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Ein Glas Wein für Mr. Smith
Das Mädchen auf dem Foto lächelte. Sie war hinreißend schön. Vielleicht zehn Jahre alt, und schon jetzt war deutlich zu erkennen, dass sie irgendwann jedem Burschen den Kopf verdrehen würde.
„Ihre Tochter?“ Blaine deutete mit einem knappen Nicken auf das Foto.
Der Mann hinter dem riesigen Schreibtisch stutzte und sah dann auf das Bild. Ein zärtliches Lächeln erhellte seine Miene, die vor einem Augenblick noch ernst und bedrückt gewesen war.
„Ja, das ist meine kleine Prinzessin. Ihr Name ist Katelyn.“ Der sorgenvolle Gesichtsausdruck kehrte zurück. Er räusperte sich und warf einen flüchtigen Blick in seine Unterlagen.
„Es gibt ein paar Dinge, die wir probieren können. In diesem Stadium sollte man noch nicht …“
„Wie alt ist sie?“
„Mr. Blaine, ich kann mir denken, wie Sie sich gerade fühlen. Aber lassen Sie uns jetzt vielleicht besser das weitere Vorgehen besprechen.“
Blaine warf einen kurzen Blick auf die Bilder, die ausgebreitet auf dem Schreibtisch lagen, und sah dann noch mal auf das Bild des Mädchens.
„Sie sieht aus, als könnte sie mal Model werden. Ich bin Fotograf. Hab da einen Blick für.“
Dann stand er auf. Der Arzt sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Mr. Blaine, Sie dürfen jetzt nicht …“
Er war bereits an der Tür und drehte sich noch mal kurz um.
„Ich war mal mit nem Model zusammen. Hat sich zu Tode gekokst.“
Der Arzt richtete sich jetzt auch auf.
„Warten Sie einen Moment. Bitte bleiben Sie. Wir haben hervorragende psychologische Betreuer, die …“
„Passen Sie auf Ihre Tochter auf. Is’n Scheißspiel, das Leben.“
Dann ging er hinaus.
„Meinst du nicht, dass du langsam genug hast, Partner?“
Blaine warf einen zerknüllten Geldschein auf die Theke.
„Meine Sache. Solange ich zahle, Fresse halten und nachfüllen.“
Der Barkeeper sah zuerst Blaine und dann den Geldschein an. Schließlich fischte er den Schein vom Tresen und griff zur Bourbonflasche.
„Hör zu, Freundchen, wenn du mir hier Ärger machst, kriegst du was aufs Maul, egal wie viel Kohle du bei dir hast. Kapiert?“ Er knallte ihm das Glas vor die Nase und drehte sich brüsk um.
Blaine sah gedankenverloren in seinen Drink.
„Was immer du sagst, Kumpel“, murmelte er und nippte an dem Whiskey.
„Das bringt nicht viel.“
Blaine fuhr aus seinen Gedanken hoch. Neben ihm saß ein hagerer, unscheinbarer Mann mit Stirnglatze und einer schmalen Brille. Er hatte nicht bemerkt, dass sich der Typ neben ihn gesetzt hatte.
„Wie bitte?“
Der Mann deutete mit einem dürren, spinnenbeinartigen Finger auf den Drink.
„Alkohol wird Ihnen nicht helfen, Mr. Blaine.“
„Kennen wir uns?“
Der Anflug eines leichten Lächelns huschte über das Gesicht des Mannes.
„Nun, ich weiß, wer Sie sind.“
Blaine grunzte unwillig.
„Hören Sie, ich bin nicht in der Stimmung für rätselhaftes Gequatsche. Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“
„Ich kenne Ihre Arbeiten. Mir haben ein paar Ihrer Bilder gut gefallen. Nicht alle. Aber einige fand ich recht … treffend.“
„Falls Sie einen Fotografen suchen, muss ich Sie enttäuschen. Ich nehme ab heute Urlaub. Suchen Sie sich einen anderen. Donny Rasczek ist gut.“
„Ich habe kein Interesse an Donald Rasczek. Ihm fehlt das gewisse Etwas, das ihn ausreichend motivieren würde. Sie hingegen haben einen sehr triftigen Grund, mir das zu liefern, was mir vorschwebt.“
Blaine sah dem Mann in die Augen.
