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Ein großes Mädchen
Ich bin schon ein großes Mädchen. Ja, wirklich. Das sagt meine Mama nämlich auch immer.
Manchmal find ich es doof, ein großes Mädchen zu sein. Neulich waren Mama und ich in der Spielzeugabteilung. Ich durfte mir für meinen Geburtstag ein Teil aussuchen. Und da gab es die neue Puppe, die auch die Lina hat. Die Lina ist meine allerbeste Freundin auf der Welt.
Also in der Spielzeugabteilung habe ich die Mama gefragt, ob ich die auch haben kann, damit Lina und ich Zwillinge spielen können. Mama hat die Packung genommen und lange auf das Preisschild geguckt. Dann hat sie mich gefragt, ob ich nicht doch lieber etwas anderes haben wolle, vielleicht nur ein neues Kleid für Ella, meine alte Puppe. Da gäbe es doch so ein tolles blaues mit Glitzer-Zaubersteinen. Da würde sich Ella sicherlich drüber freuen. Dann hat mich die Mama mit diesem Blick angesehen, wo ich nicht weiß, ob sie traurig ist oder nicht. Also habe ich mir dann das Kleid ausgesucht, weil große Mädchen halt auch an andere denken.
An dem Abend hat Mama dann den Papa angerufen. Ich war im Flur spielen und hab das heimlich mit angehört. Papa hab ich schon ganz lange nicht mehr gesehen. Eigentlich geh ich immer am Wochenende zu ihm. Das ist schön, denn da darf ich immer Fernsehen gucken, solange ich will! Jetzt war ich schon lange nicht mehr bei Papa, der hat nie mehr Zeit.
Mama wird immer wütend, wenn sie mit Papa telefoniert. Meist geht es um Geld und Absprachen und so was. Diesmal war es ganz besonders schlimm. Mama hat mit Papa über meinen Geburtstag gesprochen und ob Papa nun kommen würde oder nicht. Mama ist dann immer lauter geworden und irgendwann hat sie nur noch gemeine Sachen gesagt. Da habe ich dann anfangen müssen zu weinen. Die Mama hat die Wohnzimmertür aufgemacht und hat mit dem Handy in der Hand erschrocken da gestanden. Sie hat dann schnell aufgelegt und mich ganz fest in die Arme genommen.
Ich habe der Mama gesagt, dass ich mir zu meinem Geburtstag eigentlich gar nichts wünschen würde und dass ich auch gar nicht will, dass Papa kommt, dann müssten sie sich nicht streiten.
Da hat Mama mich noch fester an sich gedrückt und auch angefangen zu weinen. Ich hab sie mit aller Kraft zurückgedrückt.
Mama hat gemeint, dass sie mir eines Tages alles kaufen würde, was ich verdiene, das würde sie mir versprechen. Und dass ich ein ganz tolles Mädchen bin. Und dass im Moment alles ganz schwierig sei und ich das verstehen müsse. Und dass ich ein großes Mädchen sein und ihr immer helfen müsse, das sei ganz wichtig. Ich habe dann genickt und Mama hat mir vorsichtig die Haare aus dem Gesicht gestrichen und mir mit einem Taschentuch die Tränen weggewischt.
Vom vielen Arbeiten ist Mama abends eigentlich immer ganz kaputt. Aber an dem Abend hat sie extra mein Lieblingsessen gemacht, Kaiserschmarrn mit Vanillesoße. Das ist superlecker. Normalerweise darf ich nicht so viel Süßes essen, nur an meinem Geburtstag, aber der war ja noch nicht. Aber Mama hat gesagt, wir hätten uns das verdient. Und sie hat auch ganz viel davon gegessen. Und dann haben wir ganz lange zusammen gespielt und Quatsch gemacht. Das macht meine Mama nur noch selten mit mir. Denn sie hat oft dolle Kopfschmerzen.
Mama macht sich immer Sorgen. Vielleicht tut ihr deswegen der Kopf immer weh. Aber zum Arzt gehen mag sie nicht.
Ich darf übrigens schon alleine von der KiTa nach Hause gehen, weil die Mama dann immer noch arbeitet. Den Weg hat mir meine Mama extra gezeigt, nur gerade die Straße runter und an der Ampel warten bis das Männchen grün ist, sonst darf man nicht über die Straße. Und mit Fremden mitgehen darf man auch nie nie nie, egal wie lieb die sind!
Am Anfang hatte ich Angst, aber dann ging es einfach. Ich hab sogar meinen eigenen Schlüssel. Lina darf noch keinen eigenen Schlüssel haben, weil ihre Mama Angst hat, dass sie ihn verliert. Aber meine Mama nicht. Du bist ja mein großes Mädchen, du kriegst das mit dem Schlüssel hin, hat sie gesagt.
Neulich kam ich von der KiTa und da war Mama schon zu Hause. Sie hat im Wohnzimmer gelegen und geschlafen.
Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe da gespielt, um sie nicht zu stören. Als ich später Hunger hatte, da hat Mama immer noch geschlafen. Sie muss ganz müde gewesen sein, denn sie lag einfach so auf dem Wohnzimmerboden. Also habe ich mir selbst ein Brot gemacht mit ganz viel Marmelade drauf, weil Mama das ja nicht gesehen hat.
Als ich später müde war, bin ich allein ins Bett gegangen. Ich habe mir sogar die Zähne geputzt. Mama hat mir beigebracht, dass das ganz wichtig ist, dass man sich immer die Zähne putzt. Denn sonst kommen Karius und Baktus und machen, dass die Zähne schwarz werden. Und das will ich nicht.
Am nächsten Morgen hat Mama vergessen mich zu wecken, weil sie immer noch geschlafen hat. Aber zum Glück bin ich noch rechtzeitig aufgewacht und bin dann ganz schnell alleine los. Das hat sogar richtig gut geklappt mit dem Weg zur KiTa.
