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Ein Geruch nach Mandeln
Auf dem Marktplatz verbrannten sie den Winter. Funken stoben in den Himmel, die mannshohe Strohpuppe wand sich in den Flammen. Eine Frau rempelte mich an und johlte: „Da brennt er. Endlich! Der Winter muss brennen.“ Ich blickte in ihr gerötetes Gesicht und sagte: „Ich steh nicht auf Hinrichtungen.“
Ich war dem Strom aus Festbesuchern gefolgt, hatte mich mitziehen lassen bis zum Marktplatz. Um mich herum drängten sich als Frühlingsblumen verkleidete Menschen und applaudierten. Von irgendwoher wirbelte ein Kranz mit bräunlichen Blüten in die Luft. Ich sah ihm hinterher, wie er einen Bogen beschrieb, wie er vor dem Himmel stand, für einen Moment im Blau gefroren, bis er wieder nach unten segelte. Und als habe der Kranz sie geboren, stand dort, wo er niederging, Marina. Schlank, aufrecht, lachend. Gar nicht weit von mir. Ein jäher Geruch nach gebrannten Mandeln stach mir in die Nase. Der Mann neben ihr reichte ihr eine Tüte Pommes Frites, sie griff hinein und stopfte sich mehrere auf einmal in den Mund. Die Gesichter der Menschen um mich herum verschwammen, nur Marinas Gesicht blieb klar, der kauende Mund, die Finger vor ihren Lippen. Als hätte ich sie mit meinem Blick gebannt, sah sie auf, schrak zusammen und hob die Hand. Erkannte sie mich? Grüßte sie mich etwa? Ich deutete auf meine Brust, nein, jemand anders war gemeint, ein Mann in der Reihe vor mir. Marinas Begleiter griff nach ihrer Hand, sie lächelte, beide drehten sich um und gingen davon, hin und wieder blickte sie zurück, als wollte sie, dass man ihr folgte.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menschenmenge, wich einer Gruppe von Kindern in Osterglockenkostümen aus, zwängte mich an überdimensionalen Schmetterlingen vorbei, verlor Marina aus den Augen, drängte weiter, ignorierte die wütenden Rufe der Menschen, die ich zur Seite schob, und endlich, dort, wo Markt und Schmelzerstraße sich kreuzten, lief sie. Keine zehn Meter vor mir, ihre Hüften tickten im Takt ihrer Schritte von einer Seite auf die andere. Irgendwann hielt sie an. Wieder schob sie ein paar Pommes in den Mund und sah zu dem Mann hoch. So klein war sie, ich hatte vergessen, wie klein sie war. Er fragte sie etwas, sie antwortete, er wischte einen roten Klecks aus ihrem Mundwinkel. Zärtlich sah das aus.
Einträchtig liefen sie weiter.
Ich betrachtete ihren Nacken, den Kopf, den schmalen Rücken, und stellte mir vor, wie sich aus der Fassade des Hauses, an dem sie gerade vorbeilief, ein Stein löste, ein zweiter, dritter, immer mehr, eine herabstürzende Lawine aus Mauerbrocken, bis die Wand endgültig brach und Marina unter sich begrub.
Eine andere Zeit, ein anderes Leben. Wie lange war das her?