„Und was soll das für ein Grund sein?“
„Der einzige, der jetzt noch für Sie zählt, Mr. Blaine. Zeit. Sie haben nicht mehr viel davon, wie Ihnen seit heute Mittag bekannt ist. Und glauben Sie mir, völlig egal, was Dr. Spencer Tolvin sinnloserweise noch versuchen will, im September wird Ihre Uhr ablaufen.“
Wie eine heiße Welle spülte Wut durch Blaines Kopf. Langsam stand er von seinem Barhocker auf und näherte dem Mann sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter. Seine Hände waren so hart zu Fäusten geballt, dass sich die Fingernägel in seine Handflächen bohrten.
„Was bilden Sie sich eigentlich ein, mir so etwas zu sagen? Verticken Sie irgendwelche Sterbearrangements oder windige Hinterbliebenenversorgungen? Ich habe keine Ahnung, woher Sie von mir wissen oder was Sie mir hier andrehen wollen, Sie Scheißkerl. Aber eines sage ich Ihnen: wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen, verklag ich Sie und dieses Arschloch von Arzt, das offensichtlich meine Daten an Sie weitergeleitet hat. Das gibt’s ja wohl nicht! Kriegt der Wichser Provision, wenn er Ihnen passende Patienten nennt?“
Unbeeindruckt lächelnd schüttelte der Mann den Kopf.
„Ich will Ihnen überhaupt nichts verkaufen, Mr. Blaine. Und der gute Doktor hat mir nicht ein Wort über Sie verraten. Er betrügt zwar ab und zu seine Frau mit einem seiner Meinung nach exklusiven Callgirl, das für den Preis allenfalls mittelmäßig ist, aber in Bezug auf sein Berufsethos kann er zu Recht ein absolut reines Gewissen haben.“
„Jetzt pass mal auf, du Freak. Ich will …“
„… am Leben bleiben. Das ist es, was Sie wollen, Mr. Blaine. Was Sie wirklich wollen. Und ich kann Ihnen dabei helfen.“
Blaine stutzte. Doch bevor er etwas erwidern konnte, hob der Mann seine Hand.
„Sie denken, dass ich ein Betrüger oder verrückt bin. Seien Sie versichert, keins von beiden ist der Fall. Ich bin einfach nur sehr alt. Es ist schwer, überhaupt noch etwas zu finden, was meine Aufmerksamkeit länger als ein paar Augenblicke wecken kann. Sie wären normalerweise keine Ausnahme, denn Sie sind nichts, wirklich gar nichts Besonderes. Es ist Ihnen weder gelungen, in der Ihnen gegebenen Zeit etwas Großes oder Nachhaltiges zu bewirken, noch werden Sie einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wenn Sie gehen. Normalerweise würde ich keine Sekunde oder Gedanken an Sie verschwenden. Aber ich sagte es bereits, mir gefallen ein paar Ihrer Bilder. Deshalb möchte ich Ihnen einen Tausch vorschlagen. Und es ist ja nicht so, dass Sie noch etwas zu verlieren hätten, nicht wahr?“
Der Mann sah ihn erwartungsvoll, aber auch leicht herablassend an. Blaine setzte sich zurück auf seinen Hocker und hob sein Glas.
