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Ein Geist, zwei Körper, sechs Augen
Ich bin drei Personen.
Ein junger, dünner Knappe ohne besondere Fähigkeiten, schwach und zerbrechlich.
Ein schwarzer Ritter, groß und mächtig, nahezu unbesiegbar im Kampf.
Ein alter Greis, ein Beobachter ohne Vergangenheit, der in einem Baum hockt.
Ich sehe, was alle drei sehen.
Ich kann mich an die Vergangenheit des Knappen und des Ritters erinnern. Ich kenne die zahllosen Schlachten, die der Schwarze Ritter bereits geschlagen hat. Ich spüre seine schwere, schwarze Rüstung auf meiner Haut, die unbändige Kraft seines Körpers und das Gewicht seines gewaltigen Breitschwertes auf dem Rücken.
Ich erinnere mich an die frühe Kindheit des Knappen und an seine Ausbildung. Ich spüre seine Schwäche, seine Furcht, die schnellen wackeligen Schritte, die er macht, wenn er neben dem schwarzen Ritter herläuft.
Der schwarze Ritter reitet auf einem edlen, starken Ross. Der Knappe läuft nebenher.
Es ist Nacht und sie durchqueren einen Apfelhain. In geraden Linien stehen hier junge Apfelbäume und ab und an ein Gestrüpp. Der Pfad auf dem sich die beiden bewegen läuft in sanften kurven einen kleinen Abhang hinauf. Die Umgebung ist in ein silbrig glänzendes Mondlicht getaucht. Plötzlich nähern sich aus der Ferne schwarze Gestalten auf wolfsähnlichen, wilden Bestien. Es müssen so um die zwölf Reiter sein. Der dunkle Ritter zieht sein Schwert und der Knappe läuft los. Die beiden müssen sich nicht unterhalten, denn was der eine weiß, dass weiß auch der andere.
Der Knappe verlässt den Pfad und rennt ein Stück in den Apfelhain hinein, bis zu einer Stelle, die er schon den ganzen Tag in seinem Kopf sieht.
Dort steht ein alter Baum, nicht besonders hoch, aber mit einem sehr dicken Stamm, dessen Rinde stark zerfurcht und mit dickem Moos bewachsen ist. Neben dem Baum steht ein großer Kasten aus schwarzem Metall. Sie ist etwa zehn Fuß lang, sechs Fuß breit und sechs Fuß hoch, mit einem schweren Deckel, der sich senkrecht gegen den klaren Nachthimmel abzeichnet.
Gleichzeitig steigt der Ritter von seinem Pferd und macht sich zum Kampf bereit. Er kennt diese Feinde, denn sie sind ihm schon in vielen Schlachten begegnet und ein Dutzend von ihnen ist nicht annähernd genug, um ihn zu besiegen. Dieser Umstand müsste auch den Reitern klar sein, weshalb er sich wundert, warum sie ihr leben einfach so wegwerfen wollen. Kurz bevor sie ihn erreichen, weiß er warum.
Die Angreifer schwenken ein und verlassen den Pfad. Sie reiten mit voller Geschwindigkeit in Richtung des Knappen, denn auf ihn haben sie es abgesehen. Dieser weiß, im gleichen Augenblick wie der Ritter, was vor sich geht.
Es ist eine Falle.
Der Knappe sieht, was der Ritter sieht. Die schwarzen Gestalten reiten mit ihren wilden Kreaturen auf ihn zu. Er sieht, was er selbst sieht und er sieht sich selbst von oben, was ihn wundert. Er blickt in die Richtung aus der er sich selbst sieht und entdeckt in dem Baum einen alten Mann, der dort oben hockt und ihn beobachtet. Der alte Mann blickt zu dem schwarzen Kasten. Binnen Sekunden entsteht ein Plan. Der schwarze Ritter weiß, dass die Feinde den Knappen zuerst erreichen werden. Der Knappe rennt zu dem Kasten und zieht sich an der Seitenwand hoch. Er hechtet hinein und bemerkt, dass sie halb gefüllt ist, mit den zerfetzten, verwesenden Körpern von Menschen und Bestien. Er zieht sein Messer, um sich verteidigen und damit Zeit verschaffen zu können.
