“, sagt Herr Viktorjeff mit dünner Stimme, „gelingt dir am besten als Schatten.“
Ich lache erstickt und Herr Viktorjeff ist mir nicht böse: Er lacht einfach mit. „Doch keiner von uns kann bloß zu einem Schatten schrumpfen“, sagt er. „Was uns dabei übrig bleibt, ist, wie ein alter Mann zu gehen, der im Winter einen zugefrorenen Fluss überquert.“
„Vorsichtig also?“, sage ich.
„Nein, du Dummkopf, nicht vorsichtig. Wie ich’s gesagt habe: Wie ein alter Mann, der im Winter den Fluss überquert.“
„Also doch vorsichtig“, sage ich, trotzig, mit brüchiger Stimme.
Herr Viktorjeff lacht, winkt ab. Ich bin mir sicher, dass er mir später den Unterschied erklärt.
In letzter Zeit sind Herrn Viktorjeffs Kräfte gewachsen. Er hat viel gefastet und noch mehr meditiert. Er führt Tagebuch darüber, notiert peinlich die Veränderungen, die mit ihm passieren. Er sagt, bald wird er gehen müssen, seine Reise antreten. Es trifft sich gut, denn bald sind meine Freunde wieder in der Stadt.
Ich halte manchmal nach ihnen Ausschau, besuche die alte Wohnung. Ich treffe die Mormonen, halte mit ihnen ein Schwätzchen. Der eine heißt Tom, das ist der Große von den beiden. Ben ist der Kleine, mit den weichen Augen. Und Marco haben auch sie schon lange nicht mehr gesehen.
Das mit dem Atmen, das ist eine gute Sache. Ich merke, wie sie mich verändert, etwas in mir aufweckt. Es scheint mir, als würde die Welt ein anderes Gesicht besitzen. Ich sehe es immer öfter, wenn auch stets verzerrt. Es fühlt sich so an, als würde alles eine Seele haben. Selbst das neue Smartphone, das Ben in seiner gepflegten Hand hält.
Wenn mich der Zorn überfällt, dann atme ich. Ich atme, wenn ich hungrig, durstig oder müde bin. Ich atme, wenn ich Bösem begegne, in jeglicher Form. Und liebe es mittlerweile regelrecht, wenn ich mit mir selbst im Einklang bin.
Herr Viktorjeff sagt, das ist die erste Stufe. Was danach kommt, das muss ich selbst rausfinden. Er wird nicht da sein, um mich darin zu unterrichten. Er lässt mir aber dafür seine vielen Bücher da.
Die Bücher sind sein ganzer Stolz, sein einziger Besitz. Sie füllen seine Wohnung wie eine bunte Tapete. Überall stapeln sie sich an den Wänden. Regale braucht er dafür nicht. Er weiß immer, wo etwas steht. Ob im Bad auf dem Boden oder hinter dem Schrank. Sein Gedächtnis ist beeindruckend. Wenn er sich auch in letzter Zeit damit etwas schwer tut.
Es ist bestimmt die Aufregung, die Aufregung vor seiner Abreise. Da verwechselt man manchmal ein Messer mit einer Gabel, das ist kein Weltuntergang. Seine Gedanken sind einfach nur nach vorne gerichtet. Und zielstrebig ist Herr Viktorjeff allemal.
Dann steht er eines Nachts vor der Türe. Er sagt, es sei so weit, jetzt müsse er gehen. Sein Gesicht ist eingefallen, die Züge müde. Er hat seit Tagen nicht schlafen können, hat kaum etwas gegessen. Ich sehe aber, dass er lächelt. Und das gibt mir Mut.
Herr Viktorjeff ruft Frau Ehing an, will sich verabschieden. Frau Ehing lässt alles stehen und eilt mitten in der Nacht zu uns. Sie ist es auch, die den Krankenwagen bestellt. Wir stehen unten an der Straße und sehen Herrn Viktorjeff zu: Wie er auf einer Trage in den Wagen geschoben wird, wie er dabei winkt und lächelt.
