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Ein Geschenk
Lara trug zehn Franken bei sich. Linus hatte ein paar Münzen bekommen, damit auch er etwas in der Tasche hat.
„Irgendetwas Kleines“, hatte die Mutter gesagt. „Etwas, das man gerne in der Hand hat. Etwas zum Anschauen.“
Lara führte, denn sie wusste wohin. Für so was musste man zum Marché de Plainpalais. Auf halbem Weg erreichten sie das Reformationsdenkmal. Wie immer zog sich Linus das T-Shirt übers Gesicht, damit er die Begegnung mit den strengen Riesen, Augen wie Gespenster, leichter ertragen konnte. Nicht hinschauen im Vorbeigehen war unmöglich, wer wusste schon, was dann geschah. Durch den Stoff erschienen die Gestalten weicher. Die Geschwister bogen in den Park und Bäume schirmten Linus bald schon von den Bildnissen ab.
Ein paar Straßen hatten sie zu queren, dann trafen sie auf die breite Esplanade und den Flohmarkt, genau dort, wo neuerdings der Spielplatz stand.
„Also“, sagte Lara streng, „dafür haben wir keine Zeit.“ Linus machte einen schrumpligen Mund und nahm es hin.
Lara zog ihn mit sich, tiefer hinein zwischen die Tische und die Menschen, und hielt gleich schon ruckartig an. „Ein Grammophon!“, sagte sie. Ein Grammophon für den Uropa, das wär ja toll. Sie suchte den Preis. Zu teuer. Ein alter Plattenspieler wäre vielleicht möglich, dieser da, in einem Holzkoffer. Hundertsiebzig Franken. Ein Mikrophon mit Kabeln, die an einem komischen Apparat hingen, das sah aufregend aus. Wozu war das gut? Sie drehte an den Rollen.
„Finger weg.“
Lara zuckte zurück. Der Mann hinter dem Stand hatte den Zeigefinger scharf erhoben, aber er lächelte doch.
Der Uropa hatte ja schon einen Plattenspieler, er benutzte ihn nur nicht mehr. Schwerhörig war er zuallererst, sogar noch bevor das mit dem Arm gekommen war.
Es gab tatsächlich einen Plattenspieler für zehn Franken. Der war defekt.
„Das Grammophon wär so schön.“ Lara stellte sich vor, wie der Uropa das Ohr an den Trichter legte. Sie atmete noch einmal tief, dann ging sie mit Linus an der Hand weiter.
Bücher gab es viele. Lange Reihen. Kisten am Boden, Stöße auf den Tischen. Lara nahm eins in die Hand und noch eins. Der Uropa konnte sich nicht lange konzentrieren. Er las nur noch wenig, Bücher mochte er trotzdem. Ein Kunstbuch vielleicht, so etwas hatte der Uropa gern, eins mit vielen Bildern.
Kirchenfenster? Unsicher.
„Linus“, rief Lara. Sie drehte sich nach beiden Seiten, er war nicht da. Doch: In der Kreuzung zwischen den Tischreihen lag er auf dem Boden und wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Die Leute liefen ungerührt um ihn herum, als gehörte das so. Der Staub bepuderte die Jacke. Lara seufzte. Er war keine Hilfe.
Der Uropa konnte nicht lange lesen, aber er hatte gute Augen. Er hatte Linus gleich erkannt. Dabei hatte er ihn erst zum dritten Mal gesehen, und das erste Mal zählte sogar nicht, denn da war Linus noch ein Baby und sah ganz anders aus.
„Linus“, hat der Uropa gesagt, hat mit dem Finger auf ihn gezeigt. „Steht da wie Graf Rotz zu Popelsberg.“ Dann hat er gelacht mit seinen langen Zähnen. Der Uropa hat Linus zugezwinkert, hat den Arm ausgestreckt, und Linus kletterte auf seinen Schoss. Er teilte mit ihm ein Wurstbrot. Das ging so: Linus bekam die Wurst, der Uropa aß das Brot.
„Ich hab ihn nicht warten lassen wollen mit dem Nachtessen“, sagte Lisbeth.
„Sicher“, sagte der Vater.
„Völlig in Ordnung“, sagte die Mutter. Sie beugte sich ein wenig vor und nickte dabei.
„Den Salat lässt du dem Uropa“, sagte Lisbeth, „der kann das brauchen.“
Der Uropa kaute. „Hat er seine Mutter eigentlich noch kennengelernt?“ fragte er laut, indem er mit dem Messerende auf von oben her auf den Kopf des Jungen deutete.
„Rupert!“, sagte Lisbeth erschrocken.
