Ein geträumtes Leben
Er blätterte gedankenverloren in einem dicken Buch mit dünnen Seiten, die Schultern versteckt hinter einem unförmigen Hemd. Der ganze Körper schien vor Anspannung zu zittern. Hektisch wanderten seine Augen über die Sätze, als suche er nach einer Antwort. Es überraschte mich, dass solch wilde Energie in einem schlaffen Körper wie diesem überhaupt Zuflucht fand. Doch sobald er meine Anwesenheit bemerkt hatte und zu mir runtersah, ging die Energie verloren. Er beobachtete mich schweigend, sah fast durch mich hindurch. Dann sank sein Blick erneut in das vor ihm liegende Buch. Früher kam mir sein Arbeitszimmer riesig vor, wie eine Halle oder ein Museum, mit all dem Holz und den antiken Lampen, die überall herum standen und trotzdem kaum Licht abgaben.
Betrete ich es heute, kommt es mir eher vor wie eine etwas zu groß geratene Abstellkammer.
Ich stand inmitten dieses Zimmers, direkt vor seinem Schreibtisch, der mir bis zum Kinn ging und ich mich auf die Zehen stellte, um über die hohen Bücher hinweg schauen zu können. Ich hasste diese Bücher. „Papa?“ fragte ich oft, wenn mich der Mut dafür fand.“ Liest du mir heute eine Geschichte vor?“ Ohne aufzusehen blies er Luft in seine grauen Wangen, schüttelte müde den Kopf und bat mich, zu gehen. Er müsse arbeiten, vielleicht morgen. Ich drehte mich dann jedes Mal um wie ferngesteuert. Steif und ungeschickt. Umschloss mit meiner zittrigen Hand den glänzenden Türknauf, drehte daran und verließ als Verlierer den Platz. Meist stand schon meine Mutter, ein schweres Buch in beiden Händen haltend, im Flur und sah mich tröstend an.
Ich spürte früh, wie viel Mitleid in dieser Geste steckte. Und obgleich es mir unangenehm war, verzichtete ich nur selten darauf.
Im September 1928 kam mein Vater zur Welt und zerstörte damit das Leben meiner Mutter, noch bevor ihres wirklich begann. Er ist ein seltsamer Mann, sagte sie immer, aber lieber seltsam als einsam. Ich hatte das nie verstanden, schließlich war sie schön und voller Güte. Nur wenige Männer sahen meiner Mutter nicht nach, kam sie ihnen auf der Straße oder auf dem Markt entgegen. Einige pfiffen, die meisten glotzten nur. Aber darauf reagieren tat sie nie, vielleicht, weil sie nicht pfeifen konnte. Oder weil sie ihren Mann so liebte, dass sie blind wurde. Zeit seines Lebens wollte er ein Schriftsteller sein, ein bedeutender und großer Mann mit noch größeren Büchern. Dieser Wunsch brannte so stark in ihm, dass er vergaß, das es noch mehr gab außer seiner Geschichten. Saßen wir abends zusammen am Esstisch, schien es häufig, als wäre er woanders. Ein glasiger Blick ins Leere , die Augen einen Punkt fixierend, den es nicht gab.
Irgendwann sprachen wir ihn einfach nicht mehr an und ich glaube das war ihm ganz recht. Als ich älter wurde und das Zimmer meines Vaters nur noch in Ausnahmen betrat, sah ich ihn manchmal tagelang nicht, obwohl wir unter demselben Dach lebten. Bis heute habe ich nie ein Buch von ihm gelesen, nicht eine Zeile. So wie die meisten Menschen. Er hatte nie davon leben können, tat es aber trotzdem. Wie ein Genie ohne Talent schrieb er sich die Finger blutig, besessen von Worten, die niemand lesen wollte. Meine Mutter lernte ihn schon so kennen: kurz davor, einen Roman zu veröffentlichen, kurz davor, ein anerkennender Schriftsteller zu werden, es würde jeder Zeit soweit sein. Ganz bestimmt. Dieses Buch würde seinen Durchbruch bedeuten.
