Ein Gutenachtlied
Habe mir lange überlegt ob der Text nicht eigentlich unter Gesellschaft gehört, war mir aber nicht ganz sicher und hab mich daher für 'Sonstige' entschieden. Ihr könnt mir ja eure Meinung sagen in welche Kategorie dieser Text gehört.
Ein gute Nacht Lied
Kalter Wind pfiff durch das Zimmer und schien in seine Haut zu schneiden.
Aller stand in der Mitte eines Raumes, der einst mal ein teures Hotelzimmer gewesen war. Die Fenster waren geborsten oder zerschossen und boten keinen Schutz mehr vor der kalten sibirischen Luft.
Ein Haufen Asche in der Mitte des Raumes zeigte an was mit dem Mobiliar passiert sein musste. Es hatte einer oder mehreren Personen, vielleicht einer Familie, eine einzelne warme Nacht beschert.
Aller ging zwei Schritte in Richtung des Fenster, doch blieb dann wieder stehen.
Was wenn die Heckenschützen nur darauf warteten, dass er am Fenster erschien?
Aller traute der vermeintlichen Stille nicht, die seit dem Feuergefecht auf der Straße herrschte.
Er hörte nur seinen leisen Atem und das pfeifen des kalten Windes in den fast menschenleeren Straßen der Stadt.
Plötzlich war der peitschende Knall eines Schusses zu hören, dann war es wieder still und er hörte wieder nur seinen Atem und den Wind.
Doch war da nicht noch mehr?
Der Wind schien eine leise Melodie zu ihm zu tragen. Eine einfache Melodie, wie die eines Kinderliedes.
Aller horchte auf, die Melodie kam aus dem Gebäude, da war er sich sicher. Langsam folgte er der Melodie. Glasscherben knackten unter seinen Schuhen.. Er folgte der Melodie um mehrere Ecken und durch mehrere leere Türrahmen. Sie wurde nicht lauter, aber deutliche und Aller wusste das er ihr näher kam. Hastige Blicke in die Räume rechts und links seines Weges offenbarten ihm. Dass er sich nicht mehr im Bereich der ehemaligen Gäste des Hotels befand, sondern bei den Wohnungen und Arbeitsräumen der Bediensteten der Hauses.
Die Melodie kam aus einem der Räume. Aller betrat den Raum ohne auf mögliche Gefahren zu achten, er war sich sicher keiner Gefahr gegenüberzutreten.
Der Raum war fast vollständig leer. Das einzige Licht fiel durch ein zwei etwa faustgroße Löcher in der Wand, vermutlich Mörsergeschosse dachte sich Aller. An diese Wand gelehnt stand ein Kinderbett, es war leer, einige Sprossen waren bereits herausgebrochen und einem anderen Zweck zugeführt worden, den Aller nicht kannte. Das einst zartrosa Deckchen war inzwischen grau und wies eine größere Anzahl von Brandflecken auf. Vor dem Bett hocke eine Frau. Ihr Alter war für Aller schlecht abzuschätzen, denn ihr Gesicht lag unter einer dicken Schicht von Dreck und Russ begraben. Lange Striemen unter ihren Augen zeigten dass sie einst viel geweint haben musste, aber die Tränen waren inzwischen versiegt. Ihre schwarzen Haare waren verfilzt und verschiedene Stücke an Unrat ragten aus ihnen hervor. Was Aller aber am meisten in Staunen versetzte war ihr Kleid. Sie trug ein weißes Hochzeitskleid mit viel Spitze. Allerdings war das einst prachtvolle Kleid, wie alles andere auch, zerrissen und schmutzig.
Die Frau hielt eine Puppe und sang ihr ein Lied vor; Aller verstand den Text nicht.
Sie hielt die Puppe wie ein kleines Kind, fest an sich gepresst und in ein Stück ihres Kleides gewickelt.
Der Puppe fehlte der rechte Arm und die beiden gläsernen Augen der Puppe fehlten, auch war der Kunststoff der Puppe an mehreren Stellen geschwärzt und geschmolzen, die Haare waren nur noch eine schwarze verkohlte Masse.
Es juckte Aller in den Fingern, er wollte sie fotografieren, sie der Weltöffentlichkeit präsentieren und ihr ihr Leid zeigen. Dieses Bild würde ihn in die höchste Riege der Kriegsfotografen katapultieren. Nie wieder in Länder der dritten Welt geschickt werden, die niemand kennt und die niemanden interessieren, um dort vom aussterben bedrohte Volksstämme fotografieren – nein, er würde sich seine Arbeitsgebiete aussuchen können, aus vielen Arbeitsangeboten wählen können, er würde für alle arbeiten können.
Aber Aller hatte seine Kamera auf der Straße bei dem Schusswechsel verloren. Wahrscheinlich war die teure Kamera dabei beschädigt worden.
Aller verfluchte die Heckenschützen dafür.
Woher könnte er jetzt eine Kamera bekommen? Oh, was würde er jetzt für eine Kamera tun und sei es nur eine von diesen schrecklichen 100DM-Modellen, die Amateure zu gerne mit sich herumtrugen.
Plötzlich wurde Aller von hinten angeschrieen, er wirbelte herum. Vor ihm stand ein Mann in schmutzigen Kleidung ungestutzten Bart und einer Kalaschnikow im Anschlag. Er brüllte Aller an, doch er verstand nichts. Er würde diese Kanakensprache der Bewohner dieses Landes niemals lernen, hatte er sich geschworen, sie sollten gefälligst Englisch sprechen.
Aller verstand ihn nicht, auch nicht als dieser mit dem Gewehr in die Ecke zu deuten begann. Er hatte gar keine Lust sich von diesem dahergelaufenen die Chance des Lebens verderben zu lassen. Ohne noch einen weiteren Kommunikationsversuch zu starten ging er auf die Tür zu.
Ein plötzlicher Schuss zerschnitt die Stille, die Frau reagierte nicht und sang weiter. Aller schaute an sich herunter, sein Hemd färbte sich am Bauch rot, mit der rechten Hand fühlte er nach der Wunde. Eine Bauchwunde dachte er sich und ignorierte alles was er jemals über die Tödlichkeit von Bauchwunden gehört hatte. Die Wunde würde ihn auch nicht aufhalten, aber es würde ihn Zeit kosten. Wutendbrand stürzte er sich auf den Mann, der ein zweites Mal schoss und Aller damit zu Boden gehen lies.
Allers letzter Blick fiel wieder auf die Frau – sie saß da und wiegte ihr Kind in den Schlaf – dann versank sein Bild, sein Schlüssel zum Ruhm, in der Schwärze der ewigen Nacht.