Ich stand hinter der Theke meines Wagens, rührte in der Karamellmasse, fügte Mandeln hinzu, rührte weiter. Die Hitze unter dem Kupferkessel trieb mir den Schweiß auf die Stirn. „Eine Tüte? Oder auch zwei? Bitte sehr!“ Die Leute drängten sich um den Stand, sie liebten den MandelMeik, den Kessel, die Handschuhe mit den aufgedruckten Elchen, den Duft nach Vanille, Butter und Mandeln. Vor dem Stand wartete eine Schlange, manche kamen von weither, nur um meine Mandeln zu kaufen. Mit einem Male stand sie da. Marina. Sie strahlte mich an, als meinte sie mich und nur mich. Damals kannte ich ihren Namen noch nicht, damals war sie für mich nur die Mandelfrau. „Dich kenne ich doch“, sagte ich. Sie lachte. Ich rührte in den Mandeln, der Holzlöffel tanzte, die Tüten befüllten sich wie von allein. Es war dieses Lachen, das sich um nichts scherte. Marina lachte, weil sie es so wollte. Ich strich über meine Schürze, zog den Bauch ein, legte die Handschuhe weg, wischte meine Hände an einem Handtuch ab und zupfte an meinem Bart. „Neulich in Grombach hast du auch schon bei mir Mandeln gekauft. Stehst du vielleicht auf mich?“
Die Leute ringsum kicherten. Marina beugte sich vor, ließ mich einen Blick in ihren Ausschnitt werfen, blickte mich von unten her frech an und sagte: „Ahhh, erwischt. Schreib mir doch eine Liste mit den nächsten Einsatzorten. Ich liebe deine … Mandeln.“
Wieder kicherten die Leute, einige klatschten, sie mochten diesen kleinen Flirt. Genauso wie ich. Ich reichte Marina die Tüte. „Du kriegst alles, was du willst. Die Tüte geht aufs Haus. Bis später.“ Sie nickte und zwinkerte mir zu.
Später am Abend suchte ich sie. In der Hand knitterte einer meiner Flyer, die Mobilnummer darauf hatte ich mit der Hand geschrieben. Groß und gut lesbar. Was wollten solche Frauen beim ersten Date? Kino? Oder Picknick? Oder lieber doch Pizza? Sie hatte mir so nett zugelacht.
Im Bierzelt war sie nicht, auch nicht bei den Leuten, die aus dem Theaterzelt kamen. Irgendwann sah ich sie vor dem Wirtshaus, ich winkte ihr zu, sie bemerkte mich nicht und ging hinein in die „Goldene Feder“.
Drinnen war es leer. Mitten im Gastraum stand ein junger Mann und wischte die Tische. Vor ihm meine Mandelfrau. Sie konnte mich nicht bemerkt haben, so wie sie ihn anstarrte. „Na, ein Bier?“, fragte er und ging zum Tresen. Während er zapfte, schob er die Ärmel seines Hemdes zurück, Marina verfolgte seine Bewegungen mit den Augen, dann trat sie zu ihm. Ganz dicht. Er blickte auf.
Ich schlich hinaus. Durch das Fenster drang warmes Licht, auf dem Glas befand sich eine Schliere wie der Fingerabdruck eines Riesen. Ich wandte mich ab.
Elf Uhr war es. Ich musste Elli abholen, meine Tochter. In Gedanken hörte ich sie sagen: „Komm, probier es, Mama ist schon so lange tot. Du wirst nicht jünger. Außerdem trinkst du zuviel, wenn du allein bist.“ Ellis Litanei. Ich lächelte und schüttelte meine Unruhe ab. Elli, mein Augenstern. Sie würde sich für mich freuen, wenn ich mal wieder einen Flirt probierte. Noch einen Moment konnte ich mir geben, was hatte das schon zu bedeuten, dass die Mandelfrau im Wirtshaus war. Bestimmt nichts. Eine Viertelstunde verging. Die Ziffern der Uhr leuchteten grün zu mir hoch. Elli würde nicht böse sein, wenn ich ein paar Minuten später kam. Hin und wieder liefen Festbesucher vorbei, sonst war es still. Sollte ich gehen? Meine Gedanken drehten sich, der Junge im Gastraum, der Flyer in meiner Hand, die Armbanduhr, eine Nachricht an Elli, das Display leuchtete hell, doch ich brach ab, denn ich sah, wie sie aus dem Gasthaus schlich. Meine Mandelfrau. Sie war zerzaust, die Lippen aufgeworfen, zu rot im Licht des Fensters, verschwollen, als hätte sie zu lange geküsst. Die Bewegungen langsam und satt. Eine dralle, frisch gefickte Katze. Als sie mich sah, verzog sie das Gesicht. Mit einer wegwerfenden Geste stieg sie in ein Auto.
