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Ein guter Tag
Der Unfall hat alles verändert: sie, mich, uns!
Sieben Jahre sind wir verheiratet. Sie hätte bei mir sein, meine Hand halten, mir Kraft spenden können. Nicht eine Träne hat sie vergossen – nicht, dass ich wollen würde, dass sie weint. Aber ich bin dem Tod entkommen, so knapp, und sie verliert nicht eine Träne, ach was sage ich, sie hat mich nicht einmal besucht.
Ich versuche es mir schön zu reden: Das schlechteste Zimmer, irgendwo im Untergeschoss, schlechte Luft, schwache Beleuchtung. Vielleicht fand sie einfach nicht den Raum.
Alles andere verdränge ich: andere Männer, andere Liebe, andere Träume. Das ist sie nicht, war sie nicht.
Heute wurde ich entlassen – na ja, ich habe mich selbst entlassen. Ich bin rausgeschlichen, ohne dass es jemand gemerkt hat. Ich möchte sie überraschen. Mein Körper fühlt sich taub an. Aber ich fühle mich gut, ich fühle mich leicht. Die Sonne scheint durch kleine Wolkenfetzen, die sich einen gemütlichen Platz im Blauen gesucht haben. Ich atme tief ein, endlich nicht mehr der Geruch von Desinfektionsmittel und Latex. Der Park vor dem Gebäude lebt. Vögel zwitschern. Bunte Gärten, Pollen in der Luft, Kinder am Spielen, sommerliche Kleidung. Meine Augen gewöhnen sich an das Licht, an die Farben, an Menschen.
Ich fühlte mich einsam und verlassen, wie vergessen, aber das ist nun vorbei. Ich laufe zur Straße, pfeife eine fröhliche Melodie.
Heute ist ein guter Tag.
Autos rauschen an mir vorbei, meine Augen suchen gelbe Fahrzeuge. Ich entdecke eins, winke ihm zu, der Taxifahrer sieht mich nicht – ich rümpfe die Nase, möchte ruhig bleiben, denn heute ist ein guter Tag.
Ich gehe weiter, weiß nicht, welchen Tag wir haben, weiß nicht, was in der Welt passiert. Neben der Straße steht ein Kiosk. Ich nehme eine Zeitung in die Hand: Terroranschlag, Feuerwehrmann rettet Hund aus der Flut, Verkehrsunfall mit einem Toten. Die Schlagzeilen wie immer, das Jahr ist gleich, der Monat auch, lange bin ich nicht im Krankenhaus gewesen. Ich habe keine Schmerzen.
Neben mir steht ein Mann, Zeitung in der Hand, der Kopf vorgeneigt, er liest über die dicke Brille, die auf seiner rot gebrannten Nasenspitze liegt. Wieso er so nah bei mir stehen muss, verstehe ich nicht, ich rieche sein Parfum, süß; ich mache einen Schritt weg, atme hörbar aus, er ignoriert mich.
Was soll's, heute ist ein guter Tag.
Ich gehe weiter, werde gleiche meine Frau sehen, freue mich wie ein Kind, das Zuhause ein neues Spielzeug erwartet. Die Backen müde vom Dauergrinsen, beobachte Vögel, beobachte den Fluss, seicht und klar, ruhig, als liege ein unsichtbares Tuch darüber. Kein Zeitgefühl, ich folge meinem Glück, ich gehe nach Hause. Jetzt bin ich froh, dass der Taxifahrer mich übersehen hat.
Vor unserem Haus bleibe ich stehen, ihr roter BMW vor der Garage, die Haustür offen, ihre Handtasche liegt vor der Tür. Ich muss lachen – nie schafft sie es raus, ohne etwas zu vergessen.
Vorsichtig trete ich ein, mache keine Geräusche. Ich weiß, wo die Diele knarzt, ich umgehe die Stelle und schleiche mich ins Wohnzimmer. Sie ist nicht hier. Alles ist so, wie vor dem Unfall: Die bunten Decken auf den Sofas, der unaufgeräumte Tisch, der Fernseher, das Chaos in der Küche. Es riecht gleich, sie liebt Vanille, ich hasse Vanille. Die Rollläden sind zur Hälfte unten, die Sonne strahlt durch, es ist staubig. Mein Blick wandert zum Kamin, verkohlte Holzscheite, nur der Sims ist ungewohnt. Ich betrachte ihn genauer, etwas fehlt, aber was? Ein sauberer Strich in der Staubschicht verrät es mir. Bilderrahmen, Fotos von ihr und mir. Sie hat sie weggestellt. Mein Grinsen erstarrt. Was hat das zu bedeuten? Die Beine werden weich.