Als ich wieder nach Hause kam, war Mama immer noch am Schlafen und im Wohnzimmer roch es nicht gut. Die Mama hat nämlich ein bisschen neben sich gepüschert. Das hab ich auch mal gehabt als ich nachts geschlafen hab und das war mir ganz peinlich. Mama hat gesagt, dass sei gar nicht schlimm, so etwas passiere jedem mal. Sie hat mein Bett abgezogen und mir ganz frische Bettwäsche gegeben und einen neuen Schlafanzug. Ich mag neue Bettwäsche, weil die so gut riecht.
Also habe ich leise das Fenster im Wohnzimmer aufgemacht und mit dem Küchentuch den Fleck auf dem Teppich ganz vorsichtig weggemacht, um Mama nicht zu wecken, denn ihr soll das auch nicht peinlich sein. Dann hab ich mir wieder selbst ein Brot gemacht.
In der KiTa haben wir an dem Tag ganz tolle Bilder gemalt, so mit Farbe, die man sich auf die Finger tut und dann auf das Blatt schmiert. Das war lustig. Das wollte ich der Mama auf jeden Fall erzählen und ihr mein Bild zeigen, also bin ich damit später ins Wohnzimmer gegangen. Die Mama wollte aber gar nicht aufwachen, auch nicht, als ich ganz oft „Mama!“ gesagt und sie sogar ein bisschen geschüttelt habe. Die Mama ist wohl richtig krank.
Als ich einmal krank war, da war ich auch so stark müde und musste immer ganz viel schlafen. Und Mama hat mir Hühnersuppe gekocht, damit ich wieder ganz schnell gesund werde.
In der Küche habe ich für sie ein Brot gemacht und so schräg durchgeschnitten, wie die Mama das ab und zu für mich macht. Weil eine Hühnersuppe kann ich ja noch gar nicht machen, weil ich nicht allein an den Herd darf. Ich hab das Brot dann neben sie gestellt, damit sie es gleich essen kann, wenn sie wieder aufwacht und auch ein Glas Wasser. Und ich hab sie zugedeckt mit unserer Kuscheldecke. Damit sie schnell wieder gesund wird, hab ich Ella neben sie gestellt, die beschützt mich und hilft mir ja auch immer, wenn‘s mir nicht gut geht.
Die Kuscheldecke ist voll flauschig und riesig groß. Die liegt immer im Wohnzimmer. Und wenn Mama und ich uns zusammen einen Film anschauen, dann kriechen wir immer beide ganz drunter, bis nur noch unsere Köpfe rausgucken.
Später hat das Telefon geklingelt und ein Mann war dran. Er hat gefragt, wo Mama denn bleiben würde, ihre Schicht hätte schon lange angefangen. Ich habe ihm gesagt, dass Mama schläft und da ist der Mann ganz ärgerlich geworden. Da hab ich Angst bekommen und schnell aufgelegt.
Das Telefon hat noch lange geklingelt und dann nicht mehr. Ihr Brot hat Mama nicht gegessen. Und dann hab ich es halt getan. Man soll schließlich kein Essen wegwerfen. Ich bin wieder in mein Zimmer gegangen und hab wieder da gespielt, obwohl das Zimmer voll klein ist und ich lieber im Wohnzimmer spiele, weil man da mehr Platz hat, um alles aufzubauen. Ich hab nämlich sogar den Bauernhof mit Pferden und Schweinen und Hühnern und so.
Abends hab ich aber doch nochmal versucht die Mama zu wecken, weil mir so langweilig war. Sie ist aber immer noch nicht wach geworden. Sie muss wohl sehr krank sein, denn ihre Haut sieht so komisch bleich aus und fühlt sich an wie so Wachs bei einer Kerze, die schon ein bisschen länger ausgegangen ist. Da hab ich halt den Fernseher angemacht, ganz leise, und habe ein paar Sendungen angeschaut, aber nur die, die ich auch gucken darf.
Auf Kanal 4 kamen nur so lustige Filme mit Hunden und Katzen und ich hab auch nicht umgeschaltet. Ich habe mich ganz eng zu Mama auf dem Boden unter die Decke gekuschelt und Fernsehen geguckt bis ich eingeschlafen bin. Am nächsten Morgen hat mir der Rücken voll wehgetan. Mama hat weitergeschlafen. Und ich bin wieder allein zur KiTa gegangen.
Im Wohnzimmer riecht es jetzt immer ganz ekelig und da mach ich oft das Fenster auf. Aber nicht zu lange, damit Mama sich nicht noch erkältet.
Wir haben auch fast gar kein Brot mehr. Und ich finde das auch doof, immer nur Brot zu essen. Die Frau Hagen-Detmers, meine Lieblingserzieherin, hat mich schon gefragt, ob bei mir zu Hause alles in Ordnung sei. Und da habe ich natürlich gesagt, dass alles okay sei und dass nur die Mama gerade krank ist. Dann hat das Telefon wieder ganz lange geklingelt. Aber ich habe mich nicht getraut dranzugehen, weil da ja dieser böse Mann mal dran war. Und geklingelt an der Tür hat es auch oft. Ich hatte voll Angst. Ich bin dann überhaupt nicht mehr nach draußen gegangen, sondern immer bei der Mama geblieben.
Ich glaub, ich werd heute doch mal Hühnersuppe für Mama kochen. Wo die Dosen stehen, weiß ich. Mama hat mir zwar verboten den Herd anzumachen, aber ich will doch, dass sie ganz schnell wieder gesund wird. Das ist mein einzigster Wunsch. Schließlich ist ja heute mein Geburtstag.