Immer noch strömten mir Besucher entgegen, die zum Marktplatz wollten. Marina und ihr Begleiter gingen schnell, sie schlängelten sich durch das Menschengewühl. Obwohl sie nebeneinander und Hand in Hand liefen. Einmal stolperte ich über ein Bein, stürzte und fiel auf das Knie. Der Schmerz stach, mir wurde übel, ein Mann half mir hoch, fragte mich etwas, doch ich winkte ab und hinkte weiter. Das Paar stand vor einem großen Fachwerkhaus. Ein Restaurant. Eine junge Frau lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Eine sehr junge Frau, vielleicht achtzehn, ungefähr so alt wie … Ich stockte, für einen Moment hatte ich das Gefühl zu ersticken, mir wurde schwindlig. Eine Tochter. Marina hatte eine Tochter. Und ein Geruch von Mandeln in der Luft. Mittlerweile war es düster geworden, die untergehende Sonne tauchte den Himmel in dunkles Rot. Als hätte er Nasenbluten, dachte ich. Lichter flammten auf.
„Ob die schon Spargel haben? Ach ich freu mich, ist so ein schöner Tag.“ Die Stimme der jüngeren Frau war weich. So klang eine Stimme, die noch alles vor sich hatte. Das gekräuselte Haar, der Gesichtsschnitt, die kleine, spitze Nase. Unter dem hellen Kleid mit den blauen Punkten zeichneten sich die Konturen ihres Körpers ab.
Vor dem Haus, das Elli mir genannt hatte, stand niemand mehr. Ich klingelte, eine Frau schaute aus dem Fenster und rief: „Bist du Ellis Vater?“
„Ja.“
„Sie ist schon weg.“
„Wie lange?“ Angestrengt starrte ich zu ihr hoch, schirmte meine Augen gegen die Helligkeit der Hausbeleuchtung ab.
„Vor einer Viertelstunde vielleicht?“
Ich stieg in mein Auto, rief Elli auf dem Handy an. Abgeschaltet. Ich hinterließ eine Nachricht und fuhr los. Welchen Weg hatte sie genommen? Ich bog in die Hermannstraße ein, das war länger, aber ruhig und voller Grüngestrüpp, wie Elli es liebte. Das sind Forsythien, sagte sie. Langsam fuhr ich den Weg ab, hielt an, beobachtete den Bürgersteig, spähte in die Nebenstraßen, hielt an, spähte, immer wieder. Elli war nirgendwo.
Die Luft in der Wohnung roch abgestanden. Auf ihrem Bett lag der alte Stoffhase, den ich ihr zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt hatte. Alter Gauner hatte Elli ihn getauft. Als ich sie fragte, warum sie einen Stoffhasen so nannte, antwortete sie, du sagst doch auch immer alter Gauner zu mir. Und dabei kiekste ihre Stimme in dem kindlich-kehligen Tonfall, dem ich nichts abschlagen konnte. Ich hob den Hasen hoch, ein Ohr war angenäht, das Fell verschlissen. Er hatte viel erlebt mit uns, der alte Gauner.
Ich zündete mir eine Marlboro an, griff zum Handy, rief Elli an.
Später fuhr ich erneut den Weg ab, zweimal, dreimal, immer wieder.
Zuhause füllte ich ein großes Glas mit Wodka, stürzte es in einem Zug runter. Ihr Handy blieb abgeschaltet. Ich hinterließ eine Nachricht nach der anderen, rief ihre Freunde an. Ist Elli bei dir? Weißt du, wo Elli ist? Elli, Elli, Elli?
Elli war noch nie von zu Hause weggeblieben, ohne Bescheid zu sagen, sie war so zuverlässig, sie war mein Augenstern.
Ich erwachte vom Schrillen des Telefons. Das Licht war an, ich lag mit dem Kopf auf dem Tisch, die Hand in einer Schnapspfütze. Speichel war mir aus dem Mund gelaufen, ich rieb die Kruste mit dem Finger ab, fuhr mir über die Augen. Das Klingeln. Elli! Ich torkelte los, stolperte über eine Flasche, prallte gegen die Kommode. Im Fallen wischte ich eine Vase herunter, die Fotos, die Tischuhr mit der dämlich guckenden Elchfigur, alles krachte zu Boden, der Elch rollte in eine Ecke, ein Stück des Geweihs brach, das Gehäuse der Uhr zerbarst. Nur das Display blieb heil, fünf Uhr war es. Endlich, mit zitternder Hand nahm ich das Telefon ab. „Elli?“ Ich keuchte.