„Ach Scheiße! Sie haben doch nen totalen Hau weg. Wissen Sie was, ich hör mir Ihr dämliches Gequatsche an, bis ich ausgetrunken habe. Aber danach bin ich weg. Und wenn ich dann noch einmal von Ihnen hören sollte, ruf ich die Bullen. Das können Sie übrigens auch Ihrem Kumpel, dem Doc, mit nem schönen Gruß von mir ausrichten. Also los, erzählen Sie mir von diesem Tausch, Sie Spinner.“
„Fotos gegen Ihr Leben, Mr. Blaine. Das ist wirklich ganz einfach. Ich bezahle Sie schlicht für das, was Sie ohnehin beruflich tun. Nur erhalten Sie von mir kein Geld, sondern Lebenszeit.“
Blaine schnaubte verächtlich und schüttelte schief grinsend den Kopf.
„Aha, dann ist ja alles klar. Und wieviel kriege ich pro Bild? Ne Stunde? Eine Woche? Zehn Jahre?“
„Das kommt ganz darauf an. Wenn Sie befriedigendes Material liefern, bekommen Sie entsprechend viel Zeit von mir. Und wenn Sie mir inakzeptable Sachen bringen, wird Ihr Lohn zwangsläufig dürftiger ausfallen. Nur über eine Sache müssen Sie sich im Klaren sein - über den Wert entscheide ich allein, und zwar gänzlich ohne Mitspracherecht Ihrerseits.“
„Und was soll ich für Sie fotografieren? Kleine Kinder unter der Dusche oder vielleicht Frauen, die Sex mit Tieren haben? Ich wette, sowas ist genau Ihre Kragenweite.“
Der Mann lachte. Leise und kultiviert. Ein Lachen, das in einen Golfclub oder eine Oper gehörte, und nicht in eine schmuddelige Bar. Dann griff er in die Innentasche seines Mantels und zog ein gefaltetes Schwarzweißfoto heraus. Er schob das Bild mit einem Finger zu Blaine hinüber.
„Das hier ist meine Kragenweite. Ich bin sicher, Sie werden sich daran erinnern.“
Blaine klappte das Foto auf und sah es sich an. Eine Frau war darauf abgebildet. Sie trug zerfetzte, schmutzige Männerkleidung und kniete in den Ruinen eines Hauses. In den Armen hielt sie ein blutiges Bündel. Ihr Gesicht war eine einzige verzerrte Maske des Schreckens. Die Frau hatte die Augen aufgerissen und schrie einen stummen, endlosen Schrei in den Himmel.
Blaine schluckte hart und klappte das Foto wieder zu.
„Das war ’92 in Sarajevo. Ich wollte das Foto gar nicht machen. Scheiße, hätte ich gewusst, dass die Schweine auch Flüchtlingsunterkünfte beschießen, wär‘ ich nicht mal dort gewesen. Ich hab überhaupt nicht nachgedacht, sondern einfach nur den Auslöser gedrückt. Als keiner der großen Verlage das Foto wegen der miesen Qualität haben wollte, war ich froh. Verdammt froh. Es mag Jungs geben, die nur den verdammten Pulitzerpreis vor Augen haben, wenn sie eine Mutter fotografieren, die ihr totes Baby in den Armen hält. Ich gehöre nicht dazu. Auf sowas fahren Sie ab?“
„Sie müssen meinen extravaganten Geschmack weder verstehen noch diesen teilen. Es genügt, wenn Sie ihn kennen. Wie würde man in Ihrer Sprache sagen? Das ist der Deal – Sie geben mir Fotos, solche Fotos, und ich gebe Ihnen Zeit. Und damit Sie mich nicht für einen Scharlatan oder Verrückten halten, bekommen Sie auf das erste Bild einen kleinen Vorschuss. Als Beweis.“
Bevor Blaine etwas sagen konnte, hob der Mann kurz seine Hand und flüsterte etwas, das Blaine nicht verstehen konnte. Dann stand er auf und nickte ihm leicht zu.