Der Uropa guckte fragend.
Lisbeth stellte sich ihm gegenüber an den Tisch, griff die Stuhllehne mit beiden Händen, stand sehr aufrecht und schaute den Uropa genau an. Lisbeth hatte ein rundes rotes Gesicht. Sie hatte rote Haare, aber die waren nicht echt.
Der Uropa hob den Kopf zu ihr hin und guckte fragend.
Linus stahl eine Gurkenscheibe.
Lisbeth sah viel weniger alt aus als der Uropa. Ihr Gesicht war rund und gepolstert, Falten hatte sie kaum, nur die ganz tiefen, die jeder hat.
„Da steht sie doch“, flüsterte Lisbeth laut und deutete auf die Mutter. Sie stand neben der Tür im Rücken vom Uropa.
„Er meint die Oma“, sagte der Vater.
„Aber das macht doch nichts“, sagte die Mutter. Sie beugte sich vor und wiegelte ab mit wedelnden Armen. Der Vater legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie vorwärts. Die Mutter ging ein paar Schritte und stellte sich so auf, dass der Uropa sie richtig sehen konnte.
„Ich habe mich versprochen“, sagte der Uropa.
Lisbeth hob den schweren Stuhl und setzte sich gegenüber an den Tisch. Sie stützte das Kinn in die Hände und schaute den Uropa an. Dann langte sie quer darüber und nahm seine bewegliche Hand in ihre. „Also weißt du. Manchmal machst du mir Angst.“
Wirklich, fand Lara, man kann sich ja mal versprechen.
„Ich habe mich versprochen“, sagte der Uropa.
Die Augen waren in Ordnung. Nur, was für ein Kunstbuch der Uropa gerne haben würde, das konnte Lara schwer entscheiden. Sie schlug einen anderen Band auf, blätterte, sah verkleidete Menschen in düsterem Bunt, klappte ihn wieder zu. Sie hatte sich das leichter vorgestellt.
Da: Historischer Atlas der Schweiz. Das tönte würdig. Sie schaute hinein. 1852. So alt. Landkarten waren ja doch so etwas ähnliches wie Bilder. Zwölf Franken. Zusammen mit Linus’ Münzen musste das möglich sein. Dass man ein so altes Buch so billig bekommen konnte!
Wo war der jetzt? Sie schaute sich um. Linus? Er lag nicht mehr drüben auf dem Boden. Lara legte das Buch wieder ab, erst musste sie suchen gehen.
Sie fand ihn nicht weit weg in der nächsten Gasse. In seiner Hand baumelte eine Puppe, ein Clown mit einem Strohhut. Lara stockte der Atem. Das durfte der nicht! Sie sprang los, nahm Linus den Clown aus der Hand, tadelte ihn knapp aber entschieden, und ließ sich zeigen, wo er das Teil hergenommen hatte.
Möglicherweise, fand sie, war der Atlas zu kompliziert.
Vielleicht eine Teekanne. Eine Chinesische Vase. Eine Uhr, die in ein Schiffssteuerrad eingelassen war.
Ein Bild. Das wäre eine Möglichkeit. Aber kein echtes: Ein Druck. Der Uropa hatte ja Drucke an der Wand hängen, das wusste sie. Echte Bilder konnte man für zwölf, dreizehn Franken nicht kaufen.
Schade, denn da war ein Esel mit einem Karren, ein Mann lud Heu auf, Palmen standen dort und weiße Häuser, und die Sonne schien. Wie das wäre, so ein Bild zu kaufen, ein echtes. Die trockene Farbe stand in dicken Wülsten auf dem Bild. Lara fühlte nur ganz schnell mit dem Finger und zog ihn wieder zurück. Das war gar nicht genau gemalt, aber man erkannte alles. Ein richtiges Bild. Der Uropa würde staunen. Das Bild kostete vierhundertfünfzig Franken.
Hatte es hier am Stand auch Drucke? Lara schaute sich um. Metallfigürchen hatte es, Porzellanteller, Porzellanfiguren, Porzellanelefanten, Kaffeemühlen.
Die Kaffeemühlen sahen schön aus, kunstvoll. Der Uropa könnte sie nicht drehen mit nur einem beweglichen Arm.
„Bestimmt keinen Sessel“, sagte Linus.
An die Sessel angelehnt standen auf dem Boden leere Bilderrahmen.
Lara fand, es war Zeit, zu dem alten Atlas zurückzugehen.
Aber wo steckte jetzt schon wieder Linus?
Hinter ihr: Er zupfte an ihrem Ärmel. Er zog. „Ich glaub, das ist schön, wahrscheinlich“, sagte er.
