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Ein hasserfülltes Kapitel aus dem Leben des Walter
Walter saß auf einer Bank im Innersten des Bahnhofs. Er saß da, wie er es jeden gottverdammten Freitag tat, seit sie gestorben, seit er selbst gestorben und in Rente gegangen war.
Die Beine übereinander geschlagen, die Lesebrille ganz vorne auf der Hakennase, eine Welt auf dem immer schmaler werdenden Bauch. So verbrachte Walter die Zeit manchmal stundenlang, ruhig lesend und beobachtend, während das Leben hektisch, in seiner natürlichsten, wenn auch hässlichsten Form, an ihm vorbeifloss.
Walter genoss es, die hoffnungslos gestressten Menschen an ihm vorbeirennen zu sehen, während er selbst alle Zeit der Welt hatte. Und er liebte es, ihnen Namen zu geben und sich Geschichten zu ihnen auszudenken.
Gerade lief ein Mittzwanziger an ihm vorbei; lange, schwarze Haare klebten ihm an der verschwitzten, stark erröteten Stirn, während er sich immer wieder an das eigene Geschlecht fasste, nur um kurz darauf sein ohnehin schon unansehnliches Gesicht zu einer grauenvoll schmerzerfüllten Grimasse zu verziehen, die ebenso in der Lage war, mit Schmerz zu erfüllen.
„Der Nuttenpreller“ hieß er. Tim, vielleicht auch Konstantin. Oder Blasius. Er hatte sich einen Fünfziger aus dem Zusammengesparten seiner dicken Single-Mama geklaut, bei der er noch immer wohnte, um sich einmal so befriedigen zu lassen, wie er selbst es mit seiner verpickelten Hand nie gekonnt hätte.
Konstantin, er hieß Konstantin. Konstantin hatte es sich jedenfalls ordentlich besorgen lassen, von irgendeiner möglichst billigen Russin, die er nun heiraten wollte. Vielleicht würde er morgen einmal nicht zu seinem Vollzeitjob als Burger-Einpacker bei Mc-Donalds erscheinen, um erstens das Gesehene und Gefühlte des dann gestrigen Tages mit seiner verpickelten Hand nachzuempfinden, zweitens seine Heiratspläne mit der Russin zu erweitern und sich drittens voller Reue bei seiner Mutter auszuheulen, weinend in ihrem Bett zu schlafen und sie vielleicht auch...
Okay, Stop. Walter ermahnte sich selbst, bevor er in allzu unbequeme Gefilde eindrang.
Er ließ Konstantin Konstantin sein, holte sein Slayer-Kissen heraus und machte ein kurzes Nickerchen.
„EY! Alter! Du.“, weckte Walter ein offenbar türkischstämmiger Gastarbeiter, der leider schon ein paar Fetzen Deutsch aufgefangen hatte, sodass Walter den Türken, der wohl Mustafa hieß, nicht mit dem ihm so bekannten Alltagsvokabular beleidigen konnte, als er aus einem Traum voller verstorbener Ehefrauen aufwachte.
„Aufstehen da! Sie sind nicht einziger hier.“ Mustafa konnte es nicht lassen. Sollte er sehen, was er davon hatte. „Mein lieber Immigrantenfreund...“, begann Walter. „sie tangieren mich nur periphär, wissen sie das?“ Der Türke stutzte. „Da ihr Intelligenzquotient reziprok proportional zur Anzahl ihrer Geschwister, ich nehme an, davon gibt es einige, zu stehen scheint, ziehe ich es nun vor, diese unilaterale Konversation zu beenden. Hinfort mit dir!“ Mustafa ging tatsächlich, bewies jedoch noch ein letztes Mal, wie gut er sich integriert hatte, in dem er ein Medley seiner am häufigsten benutzten, neugelernten Wörter zum Besten gab. „Fick dich, du verfickter Wichser.“ Da es keine deutsche Beleidigung für einen spannenden, rassistischen, nutzlosen Rentner, der soeben laut loslachte, gab, folgte ein nicht enden wollender türkischer Wortschwall. Schließlich gab es für Walter auch kein passendes türkisches Wort.
Um fünf Uhr abends trat Walter, aufs Äußerste gereizt von Kommunistenschweinen mit Fotokameras, den Rückweg in sein kleines Haus an den Ausläufern der Stadt an. Als er gerade den ersten Schritt an der frischen Luft außerhalb von Fressständen für gestresste In- und Ausländer gesetzt hatte, bemerkte er, dass die Dämmerung ihre dunklen Fühler bereits ausgestreckt hatte. Der Winter würde bald seine Invasion auf dieses versaute Stück Erde ausführen und es in den Wahnsinn treiben mit seiner Kälte und der Tristheit, bis sein Erzfeind, der Frühling, ihn endlich in die Knie zwingen würde.
Walter ließ seinem Frust über das nahende Unheil freien Lauf und zitierte seinen Immigrantenfreund von eben. „Fick dich!“, schrie der Greis den Winter an. Walter hasste ihn und Weihnachten verabscheute er noch viel mehr. Die ganze Geschenk-Scheisse, diese aufgesetzte und lächerliche Stimmung, die überall festlich sein wollte, es jedoch nie war. Die verdammte Dauerberieselung mit X-MAS-Songs irgendwelcher Tuckenbands und – nicht zu vergessen – die Weihnachtsmärkte. Walter würde die ganzen Drecksstände am liebsten alle in die weihnachtlich verrotzte Luft sprengen. In dieser Hinsicht wünschte er den Terroristen dieser Welt alles erdenkbar Gute und er lachte heiser bei dem Gedanken an durch die Luft fliegende Stände und deren schwulen Besitzern, die gerade eine lange Wurst in ihren feisten Rachen schieben wollten.
Walter hob einen Arm, als ein Taxi an ihm vorbeifuhr, hoffte, einen deutschen Fahrer erwischt zu haben und ließ sich in den pissgelben Mercedez fallen. Ein Pakistani zeigte ihm sein lückenhaftes Grinsen.“Wohin, guter Mann?“ Walter stöhnte merkbar auf.
Nach zehn Minuten voller peinlicher Small-Talk-Versuche, die Walter jedoch stets genervt pariert hatte, parkte Jimbo, so Walters Name für den Pakistani im Sitz vor ihm, sein Taxi fünfzig Meter von Walters Haus entfernt, ohne auch nur einen Unfall verursacht zu haben. Walter war echt beeindruckt, was jedoch nicht hieß, dass er Jimbo von seinem tatsächlichen Wohnort in Kenntnis setzen würde. Und so ging er erst in entgegengesetzte Richtung, bis er sich sicher war, dass Jimbos Taxi die Sichtweite verlassen hatte und dieser nun das falsche Haus stalken würde. Walter drehte sich um, wechselte mit der Richtung auch die Straßenseite und ging nun auf das letzte Haus der Straße zu, das schon aus großer Entfernung einen stark unfreundlichen Charakter hatte. Vielleicht lag das am überdimensionalen Mittelfinger, der an der Hauswand prangte. Walter schritt voller Stolz auf sein einsames Domizil zu. Der Stinkefinger wies ihm den Weg.