„Lassen Sie sich morgen noch mal untersuchen. Am besten bei einem beliebigen anderen Arzt, falls Sie immer noch glauben sollten, dass Dr. Tolvin mit mir unter einer Decke steckt. Dann reden wir weiter.“
„Hey, Augenblick. Mal angenommen, ich würde diesen Blödsinn hier tatsächlich für eine Sekunde glauben, wieso soll ausgerechnet ich Ihre Fotos machen? Es gibt zig Fotografen, die besser und bekannter sind als ich.“
„Auch das habe ich Ihnen bereits gesagt, Mr. Blaine. Weil wir ein Fundament haben, das sich ausgesprochen motivierend auf unsere hoffentlich dauerhafte künftige Geschäftsbasis auswirken wird. Ihr Leben hängt von Ihren Fotos ab. Und falls Sie Interesse an der Verlängerung Ihres Lebens haben sollten, seien Sie in … sagen wir mal einer Woche wieder hier. In diesem Etablissement. Guten Tag, Mr. Blaine.“
Der Arzt spannte die Aufnahmen auf den beleuchteten Sichtschirm und hob einen Kugelschreiber, mit dem er auf die Bilder zeigte.
„Ich will ehrlich sein. Was wir hier sehen, ist ernst. Sehr ernst. Aber ich denke, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch realistische Chancen haben. Sie hätten jedoch wirklich keinen Moment länger zögern dürfen. Ein, zwei Monate später, und man könnte allenfalls noch etwas gegen die Schmerzen tun. Gott sei Dank lässt sich das aber jetzt noch unter Kontrolle bringen, wenn wir sofort intervenieren. Ich sorge dafür, dass wir diese Woche einen OP-Termin für Sie kriegen. Wenn Sie bitte schon mal das Aufnahmeformular ausfüllen würden. Ich werde inzwischen …“
„Kennen Sie Dr. Tolvin?“
Der Arzt runzelte nachdenklich die Stirn.
„Ist das nicht ein Kollege im St. Mattew? Der Name sagt mir zwar etwas, aber persönlich ist er mir nicht bekannt. Wieso fragen Sie?“
Blaine reichte ihm ein Blatt Papier. Der Mediziner überflog den Text. Dann stockte er und las den Bericht erneut. Konzentrierter.
„Das ist merkwürdig. Wieso hat er denn …?“ Der Arzt griff zum Telefon auf seinem Schreibtisch.
„Judy, verbinden Sie mich bitte mit der Onkologie im Mattew’s. Dr. Spencer Tolvin, bitte.“
Einen Moment später war die Verbindung hergestellt.
„Dr. Tolvin? Hier spricht Dr. Russell aus dem St. Thomas. Es geht um einen Patienten von Ihnen. Michael Blaine. Ich habe hier Ihren Befund vor mir und ich kann diese Diagnose beim besten Willen nicht teilen. Wir haben Mr. Blaine heute ebenfalls untersucht. Weder wurden derart schlechte Blut- und Markerwerte bestätigt, noch sind Anzeichen für Streuungen in Leber, Nieren und Pankreas feststellbar. Sind Sie sicher, dass wir vom gleichen Patienten sprechen? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen meinen Bericht noch heute …“
Blaine stand auf und verließ das Büro des Arztes.
„Sie haben sich entschieden, Mr. Blaine? Dann nehme ich an, der Vorschuss hat Sie überzeugt.“
Der Mann wirkte belustigt.
Blaine hob sein Whiskeyglas und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.
„Wer zur Hölle sind Sie?“
„Nennen Sie mich einfach Mr. Smith. Alles Weitere muss Sie nicht interessieren. Das einzige, das für Sie zählen dürfte, sind die Fotos, die Sie für mich schießen werden, nicht wahr?“
„Und wenn ich Nein sage? Der Arzt glaubt, man könnte mir jetzt noch helfen. Vielleicht brauche ich Sie ja gar nicht mehr.“
Smith lachte wieder in seiner leisen, blasierten Art.
