Ein guter Tag
Es gibt Tage, an denen man schon kurz nach dem Aufstehen weiß, dass es ein Scheißtag werden wird. Manchmal sogar noch früher.
Als ich meine Augen aufschlage und auf den Wecker sehe, der sich verdächtig still verhält, beschleicht mich das Gefühl, dass heute so ein Tag ist.
Es ist halb elf. Irgendetwas stimmt hier nicht. Noch im Halbschlaf versuche ich, mich durch die Wochentage zu zählen und komme zu dem ernüchternden Ergebnis, dass heute keinesfalls Wochenende sein kann. Es ist Mittwoch, ich habe keinen Urlaub, dafür aber einen Gerichtstermin um 10.00 Uhr. Und ich habe verschlafen.
Was drei Wecker nicht geschafft haben, bewirkt jetzt diese Erkenntnis. Schlagartig hellwach schwinge ich meine Beine aus dem Bett und erschlage dabei fast meine Katze, die vor meinem Bett sitzt und mich vorwurfsvoll anguckt.
„Smilla, warum kannst du nicht, wie andere Katzen auch, morgens früh aufs Bett hüpfen und hartnäckig dein Frühstück verlangen?“
Smilla ist Langschläferin und sehr geduldig, was ihr Frühstück angeht. Genau, wie ihr Frauchen.
Auf dem Weg ins Bad begegnet mir mein Telefon, dessen Blinken mich geradezu hysterisch anschreit. Mein Handy teilt mir ebenfalls mit, dass ich drei Anrufe verpasst hab. Seufzend wähle ich die Nummer vom Büro.
„Nora, endlich! Das Gericht hat schon angerufen, du hast Termin heute! Um zehn!“
Schön, dass sich jemand so freut, wenn ich anrufe.
„Ich weiß“ sag ich. „Ich hab verschlafen. Und, ist es schlimm? Termin verlegt?“
Ja, er ist verlegt. Um eine Stunde verschoben. Na großartig... Die morgendliche Dusche wird heute ein kurzes Vergnügen, der Becher Kaffee fällt aus und Bügeln wird sowieso überbewertet. Unter der Robe sieht keiner, dass die Bluse zerknittert ist.
Als ich nach gefühlt stundenlanger Parkplatzsuche, die schließlich im Halteverbot endet, pünktlich auf die Minute um elf Uhr in den Gerichtssaal stürze, nimmt der Richter gerade Platz. Geschafft! Mann, bin ich gut! Hoffentlich dauert das hier nicht zu lange. Ich werfe mich in die Robe, krame meinen Kuli aus der Handtasche und setze mich an den Tisch. An den Tisch, auf dem eigentlich jetzt meine Akte liegen sollte. Eigentlich. Uneigentlich liegt sie bei mir zuhause. Mann, bin ich blöd! Um was geht’s hier heute überhaupt?
Glücklicherweise ist schon während meines Jurastudiums eines meiner Talente bis zur Vollkommenheit gereift: sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit.
Nachdem ich mir vom vorsitzenden Richter ein paar Blatt Papier geborgt und ihm versichert hab, dass ich vollumfänglich mit der Angelegenheit vertraut und natürlich in der Lage bin, auch ohne Unterlagen zu verhandeln, erbittet der mir gegenüber sitzende Kollege das Wort. Ach wie schön. Als er fertig ist, zücke ich meinen Stift und kritzle zwei Buchstaben drauf: nA.
Nach Antrag. Die Gegenseite erkennt die Forderung an.
„Sind Sie sicher, Herr Kollege? Wollen wir nicht noch ein bisschen streiten?“ Nein, will er nicht. Auch schön. Na, das ist ja noch mal gut gegangen, schade, dass es nicht jedes Mal so einfach läuft.
Während ich durch das Gerichtsgebäude in Richtung Ausgang schlendere und beschließe, diesem Tag doch noch eine Chance zu geben, öffnet sich rechts vor mir eine Tür. Ein Frauenkopf lugt hervor und sieht sich suchend um.
„Frau Kollegin?“ Ihre Miene erhellt sich, als sie mich erblickt. „Hätten Sie kurz Zeit für einen Rechtsmittelverzicht? Kurze Ehe, kein Versorgungsausgleich, keine Kinder, ganz unproblematisch“
Und ganz offensichtlich hat nur einer der noch Eheleute einen Anwalt genommen. Das genügt eigentlich auch, aber wer es ganz eilig hat mit dem Aus der Ehe, braucht spätestens beim Scheidungstermin einen Anwalt. Die Erklärung, dass man darauf verzichtet, Beschwerde gegen den Scheidungsbeschluss einzulegen, kann man vor Gericht nämlich selbst nicht wirksam abgeben, dafür braucht man jemanden, der sich damit auskennt.
So jemanden wie mich zum Beispiel.
„Ja, ich komm eben mit rein.“
Ich folge der Kollegin, die sich an den Tisch zu Ihrer Mandantin setzt, in den Saal.
Den beiden gegenüber sitzt der Ehemann und blättert in irgendwelchen Unterlagen. Attraktiv. Lächelnd. Souverän.