„Herr Meik? Endlich erreichen wir Sie. Ihre Tochter, wir müssen Ihnen sagen, dass … leider … Herr Meik? Herr Meik? Herr Meik?“
Es gab keinen Herrn Meik mehr, keinen MandelMeik, keinen Mann, der Liebe suchte, keinen Vater. Er war fort. Genauso wie Elli.
Sie war im Dunkeln eine andere Straße als sonst entlanggelaufen, ein Auto hatte sie erfasst.
An diesem Tag war es das erste Mal, dass ich die Mandeln roch, obwohl ich gar nicht am Stand arbeitete. Der Geruch war würzig, voller Röststoffe, vanillig und buttrig, aber er legte sich auf die Brust und wenn man Luft holte, biss es.
Ich roch sie auf der Straße, in der leeren Wohnung, auf dem Weg zum Arzt oder zur Polizei, ich roch sie, wenn ich Marina ausspähte wie ein krankes Wild, das den Wald verseuchte, ich roch Mandeln, wenn ich ihre Freunde suchte, das Auto, in das sie eingestiegen war.
Irgendwann ließ ich es. Der Mandelgeruch wurde schwächer. Ich verkaufte den Stand, zog weg, flirtete nie wieder mit einer Frau. Jeden Morgen um fünf Uhr klingelte mein Wecker.
In der Therapie sagten sie mir, keiner habe Schuld. Ich sagte: „Oder alle.“
Die andere Straßenseite mit ihren Umrissen aus Schornsteinen, Antennen, Mauervorsprüngen und Lichtern hätte einem Ozeanriesen gehören können. Hoch und abweisend. Vor mir auf dem Boden Marlborokippen, eine neben der anderen aufgereiht. Zwanzig Stück. Als die drei aus dem Restaurant traten, wischte ich hastig mit der Fußspitze über die Reihe, ging langsam zu einem parkenden Auto, tat, als wollte ich einsteigen.
Vor der Tür des Restaurants umarmten sie sich. Marina sah abgespannt aus, müde. Um ihre Augen, ihren Mund waren Falten eingegraben, ich hatte sie vorher nur nicht bemerkt. Das Leben war wohl nicht immer gut mit ihr umgegangen. Unruhig zuckten ihre Augen hin und her, als ahnten sie meine Anwesenheit. Als Marina und der Mann gingen, starrte ich ihnen nach, zögerte, schluckte, zögerte immer noch, bis ihre Umrisse vor meinen Augen verschwammen.
Die junge Frau ging schnell. Ich musste laufen, um sie einzuholen. Ihr zierlicher Rücken tanzte vor meinen Augen, verlor die Konturen, verwandelte sich in den meiner Tochter und zurück. Was würde Marina sagen, wenn sie ihre Tochter nie wiedersah? Wie würde es ihr damit gehen? Ich spuckte auf den Boden. Ja, so war das mit dem Leben, dachte ich, es versetzt dir einen Schlag und alles ist anders. Du kommst nie wieder hoch. Du brennst. Dein Leben lang.
An der nächsten Straßenecke blieb sie stehen, zog eine Packung Zigaretten heraus. Ich wartete ein paar Meter entfernt, tat, als wollte ich die Klingelschilder eines Hauses lesen. Es war dunkel hier, nur eine einsame Straßenlaterne, in deren Lichtschein die ersten Mücken tanzten. Sie zündete sich eine Zigarette an, der Schein des Streichholzes tauchte ihre Augen für einen Moment in dunkle Schatten, ein zu Lebzeiten skelettierter Kopf. Zischend sog ich den Atem ein. Sie blickte auf, sah suchend in meine Richtung, wandte sich ab und lief weiter. Aus ihrem lässigen Gang wurden schnelle, unruhige Schritte. Manchmal hielt sie an, warf den Kopf nach hinten, ich stoppte und stellte mir vor, wie sie auf meine Geräusche lauschte. Dann rannte sie los. Unter einer Brücke holte ich sie ein. „Rennen Sie doch nicht, ich möchte Sie sprechen. Sie sind doch Marinas Tochter? Oder?“
Sie blieb stehen, schwankend, als ob ihr Körper die Flucht fortsetzen wollte. Sie wandte sich zu mir um. „Ja?“ Ihr Mund war verzogen, als würde sie weinen.