Eine Tür schlägt zu. Der Motor startet. Ich habe sie verpasst. Ich muss herausfinden, wohin sie geht, muss mit ihr sprechen.
Andere Männer, andere Liebe, andere Träume. Die verdrängten Gedanken klopfen an.
Ich schüttele den Kopf, ich kämpfe gegen Tränen. Ich kenne sie, sie ist meine Frau.
Der Zettel auf der Schuhkommode hilft ihr, Termine nicht zu vergessen. Heute hilft er mir; sie ist immer noch die alte. Die Uhrzeit stimmt, das Datum von heute, eine Adresse, ein Restaurant.
Die verdrängten Gedanken klopfen an.
“Nein”, sage ich. Meine Stimme trocken. Sie kratzt im Hals.
Ich gehe raus, nehme den Bus. Er ist voll und ich stehe, in meinem Kopf herrscht Krieg, meine Lunge drückt gegen die Brust, sie schwillt an und ab.
“Schneller, schneller, komm schon”, sage ich leise vor mich hin. Mein Blick fällt auf einen Jungen. Struppiges Haar, Stupsnase, Sommersprossen, Augen schwarz wie Kohle. Zwischen den Beinen sein Rucksack. Ich lächele ihn an, er versinkt in seinem Telefon.
“Unser Kind wird kein Handy kriegen”, sage ich vor mich hin und schau aus dem Fenster. Die Stadt glüht, die Bäume erleben ihre schönste Zeit. Zwiebel, Knoblauch und Fleisch kitzeln meine Nase. Ich liebte den Döner bei Ahmet, doch ich spüre keinen Hunger, keinen Durst. Die Klimaanlage stöhnt, die Dame mit dem riesigen Strohhut wedelt sich mit einer Zeitschrift Kühlung zu. Mir ist nicht warm, mir ist nicht kalt. Ich steige aus, vor mir das Lokal, unser Lokal.
Sie ist hier, der BMW steht dort. Ich trete auf den roten Teppich, meine Schuhe sind zerkratzt und dreckig, was soll`s, meine Seele ist zerkratzt. Ich schlucke, spüre wie es im Hals stecken bleibt. Jeder Schritt fühlt sich unendlich lange an. Ich trete durch die Tür, der Empfang begrüßt freundlich, ich grüße zurück, ein Pärchen drängelt sich an mir vorbei.
Ich möchte mich nicht aufregen, schließe kurz die Augen, beiße mir auf die Lippe und atme tief aus. Gehe einfach rein, ich finde sie schon. Gedämmtes Licht, langsame Musik, exotische Pflanzen und fleißige Kellner. Edel geschmückt. Porzellan und Besteck klirren, Stimmen hallen durch den tiefen Raum, den mein Blick durchforstet.
Da sitzt sie, in ihrem nachtblauen Kleid, ihre Haut braun gebrannt, das Haar kurzgeschnitten, bis zu den Schultern – ich mochte ihr langes, schwarzes Haar. Sie nippt an einem Glas. Ihr gegenüber ist frei.
‘Auf wen wartet sie?’, denke ich mir. ‘Bitte lass es eine Freundin sein, eine Frau, ein Bekannter, ein Verwandter.’
Die verdrängten Gedanken klopfen an.
Ich stehe hinter einem dicken Vorhang, der Stoff rau, riecht nach Essen, will mich zerdrücken. Anspannung breitet sich in mir aus wie Gas.
Der Kellner bringt das Essen an ihren Tisch. Ich bin verwirrt.
Sie wartet nicht?
Die verkrampfte Stirn löst sich, eine Erleichterung fließt durch den Körper. Ich atme aus, weiß gar nicht, wie lange ich die Luft schon halte. Sie ist meine Frau.
Heute ist ein guter Tag.
Ich möchte sie überraschen, ich gehe zu ihr hin. Ihre schwarz umrandeten Augen fixieren den Teller. Ich setze mich auf den Stuhl und schaue sie an, ohne etwas zu sagen, ich genieße es. Sie ist wunderschön, wie schon immer.