Linus hatte ein Bild entdeckt. Ein Foto. Da lagen auf einem Teppich am Boden kleinere Rahmen. Die meisten waren leer. Dieser nicht, da drin war das Bild von einem Dackel. Das Gesicht von einem Dackel. Ja, das sah kunstvoll aus. Wie das weiße Fell im blauen Hintergrund verschwamm! Das Fell wurde zu Wolken. War das wirklich ein Foto? Lara sah ganz genau hin. Nicht zu glauben. Wie konnte man so fotografieren? Als wär der Hund im Himmel. Es war ein schönes Bild.
Sie überlegte. „Der Uropa mag ja Hunde“, sagte sie.
Ein Foto oder ein Druck, das machte vielleicht nicht so einen Unterschied. Das Papier war oben etwas wellig. Bestimmt war das Bild alt.
„Gut“, entschied Lara, „das nehmen wir.“ Der Verkäufer fragte, ob er schon mal das Foto aus dem Rahmen nehmen sollte. „Nein“, sagte Lara. Sie fragte nicht, wie er das meinte. Linus streckte seine Münzen hin. Lara musste die zehn Franken nicht einmal anbrechen.
Sie war jetzt großmütig und mied auf dem Rückweg das Reformationsdenkmal. Kürzer war der Weg im Zweifel allemal.
Der Vater deckte den Tisch. Blumen standen schon dort. Die Mutter richtete den Servierwagen als Gabentisch an.
„Ah“, sagte der Uropa, hielt kurz auf der Schwelle zum Zimmer, streckte den Rücken und stampfte mit dem Gehstock auf den Teppich, „endlich wieder Tee.“ Dann nahm er Platz.
Die Gäste sangen vierköpfig.
Der Vater faltete einen Zettel auseinander, sprach ein paar Sätze, machte dabei mal ein bedeutungsvolles, mal ein albernes Gesicht und schüttelte anschließend dem Uropa die Hand.
„Danke“, sagte der Uropa.
Lisbeth stellte die Kanne auf den Rechaud.
Der Uropa zog sie am Ärmel, zog sie nah zu sich heran. „Was hat er gesagt?“, fragte er.
Aus den aufgestapelten Geschenken griff sich der Uropa das kleinste, das schmale, fixierte es auf der Tischplatte mit dem Gewicht des gelähmten Arms und riss mit der Hand des andern das Papier auf. Es erschien der Dackel.
„Ja was soll er denn jetzt damit“, rief Lisbeth. Sie klatschte in die Hände. Es gab einen flachen Ton.
„Oh“, sagte die Mutter. Sie stand auf den Zehenspitzen und beugte sich vor. „Es ist ja doch ganz hübsch.“
Lara dachte an den Atlas. Ihre Schuld war es nicht! Vorsorglich sah sie Linus von der Seite strafend an.
„Ach was“, sagte der Vater, „wir suchen ein Foto von den Kindern aus, dann kann er immer an sie denken.“
Der Uropa hielt mit ausgestrecktem Arm das Bild vor sich hin. „Ha!“, sagte er, „Gainsborough!“ Bekräftigend nickte er. Er reichte Lisbeth das Bild und wies sie zur gegenüberliegenden Wand. Dort sollte es hängen. Triumphierend schlug er mit der Hand auf die Sessellehne. „Gainsborough,“ sagte er.
Lara packte Linus am Arm. Nicht zu glauben! Wieso kannte der Uropa jetzt den Hund?
„Hol mal was und wisch den Preis ab“, flüsterte die Mutter dem Vater zu.
Lisbeth schob das Bild über die Wand.
„Ja!“, sagte der Uropa. „So!“ Er saß zurückgelehnt in seinem Sessel und betrachtete den Dackel. Er zeigte mit dem Finger. „Gainsborough“, bestimmte er. „Er ist mir im Gedächtnis.“
Lisbeth stellte das Bild auf der Kommode ab. Da grinste nun der Hundekopf, zeigte seine Zunge, unter den Lithographien von Kollwitz, von Orlik, von Liebermann; unter der winzigen Tuschezeichung von Poussin. Der Metallrahmen spiegelte sich im Lack.
Der Vater kam mit einem Lappen.
Der Uropa zwinkerte Linus zu. Der Junge wuchs deutlich vor Stolz.
„Die arme Lisbeth“, flüsterte die Mutter.
Der Vater drückte den Rahmen gegen die Wand und wischte die Zahl vom Glas. Als erstes wird die Tapete einen neuen Anstrich brauchen, dachte er.
Der Uropa zwinkerte Linus zu.