Schwarzes Blut umfließt seine Beine und sickert in seine Stiefel. Der Gestank ist unerträglich. Die schwarzen Gestalten erreichen den Baum mit dem Kasten daneben. Einer von ihnen schlägt mit seiner Keule gegen den schweren Deckel, so dass dieser laut scheppernd zuschlägt. Der Knappe ist gefangen in einer Welt aus Dunkelheit und Gestank. Allerdings sieht er noch, was der Ritter sieht und sieht, was der alte Mann sieht. In unmittelbarer Nähe verstecken sich noch etliche weitere Feinde. Endlich erreicht der schwarze Ritter auch die Lichtung. Er kann nicht sehen, was der Greis sieht, doch weiß, was der Knappe weiß.
Aus allen Himmelsrichtungen stürmen die Feinde heran. Der Knappe stützt sich mit aller Kraft gegen den Deckel, doch einer der Feinde steht auf ihm drauf. Der schwarze Ritter schneidet ihn mit seinem gewaltigen Schwert in zwei Hälften, kann diesen aber nicht von dem Deckel hinunterziehen, da er von hinten angegriffen wird. Ein Schwert bohrt sich in seine Schulter. Der Knappe schreit vor Schmerz aus dem inneren des Kasten, denn er spürt, was der Ritter spürt. Nun wird der schwarze Ritter rasend. Mit schnellen Drehungen bewegt er sich im Kreis. Sein schweres Schwert zerfetzt alles was sich ihm in den Weg stellt. Mit einer Drehung seines Körpers zerfetzt er ein halbes dutzend seiner Feinde, doch es kommen immer mehr. Gleichzeitig beginnt sich der Kasten auf wundersame Weise mit den zerfetzten Körpern und Innereien der niedergestreckten Feinde zu füllen. Der Knappe bekommt Panik und hämmert mit aller Kraft gegen den Deckel. Er schreit und stemmt sich dagegen, doch dieser rührt sich nicht.
Dem Ritter wird klar das er nicht mehr viele Feinde töten kann, ohne das der Knappe in Blut und Gedärmen ertrinkt. Der Kasten hat sich inzwischen fast bis ganz oben gefüllt. Der Ritter schleudert sein Schwert einer neuen Welle von Angreifern entgegen und wendet sich der Kiste zu. Er zieht den zerteilten Körper von dem Deckel und reißt ihn mit einem Ruck auf. Der Knappe zieht sich nach oben. Halb erstickt vom pampigen Blut und betäubt vor Angst, blickt er über die Schulter des Ritters in Richtung der Feinde. Der Ritter sieht gerade noch rechtzeitig, wie ein schwarzer Pfeil kurz davor ist sich durch seinen Hinterkopf zu bohren. Er kippt seinen Kopf zur Seite und dreht sich herum. Er ist nun wieder im vollen Besitz seiner Sinne. Der Knappe springt von dem Kasten auf den Baum und klettert nach oben, um einen besseren Überblick zu haben.
Der Ritter ist unbewaffnet und von allen Seiten umstellt. Feinde, soweit das Auge reicht. Er beginnt zu kämpfen. Mit seiner mächtigen Faust schlägt er dem ersten Feind ins Gesicht und durch die gewaltige Kraft des Schlages, zerspringt sein Schädel in tausend teile. Mit bloßen Händen beginnt er wie rasend seine Feinde zu zerfetzten. Er dreht sich um sich selbst und wendet jeden tödlichen Angriff auf sich ab. Allerdings kann er nicht jedem Streich, nicht jedem Hieb oder Pfeil ausweichen. Der Knappe stöhnt und schreit, versucht sich aber zu beherrschen. Er muss den Schmerz unterdrücken und alles Beobachten. Er spürt die unbändige Kraft des schwarzen Ritters und sie macht ihm Mut. Der Ritter spürt den Mut des Knappen und er gibt ihm Kraft. Inzwischen ergießt sich aus dem Kasten eine Welle von schwarzem, stinkendem Blut und zerfetzten Körpern. Der gesamte Hain wird von dieser Flüssigkeit in ein stinkendes Moor verwandelt. Die Schar der Gegner bricht nicht ab. Blutend, geschwächt, aber mit schier unendlicher Entschlossenheit kämpft der schwarze Ritter weiter. Er wird weiterkämpfen, selbst wenn die ganze Welt im Blut ertrinkt.
Ich werde weiterkämpfen.