Ich beobachte sie geduldig. Ihre Gabel schlägt auf den Teller, das Messer kreischt auf dem Porzellan, sie isst hastig, zu schnell – so kenne ich sie nicht.
"Alles in Ordnung?”, frage ich, ich grinse, sie wird ihren Blick anheben, mich sehen, sie wird glücklich sein.
Das Besteck fällt ihr aus der Hand, ihre Augen schwimmen in Tränen. Sie starrt mich an, starrt durch mich hindurch. Die Lippen krümmen sich, das Kinn zittert, sie hält sich den Fingerrücken unter die Nase.
“Du muss nicht weinen”, sage ich, “ich bin wieder da.”
Sie schnieft, streckt die Hand und fordert die Rechnung.
“Tu das nicht, lass uns reden. Ich bin nicht sauer auf dich”, sage ich, meine Stimme weich wie Butter. Der Kellner bringt ein Heft, in schwarzes Leder gebunden, legt es auf den Tisch, ich strecke die Hand danach, sie ist schneller.
“Ich mach das”, sage ich. Doch sie legt das Geld schon rein.
“Was ist nur los? Was habe ich getan?” Mein Blick haftet auf ihr.
Sie tupft sich den Mund ab und legt das Tuch auf den halbvollen Teller. Dann schaut sie mich an, wieder ist es nur ein leerer Blick.
“Alles Gute zum Jahrestag!”, sagt sie leise, ihre Stimme zittert, sie steht auf und geht, mit ihr der blumige Duft.
Wie versteinert sitze ich da. Warum freut sie sich nicht, mich zu sehen? Ist sie wirklich sauer, weil ich unseren Jahrestag verpasst habe? Ich war doch im Krankenhaus. Was ist nur los mit ihr?
Am Abend traue ich mich nicht ins Schlafzimmer, die Türe ist zu, ich möchte sie nicht überfordern. Ich will anklopfen, mit ihr reden, doch meine Hand vereist bei dem Versuch. Sie muss den Schock bearbeiten, ich gebe ihr Zeit.
Morgen wird ein guter Tag, ein besserer.
Ich lege mich aufs Sofa, verschränke die Arme hinter dem Kopf und starre die Decke an. Es ist still, draußen ist die Nacht über die Stadt eingefallen, ein leichter Luftzug irrt durch die Wohnung. Hin und wieder Stimmen vor dem Haus oder vorbei rauschende Autos. Doch sie höre ich die ganze Zeit. Ihr Schluchzen. Ich finde keinen Schlaf, stehe auf und überlege, was ich sagen kann, wie ich sie trösten kann, wie ich alles zu dem machen kann, was es war.
Irgendwann in der Nacht öffnet sie die Tür. Das macht sie immer, wenn es ihr warm ist. Ich warte, warte sehr lange. Vielleicht zu lange. Dann stehe ich auf. Das Licht der Straßenlaterne fällt ins Schlafzimmer, sie liegt auf dem Bett, zusammengekauert, die Decke fest umschlungen. Sie schnieft, redet wirres Zeug im Schlaf. Vorsichtig nähere ich mich und knie mich neben sie.
Ihre Schminke ist verschmiert, ihr Atem kurz und zittrig. Ich streichele ihr zerzaustes Haar.
“Ich vermisse dich”, sagt sie.
“Ich bin hier”, sage ich.
“Warum bist du gegangen?”
“Was meinst du?”
Sie schweigt, ihre Wangen sind feucht, ihre Stirn in Falten. Sie dreht sich, etwas fällt auf den Boden. Ich hebe es auf: Einer der fehlenden Bilderrahmen vom Kaminsims. Ich halte ihn gegen das hereinfallende Licht. Sie und ich, unsere Hochzeit. Die Scheibe ist zerbrochen.
“Was ist nur los?”, sage ich. Mein Atem stockt, kalter Schweiß überzieht meine Stirn. Das Laternenlicht wirft lange, gespenstische Schatten ins Zimmer: Die Pflanzen auf dem Fenstersims, die Fensterstreben, die Tonfiguren, sie alle sind als Schatten auf dem Boden. Doch etwas fehlt. Ja, ganz sicher. Meine Blicke wandern über die Wand, über den Boden, ich kann es nicht finden. Etwas fehlt! Und dann, wie ein zerbrechender Spiegel, fällt ein Schleier von meinen Augen:
Es ist mein Schatten – er fehlt.