Während meine Mutter mich erzog, ernährte und sich um den Haushalt kümmerte, trank und schrieb mein Vater. Manchmal trank er auch nur und tat so, als würde er schreiben. Er widmete sein Leben dem Schreiben, besser gesagt einem Wunschtraum, der immer gleich weit entfernt blieb, ganz gleich wie viele Seiten er bereits gefühlt hatte. Ob meine Mutter daran glaubte, oder nur so tat, um ihn nicht zu verletzen, oder sie gerade aus diesem Grund daran glaubte, habe ich nie erfahren.
Ich freute mich darüber, wenn mein Vater trank. Dann hörte er plötzlich zu und sprach mit mir auf so eine ernste, wichtige Art, die mir imponierte. „Lenny“, sagte er dann immer und legte einen seiner muskellosen Arme um mich. „Das Leben ist unspektakulär, bis du einen Traum hast. Leben heißt träumen“.
Diesen Satz vergaß ich nie. Genauso wenig verstand ich ihn, denn der Traum meines Vaters war längst geplatzt und sein Leben war vieles, aber nicht spektakulär.
In meiner Familie wurde viel gestritten, nur über Geld nicht, denn wir hatten keins. Und da jeder Streit von meinem Vater ausging und meine Mutter sich nur dann beklagte, wenn es um mein Wohlergehen ging, kam dieses Thema nie zur Sprache. Als gäbe es einfach nicht mehr Geld, als könne das niemand ändern. Erst recht nicht mein Vater. Eine normale Arbeit würde ihn blockieren, gerade während des Schreibprozesses, wie er oft betonte. Außerdem ginge es uns doch gut, oder müssten wir etwa Hunger leiden? Das mussten wir zwar nie, aber satt wurden wir auch nicht.
Meine Mutter arbeitete immer. Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem ich sie auf der Couch habe liegen sehen, die Beine weit von sich gestreckt. Sie war immer in Bewegung, von Aufgabe zu Aufgabe, nie schlecht gelaunt. Als ich langsam begriff, das mein Vater nicht der Held war, sondern der Bösewicht, veränderte sich mein Leben.
Die Augen meiner Mutter waren schön und groß und ständig in Bewegung. Dauernd suchte sie etwas, immer wieder wühlte sie in Schubladen und Schränken, zerlegte dabei das halbe Haus und fand am Ende was sie suchte. Bis sie wieder auf die Suche ging. Sie war nicht zerstreut oder vergesslich, nur überfordert.
Zu Beginn schien es, als würde alles gut werden. Mein Vater schrieb und meine Mutter las, mein Vater sendete Manuskripte zu Verlagen, meine Mutter betete für ihn. Es fand sich schnell ein Verlag, der sich für seine Geschichten interessierte. Also nahm er sich einen Agenten, Jim oder John, handelte seinen Preis aus und begann, das Buch zu überarbeiten.
Damals kellnerte meine Mutter in einem Laden, in den mein Vater kam, um zu frühstücken.
„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ Freundlich sah sie zu dem Mann herunter, dessen Hände tief im Schoß vergraben lagen. „Entschuldigung, darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ Sie tippte ihm vorsichtig auf die Schulter und der Mann zuckte zusammen, als hätte er nicht erwartet hier jemanden anzutreffen.
Dann sah er hoch, lächelte freundlich und bestellte einen Kaffee.
Vorsichtig pustete er auf die heiße Oberfläche und trank einen Schluck, bevor er die Tasse wieder auf den Tisch stellte. Tagtäglich besuchte er das Café und schrieb auf, was ihm einfiel. Bis die junge Kellnerin irgendwann blieb, sich auf die andere Seite des Tischs setzte und fragte, was das für Notizen seien. Er nahm willkürlich einen Zettel vom Stapel, setzte seine Brille auf, schob sie nach vorn und begann zu lesen. Und so wie es schien, gefiel es ihr. Als der Tag kam und die Veröffentlichung bevorstand, waren die Erwartungen groß. Mein Vater selbst versprach sich von diesem Buch eine Wende seines Lebens, ein Neuanfang als neuer Mensch, als wichtiger Schriftsteller seiner Generation. Doch das Buch blieb nahezu ungehört. Es deckte knapp die Produktionskosten, die Tantiemen meines Vaters hielten keinen Monat. Ich glaube, dieses kurze Gefühl dafür zu bekommen, wie sein Leben hätte aussehen können, versorgt ihn bis heute mit Energie.