„Mr. Blaine, jetzt enttäuschen Sie mich bitte nicht. Natürlich müssen wir keine weiteren Geschäfte mehr miteinander tätigen. Ich zwinge Sie wirklich zu gar nichts. Jedoch wird das Ihnen gegebene Leben in sieben Monaten enden. Egal, ob Sie sich operieren lassen, Medikamente schlucken oder nur noch Kamillentee trinken. Stellen Sie sich unser Geschäft wie die Pausentaste an einem elektronischen Gerät vor. Und meine Bezahlung besteht darin, dass ich diese Pausentaste für eine gewisse Zeit drücke.“
„Was hat das mit den Fotos auf sich? Ich meine, Scheiße nochmal, keine Ahnung, ob Sie der Teufel sind oder was auch immer. Aber Sie haben die Macht, den verdammten Tod aufzuhalten. Wofür brauchen Sie denn dann mich, wenn Sie ja offenbar allmächtig sind?“
„Ich bin ganz sicher nicht der Teufel, Michael. Ich darf Sie doch Michael nennen? Und allmächtig bin ich auch nicht. Wie ich sagte, ich bin einfach nur alt und sehr gelangweilt. Jede Form der Abwechslung stellt für mich ein willkommenes Geschenk dar. Und um auf Ihre Fragen zu antworten, für Sie und Ihresgleichen besteht ein Foto lediglich aus einer Abbildung, die Sie mit Ihren Augen betrachten.“
Sein Blick bekam einen träumerischen, verklärten Ausdruck, als er in eine unbestimmte Ferne schaute, die nur er sehen konnte.
„Ich jedoch kann aus einer Fotografie wesentlich mehr gewinnen. Die Emotionen der Situation, den Geruch der Seelen, Schwingungen des Geistes, das Echo eines Bewusstseins. Auf so viel fundamentalerer Ebene als durch die bloße Wahrnehmung des Auges. Es liegt jedoch nicht an mir, solche Momente zu fotografieren. Es ist wie mit einem erlesenen Wein, wenn Sie so wollen. Der Connaisseur weiß ihn zu schätzen. Selber herstellen kann er den Wein jedoch nicht.“
„Aber warum dann so furchtbare Motive? Ich meine, Herrgott nochmal, eine Mutter, die ihr zerfetztes Baby in den Armen hält? Was ist denn daran schön?“
„Es geht nicht um die Schönheit, sondern um die Intensität. Und glauben Sie mir, Michael, eine Hochzeit, eine Taufe oder ein Kindergeburtstag sind nicht einmal halb so intensiv und kräftig wie eine Mutter, die ihr zerfetztes Baby in den Armen hält.“
„Das mag ja sein, aber ich …“
„Schluss damit!“ Smiths Stimme verlor mit einem Schlag ihren kultivierten, gepflegten Klang. Ein Schatten legte sich über seine Miene und für einen winzigen, fast nicht messbaren Moment glaubte Blaine, er könnte hinter das Gesicht des Mannes blicken. Und was er dort sah, ließ ihn erstarren. Eine uralte, verkniffene und zerfurchte Fratze mit bösartig glühenden Augen und einem hassverzerrten Mund. Narben und Falten durchzogen fahles, verrottetes Fleisch wie Rinnsale voller Abwasser.
Doch bevor Michael noch Zeit hatte, entsetzt zurückzuweichen, sah er auch schon wieder in das unauffällige, lächelnde Gesicht, welches er von Smith gewohnt war.
„Wie gesagt, Sie müssen meinen Geschmack weder gutheißen noch teilen. Es genügt, wenn Sie ihn gut genug kennen, um mir das zu liefern, was ich haben will.“
Resigniert seufzend ließ Blaine die Schultern hängen. Er fühlte sich furchtbar müde, alt und hoffnungslos.
