Ein Glas Wasser
Ein Glas Wasser
Sie stellte ihr Glas Wasser wieder auf den Tisch und legte die Hände auf die Tastatur. Hmmm. Wo war sie nochmal stehen geblieben? Ach ja. Immer noch suchte sie diese Java-Methode, welche ihr helfen sollte, den Text zu zentrieren.Sie dachte:„Warum sind diese Programmiersprachen immer so kompliziert?“. Es kam ihr so vor, als hätte Java hunderttausende von Methoden und die Richtige zu finden ist wie die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen.
Zwangsläufig fing sie an sich zu fragen, warum sie das alles überhaupt tat. Es fiel ihr kein Grund ein. Das Programm an dem sie zusammen mit sechs anderen Entwicklern Tag für Tag arbeitete schien keinen sinnvollen Nutzen zu haben. Zumindest keinen, den sie entdecken konnte! „Irgendwer wird den Kram schon brauchen, sonst würde ich hier nicht sitzen“ ging es ihr durch den Kopf. Wird wirklich alles was Menschen entwickeln auch gebraucht? Sie musste an dieses neue fantastische Gebäude in der Nachbarstadt denken. Ein Kongresszentrum, gebaut von einer Versicherung. Sie schätzte, dass von diesen aquariumartigen Businesspalästen bestimmt mehr als vier in den letzten zwei Jahren irgendwo in die graue Betonwüste gestampft worden waren. Kann es denn wirklich so viele Kongresse, Vorträge und Diskussionrunden geben, dass sich das lohnt?
Sie musste an die Bauarbeiter denken, die dieses Monster erschaffen hatten. Kranführer, Installateure, Glaser, aber auch Architekten und Ingenieure. Ob irgendeiner von ihnen sich jemals Gedanken darüber gemacht hat, ob diese Räume jemals benutzt werden? Genau wie sie scheinen sie einfach ihrer Aufgabe nachgegangen zu sein. Vielleicht sogar ohne sich jemals darüber Gedanken zu machen, was sie überhaupt tun und wofür. Konnte das sein?
Früher waren die Verhältnisse einfacher: Überleben, fressen, fortpflanzen. Klare Ziele, die die Natur jedem Lebewesen verordnet hatte. Doch bei den Menschen hatte sich etwas geändert. Irgendwie wussten nur noch wenige von ihnen, wofür sie überhaupt da waren, arbeiteten oder lebten. Oder gab es vielleicht jemanden, der ganz oben saß und alle Schalter bediente? „Schon wieder diese Verschwörungstheorie.“ dachte sie. Im Internet gab es einen ganzen Haufen dieser Geschichten. Die Amerikaner waren gar nicht auf dem Mond, sondern in einem schlecht beleuchteten Fernsehstudio. Der 11. September war von der CIA geplant. Im Bermuda-Dreieck werden Menschen von Außerirdischen gekidnappt, usw. Sie glaubte nicht an dieses Zeug. Als studierte Mathematikerin versuchte sie sich meistens an die Fakten zu halten. Doch je mehr sie darübernachsinnte, desto klarer wurde es ihr.
Kaum noch jemand, der in einem technischen Beruf arbeitet und den Überblick hat. Als Angestellter hat man seinen Abteilungsleiter. Dieser berichtet der Geschäftführung. Direkt? Nein. Fast immer gibt es einen „Local Director“, darüber den „National Director“, dieser ist wiederum der Geschäftsführung unterstellt. Weiss hier noch jemand über das Gesamtprodukt bescheid? Kann sein. Weiss dieser jemand dann auch noch darüber etwas, wo sein Produkt überall eingesetzt wird? Vermutlich nicht. Meistens endet die Kette nach zwei bis drei Stufen. Mehr überblickt man nicht mehr. Das Outsourcing tat sein übriges. Jemand wird beauftragt etwas zu entwerfen. Es gibt Spezifikationen. Eventuell verläßt er dabei niemals sein Büro, trifft den Auftraggeber nie. Er hat nur einen Ansprechpartner. Kommuniziert wird über Telefon und E-Mail. Die Globalisierung greift hier unverkennbar. Gedanken- und tatsächliche Produkte werden von einem Ende der Welt zum anderen verschifft bzw. geschickt.
Konnte das gefährlich sein? Sie musste daran denken, was passieren würde, wenn eine Entwicklung, an der jeder produktive Mensch auf der Erde beiteiligt ist, aus dem Ruder laufen würde. Irgendwann würde auch der letzte Mitarbeiter entlassen sein, der noch wußte um was es ging. Leute sterben bei Autounfällen, treffen ihre große Liebe und ziehen in eine andere Stadt. Jeder trägt seinen Teil zum Gesamtsystem bei. Jedoch, hat dieses System dann noch einen Zweck? Kann es bald etwas geben, das von Milliarden von fleissigen Arbeitnehmern und Unternehmern geplant, entworfen, entwickelt, gebaut und gepflegt wird, und keiner weiss warum? Das System macht sich selbstständig. Es entwickelt ein Eigenleben. Es wird nicht mehr gesteuert. Es existiert um der Existenz willen. Es nutzt niemandem. Kann es dann noch bentutzt werden? Natürlich. Es wird benutzt, weil es da ist. Keine Aktion, nur noch Reaktion. Das Ende der Kausalität. Ihr Mund war trocken. Sie schaute auf ihr halb volles Glas Wasser und trank einen Schluck.