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Ein Glas Wasser
„Es ist schön hier.“
„Wie bitte?“ Er starrt sie an. Die Entrüstung ist ihm deutlich anzusehen.
„Ich finde, dass es schön ist hier.“ Sie bleibt ruhig. Sie will nicht ausrasten. Nicht schon wieder.
„Aber, das … das ist ein Loch!“
„Na und? Ich finde es eben schön.“ Auf den Schuhsohlen wippend fährt sie sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. Sie war seit Jahren nicht mehr hier. Mindestens dreißig.
„Es hat was Heimisches. Ja, das ist es. Heimisch.“
„Du findest es heimisch?!“ Er reißt den Blick von der löchrigen Tapete und schaut sie an. Sie zuckt genervt mit den Schultern.
„Ja, stell dir vor Jörg, ich mag es.“ Ihre Zigarette wippt im Mundwinkel mit, als sie das sagt. Ein bisschen Asche bröselt auf den Teppich.
Er dreht sich um, will noch einmal das Kinderzimmer besichtigen.
„Du gehst schon? Gibst der Wohnung nicht mal eine Chance?“ Sie sieht ihn nicht an. Sie starrt aus dem Fenster. Starrt, als ob sie einen Lichtblick sehen könnte in dieser schmierigen, grauen Suppe.
„Komm schon, Sarah. Du meinst das doch nicht wirklich ernst.“ Er sagt ihr nicht, dass er gar nicht gehen wollte.
„Und wenn doch?“ Die Zigarette geht aus. Sie spuckt sie auf den Boden und fischt in ihrer Hosentasche nach der Packung. „Ist dir ja eh egal. Du willst die Wohnung nicht behalten. Aber weißt du was? Ohne mich kannst du sie nicht verkaufen. Auch wenn wir verheiratet sind. Ich hab sie geerbt, nicht du.“
„Sarah …“ Er hatte gewusst, dass es schwer werden würde. Für sie beide.
„Du denkst, dass ist leicht für mich. Ist es nicht. Überhaupt nicht.“ Mehr sagt sie nicht, will sie nicht sagen. Es geht ihn nichts an, dass sie ihre Mutter vermisst. Dass die Wohnung das Einzige ist, was sie noch hat von ihr. Aber wie kann sie sich auch beschweren. Dreißig Jahre ist sie davongelaufen, wollte nichts von ihrer Mutter und deren Sucht wissen und jetzt war sie weg. Unerreichbar weit weg.
„Schatz, es ist schwer, aber überleg doch mal. Denk an Annie. Willst du, dass sie in diesem Umfeld aufwächst?“ Die Hände in den Hosentaschen vergraben, sieht er sie drängend an. Sie weicht zurück. Sie hat das Gefühl, dass seine Augen sie wie Scheinwerfer durchleuchten. Er seufzt.
„Ich versteh dich nicht. Du wolltest sie nie sehen und jetzt wo …“
„Ich weiß!“ Sie brüllt. Er macht sie krank. Der Vorwurf macht sie krank. Sie quält sich damit. Tag und Nacht. Sie versteht es ja selber nicht.
Er geht langsam auf sie zu, versucht sie in den Arm zu nehmen. Wie bei einem in die Enge getriebenen Tier.
Sie hebt die Hände. „Lass mich, Jörg.“
Er bleibt stehen und sieht sie an, schweigend. Dann dreht er sich um und geht. Ein Kloß bildet sich in ihrem Hals. Im Nebenzimmer wird der Wasserhahn aufgedreht und sie hört, wie er sich ein Glas Wasser einschenkt.
Sie schluckt, versucht, den Kloß die Kehle hinab zu zwingen.
„Hier.“ Plötzlich steht er hinter ihr. Das Glas Wasser in seiner Hand ist für sie. Ein Schluchzer entreißt sich ihrer Kehle.
„Wir schaffen das. Wir verkaufen die Wohnung.“
Er sagt es.
Sie nickt.
„Ich liebe dich.“, sagt sie. Es ist nur ein Flüstern. Aber hier, in dieser Wohnung ist es ein Schwur.