Der Eindruck der Souveränität verliert sich ein wenig, als er mich ansieht. Ein kurzes Flackern zieht über sein Gesicht und er vergräbt sich hastig wieder in seinen Unterlagen.
Tja. Keine schöne Sache, so eine Trennung.
Sicher auftreten, Nora. Immer schön sicher auftreten.
Ich setze mich neben ihn. Er sieht noch genauso aus, wie vor zwei Jahren. Das dunkle Haar ist ein bisschen länger als früher, er trägt einen Dreitagebart. Und er riecht gut. Mein Gott, was riecht dieser Mann gut. Das Parfum nehme ich auch heute noch selbst in der kleinsten Nuance wahr, den Namen der Marke hab ich vergessen. Oder verdrängt. Aber wann immer ich diesen Duft wahrnehme, denke ich an eine Zeit zurück, von der ich mal dachte, dass sie glücklich war.
„Hallo Nora. Es tut mir leid, mach's gut. Deinen Schlüssel schicke ich Dir per Post zu.“
Mit dieser SMS hatte er vor zwei Jahren unsere fünfjährige Beziehung beendet. Einen Tag vor Heiligabend, als ich gerade dabei war, sein Weihnachtsgeschenk einzupacken. Weil er es mir nicht unter dem Tannenbaum sagen und mir das Fest verderben wollte, hat er es mir halt schnell mal per SMS mitgeteilt. Wie fürsorglich.
Den Grund kannte ich bis heute nicht.
Ich betrachte die Frau, die mir gegenüber sitzt. Melanie hat sich auf den ersten Blick auch nicht sehr verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen hab. Als Praktikantin. In meiner Kanzlei.
Mir ist übel. Sie ist schwanger. Hochschwanger, wie es scheint.
Der Richter räuspert sich, offensichtlich hat er irgendetwas gesagt, aber ich hab nicht zugehört. Fasziniert betrachte ich Melanies Gesichtszüge, die sich im Sekundentakt verändern, während sie mir fast verzweifelt in die Augen starrt. Und ich verstehe.
Er rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, offensichtlich hat er auch verstanden.
Ich rechne. Dauert es wohl länger oder kürzer als einen Monat, bis das Kind kommt? Ich verwette meinen Arsch drauf, dass es nicht von ihm ist. Bei bestehender Ehe wär das dem Gesetz aber egal.
Ich schiele zu ihm rüber. Na, Papa?
Kurz, nachdem er unsere Beziehung von heute auf morgen auf den Müll geworfen hatte, war ich mit meinem Papa in der Stadt gewesen, um noch ein Weihnachtsgeschenk für Mama zu besorgen. Ich hatte es ihm versprochen, dass wir gemeinsam bummeln gehen. Wir haben an einem der Stände auf dem Weihnachtsmarkt Halt gemacht. Während ich mechanisch die Pommes, von denen ich nichts schmeckte, in mich rein schob liefen mir die Tränen in Sturzbächen über das Gesicht. Ich glaube, Papa war in seinen hilflosen Versuchen, mich abzulenken, genauso verzweifelt wie ich.
Die sich anschließende Wutphase war eindrucksvoll. Mir war vorher nie klar gewesen, zu welchen perfiden Racheplänen ich fähig bin. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich mich mit mir selbst so gut verstehe, zur Feindin möchte ich mich nicht haben. Umgesetzt hab ich keinen meiner Pläne. So viel Aufmerksamkeit hatte er nicht verdient. Und ich bin ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, da muss ich mich ein bisschen zurückhalten.
So ein Rechtsmittelverzicht sollte gut überlegt sein. Und aus der Vaternummer kommt er ja trotzdem noch raus, dauert nur noch ein bisschen und ist mit etwas Mühe verbunden. Selbst schuld, wer zu geizig ist, einen eigenen Anwalt zu nehmen, muss sich hinsichtlich der Rechtskraft eben noch einen Monat in Geduld üben. Eine Chance der späten Rache?
Der Duft seines Parfums hat sich mit seinem Schweißgeruch vermischt. Unangenehm. War das früher auch schon so? Ich kann mich nicht erinnern, aber das wär mir doch aufgefallen? Nervös knetet er seine Hände, die feuchte Flecken auf der Tischplatte hinterlassen haben. Mir fällt auf, dass er nicht in der Lage ist, mich anzusehen.
Der Richter hat die Nase voll: „Hallo?! Frau Kollegin, sind sie noch bei uns?!“ Er brüllt fast.
Sein „Hallo“ reißt uns heraus. Mich aus meinen Gedanken – und ihn aus mir. Er ist weg. Ich habe das Gefühl, als wäre eine zu enge Halskette gerissen, eine schöne Kette, aber eine mit Bernsteinen dran. Ich mag keine Bernsteine. Neben mir sitzt ein Fremder. Ich mag mein Leben.
"Ja." sag ich. "Ich verzichte."
Als ich bei meinem Auto ankomme, ziehe ich den Strafzettel unter dem Scheibenwischer heraus.
Manchmal wird aus einem Scheißtag doch noch ein schöner Tag.