„Es kommt nicht nur auf die Kamera oder das Talent des Fotografen an. Egal, wie sehr mein Leben von diesen Bildern auch abhängen mag. Für jedes, wirklich jedes Bild braucht man auch diesen einen Faktor, der sich nicht kontrollieren oder erzwingen lässt. Genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort in der richtigen Sekunde abzudrücken. Wir reden hier nicht von einem Modelshooting. Die Fotos, die Sie haben wollen, kann man nicht vorbereiten, stellen oder bei Bedarf wiederholen.“
Blaine winkte dem Barkeeper zu und zeigte auf sein leeres Glas.
„Dieses Sarajevo-Bild, das Sie so toll finden. Wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht in Bosnien gewesen, in dieser Sekunde in diesem speziellen Flüchtlingslager, das Bild hätte es nie gegeben. Es war Zufall. Was ich damit sagen will, Mr. Smith, was mache ich, wenn ich Ihnen ganz einfach nicht die Bilder liefern kann, weil es der Zufall nicht will, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin?“
Smith drehte das Glas Wasser, welches unberührt vor ihm stand, in seinen Händen hin und her.
„Es freut mich sehr, dass Sie das fragen, Michael. Das zeigt mir, dass Sie unser kleines Arrangement offensichtlich doch nicht für den Blödsinn eines Freaks und Spinners halten. Daher werde ich Ihnen ein wenig unter die Arme greifen. Sie werden von Zeit zu Zeit eine Nachricht erhalten. Einen Anruf vielleicht. Oder ein Telegramm. Vielleicht auch eine Ansichtskarte oder einfach nur einen kleinen Notizzettel, den Sie eines Morgens auf Ihrem Küchentisch vorfinden. Darauf stehen ein Ort und ein Datum. Alles Weitere liegt dann bei Ihnen.“
Der Mann stand auf und legte einen makellosen Geldschein auf den Tresen. Die Note sah aus, als wäre sie gerade aus der Druckerei gekommen.
„Eine Sache noch. Die Fotos, die Sie machen, gehören exklusiv nur mir. Sie werden sie weder einer Zeitung noch anderen Medien zum Verkauf anbieten. Sie arbeiten nur für mich, wenn Sie in meinem Auftrag unterwegs sind. Sollten Sie jemals auf den Gedanken kommen, meine Fotos zu verkaufen oder jemandem von dieser gänzlich unglaubwürdigen Geschichte zu erzählen, dann …“
Blaine grinste humorlos.
„Schon klar, Mr. Smith. Dann lassen Sie die Pausentaste wieder los. Aber wie regeln wir das mit der Bezahlung?“
Smith reichte ihm eine schlichte Visitenkarte, auf der lediglich eine Nummer stand.
„Wenn Sie Ihren Auftrag erledigt haben, schicken Sie meine Fotografien an diese Postfachadresse. Sie werden nicht erfahren, wie viel mir die Bilder wert sind und wie viel Zeit ich Ihnen dafür gebe. Das werden Sie erst dann feststellen, wenn Sie eine erneute Nachricht von mir erhalten. Das bedeutet, um bei meinem Vergleich mit dem Wein zu bleiben, dass ich die Flasche geleert habe und es an der Zeit für Sie ist, mir eine neue Flasche zu bringen. Je besser, je befriedigender, desto mehr Zeit kriegen Sie von mir. Es ist nun mal ein Unterschied, ob Sie mir nur ein Glas Wein beschaffen oder ein ganzes Fass.“
Smith grinste still vor sich hin, als würde ihn sein Vergleich amüsieren. Dann reichte er Blaine eine Papierserviette.
„Ans Werk, Mr. Blaine. Ich habe Durst.“ Er deutete eine Verbeugung an und verließ grußlos das Lokal.
Michael Blaine betrachtete nachdenklich die zusammengefaltete Serviette, während er seinen Whiskey trank. Schließlich zog er das Stückchen Papier zu sich heran und klappte es auf.
Mit gestochen scharfer Handschrift stand darauf:
180 Greenwich St, New York, USA
11.September 2001