„Bitte, ich wollte Sie nicht erschrecken, Ihre Mutter … “
Im Geiste sah ich Marinas Gesicht vor mir. Wie es errötete und verblasste, wie die Augen sich zusammenzogen und starben, wenn sie begriff, es gab keine Tochter mehr, kein Kind. Es gab nichts Schlimmeres als das. Nein, nichts Schlimmeres. Ein Kreis schloss sich. Marina wiederzusehen, ihre Tochter, der Mandelgeruch. Mir war übel. Was wollte ich hier, was dachte ich da, meine Gedanken wirbelten, alles erträgt sich leichter, wenn du nicht allein bist in deinem Schmerz, was wollte ich hier, es wird leichter, wenn du den Schmerz teilst, ja, wenn du ihn teilst, teil ihn, teil ihn mit jemandem, teil ihn mit der, die so schuldig ist wie du. Was tu ich, was tu ich nur. Alles schmerzte, ich hielt mir den Kopf und den Bauch, krümmte mich. „Ich will Sie nach Hause bringen, Ihre Mutter, sie ist, nicht gut … nein, nicht gut.“
„Was hat Sie denn, ich habe sie doch eben noch … Wer sind sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.“
„Ein Freund, nur ein alter Freund.“ Mein Magen brannte, schmerzte so unendlich, wand sich wie die Strohpuppe in den Flammen, was tue ich, was tu ich nur.
„Welcher Freund bitte?“ Ihre Stimme klang kühl, geschäftsmäßig. Sie nahm ihr Handy heraus.
Ich schlug es ihr aus der Hand.
Mit einem Satz wich sie zurück, öffnete ihre Handtasche. Ich packte sie am Arm, riss ihr die Tasche aus der Hand und schüttete den Inhalt auf den Boden. Eine Spraydose kollerte auf die Straße. Tränengas. Ich lachte. Das passte, Marinas Tochter wollte mir die Augen ausglühen. Ein Stoß vor die Brust, ich stürzte, sie rannte los, ich rappelte mich auf, setzte ihr nach, warf mich von hinten auf sie, unsere Körper krachten auf die Straße. Sie wand sich. Ich drückte sie zu Boden, mit aller Kraft, presste ihren Kopf in den Dreck, sie sollte ruhig sein, verdammt, sie sollte einfach ruhig sein, wieso wollte sie mir nicht zuhören, umklammerte weiter ihren Kopf, quetschte ihn in den Dreck, als müsste ich eine Ratte bändigen. Endlich wurde sie ruhig. Ich drehte sie zu mir um, damit sie mich ansah. Ihre Augen waren geweitet. Aus einem Mundwinkel tropfte Blut, die Haut ihrer Wangen war abgeschürft. Ich legte meine Hand um ihren Hals. Sie war still jetzt, ganz still, nur da, unter meinem Finger, wo er fast ihr Ohr berührte, pochte eine Ader. Vorsichtig fuhr ich darüber, tupfte darauf, als wollte ich Zuckerkörnchen aufstippen. Ihre Augen starrten mich an. Ganz dunkel und voller Angst wie die eines kleinen Mädchens. In dem fahlen Licht sah die Ader aus wie eine winzige Nuss. Oder wie eine Mandel.
Von weither wehte Musik herüber, hatte ich das Lied früher schon einmal gehört? Wie hieß es? Ich wusste es nicht mehr. Vom Himmel sah man nur einen winzigen Ausschnitt, nach oben hin schnitt die Brücke ihn ab, doch genau in diesem Brückenbogen hing der Mond. Hing da wie eine riesige gelbliche Tablette, von der ein Stück abgebrochen war, schief, matt, beschädigt. Noch einmal strich ich über die Ader, ganz vorsichtig. Dann erhob ich mich und ging davon.