Frau Ehing kann nicht an sich halten, beginnt herzzerreißend zu weinen. Ich atme ruhig, lege ihr die Hand auf die Schulter. Und plötzlich, da ist diese Wärme. Sie fließt durch mich wie durch eine Leitung. Sie tritt durch meine Handfläche aus, versickert in Frau Ehings Körper. Ich ziehe meine Hand weg, wie elektrisiert.
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Ich sehe Marco und Toni. Sie verlassen die Wohnung, gehen dabei gebückt. Marco hat viel abgenommen, trägt Ränder unter den Augen. Ich verfolge sie im Gewühl, sehen ihnen bei der Arbeit zu.
Marco geht jetzt grob dabei vor, nicht wie früher. Toni und er lenken kaum noch jemanden ab, wenden offen Gewalt an. Beide treiben sich um Geldautomaten herum. Sie suchen sich die Opfer je nach zu erwartendem Widerstand aus. Marco ist kein Dieb mehr, er ist jetzt ein Räuber. Und davor warnt das Gesetz nach wie vor: Wer mit Gewalt stiehlt, der darf sich nicht mehr Dieb nennen. Ein Unglücksrabe ist Marco jetzt, dem Schicksal ausgeliefert.
Ich folge ihnen bis vor die Tür. Ich höre sie im Inneren der Wohnung streiten, wem was gehört. Glas geht zu Bruch, erstickte Flüche. Dann sehe ich Ben draußen rumlaufen. Ich gehe auf ihn zu. „Whatcha doin‘ Ben?“, sage ich.
„Nothing“, sagt Ben, „just getting Tom. We’re supposed to meet other people, you want to join us? Wanna come?“
Wir laufen zu dritt durch die Siedlung. Dann treffen wir zwei Pärchen, auch junge Mormonen. Sie sehen alle rosig aus, sie lächeln freundlich. Ich lächle mit, wenn auch zuerst auf meine Atmung bedacht.
Das Tanzlokal ist voll mit alten Menschen. Wir sind wie Außerirdische hier, nur wir sieben sind jung. Die Mormonen stürzen sich auf die Tanzfläche, die Augen leuchten, die Lippen rosig. Die Zähne blitzen weiß. Ich sehe, wie sie die Arme in die Höhe werfen. Sie drehen die Hüften, schlagen Pirouetten. Man kann das schwerlich Tanzen nennen, was sie da machen. Aber durch sie fließt die Kraft.
Ich kann das sehen, wie ein goldenes Glühen. Ja, die Mormonen glühen regelrecht. Ich nähere mich Ben, der etwas abseits steht. Schreie ihm ins Ohr: „Teach me to dance, will you?“
„Dance?“, sagt Ben und lebt auf, „did you say … dance?“ Er reißt sich die Jacke vom Leib, krempelt die weißen Hemdsärmel hoch. „Come on, my boy“, sagt er wichtigtuerisch. Und er beginnt, mit den Fingern den Takt zu schnippeln.
„Together“, sagt er. Er hakt sich bei mir ein, wir bewegen uns langsam. „Let’s go!“, sagt Ben. Wir machen einen Satz nach vorne, im Gleichklang. Ben lacht, ich lache auch. „Again!“, sagt Ben und auch diesmal hüpfen wir synchron.
Ich habe langsam den Dreh raus, ich beginne zu fühlen. Fühle, wie die Energie durch meinen Körper rast. Ich weiß, was das ist, und sehe Herrn Viktorjeff lachen. Ich sammle, wie gelernt, die Energie in meinem Bauch.
„Down!“, sagt Ben und er berührt den Boden. Sein Gesicht strahlt.
„Ben“, sage ich, „I have so much to tell you.“
Ben nickt, als seien Worte überflüssig.
„I never before loved life, like I do now“, sage ich. Wir grinsen beide wie verrückt. Dann tanzen wir wild darauf los, drehen uns im Kreis, bis uns schwindlig wird.