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Ein gefährlicher Hang
Er steht reglos am Fenster seiner Zelle, diesmal schon seit drei Stunden. Apathisch verfolgt er den schleichenden Schatten des rechten Gefängnisflügels bis er die oberste Fensterreihe des linken Flügels erreicht hat. Das macht er tagtäglich. Dann gibt es Abendessen, die Wärter durchstreifen die Korridore und bringen den Häftlingen trockenes Brot und Wurst auf die Zelle. Der Russe nimmt wortlos das Essen in die Hand und stellt Marks Teil auf den kleinen Tisch. Der zeigt keine Reaktion, sondern folgt weiter dem Lauf des Schattens, bis er den ganzen linken Flügel überzogen hat und die Dämmerung eintritt.
„Es gibt Essen“, sagt der Russe.
Mark schweigt.
Offensichtlich fühlt sich der Russe von dem Schweigen seines Zellengenossen provoziert, da er kurz darauf knurrt: „Wem willst du hier eigentlich was beweisen, du Pisser? Willst du vielleicht aus der Reihe tanzen, oder was? Setzt dich hin und iss.“
Richtig. Er musste immer aus der Reihe tanzen. Das hatte ihn ja auch Armin gesagt, an diesem Tag. Er erinnert sich an jeden Moment dieses Tages, als lebte er leibhaftig darin: An den Blick aus dem Bahnfenster, wie die ländliche Umgebung rasend, verschwenderisch an ihm vorbei geflogen war, an die Wachheit seines Bewusstsein, die Klarheit seiner Gedanken. Wie gerade wegen dieser Wachheit das Gegröle und Gelage der mitfahrenden Fußballfans umso unerträglicher gewirkt hatte. Der bierschwangere Gestank war abartig unter seiner Nase gehangen, sein Blut hatte heftig in den Adern pulsiert. Er hatte Angst von einem wichtigtuerischen Protz angepöbelt und herausgefordert zu werden. Er war in der Vergangenheit bereits wegen eines unglücklichen Vergehens aktenkundig geworden. Jetzt hatte er Frau und Kind und sein Leben geregelt.
Er war in die Bahn gestiegen, hatte sich dieser Masse ausgesetzt, um Armin zu sehen, seinen einzigen und letzten Freund. Es war schon lange her, Monate bereits, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten und abgesehen von den wenigen aussagelosen Telefongesprächen, in denen man nur seiner Pflicht die Ehre erwiesen hatte und statt einen Schritt näher, zwei Schritte zurück gewichen war, hatte man vom Anderen nichts Näheres erfahren. Sie waren sich beinahe fremd geworden. Mark wusste genau, was der Grund war, weshalb er sich von seinem Freund distanziert hatte. Er war ihm zu unethisch und in vielen Sachen gekünstelt und verdorben. Doch in letzter Zeit hatte er sich wieder besonnen, sich seine eigene verkorkste Vergangenheit ins Bewusstsein gerufen und sich schließlich die Frage gestellt, ob er überhaupt ein Recht dazu hätte, seinem Freund etwas vorzuwerfen. Deswegen war er in den Zug gestiegen und hatte sich das angetan. Er wollte diese Freundschaft vor dem endgültigen Zusammenbruch wahren, vor dem sie zweifelsohne stand.
Armin sah müde aus, als sie sich trafen. Seine Augen waren rötlich und matt. Nicht das leiseste Zeichen von Freude sprach aus seinen Blicken. Doch Mark hatte es nicht anders erwartet und er tat sich ebenfalls keinen Zwang an, ihm etwas vorzuspielen. Umso mehr wurmte ihn das falsche Höflichkeitslächeln, das Armins Lippen umspielte. Die Umarmung viel kurz und nüchtern aus. Die ersten Minuten des Wiedersehens waren geprägt von oberflächlichen Gesprächsverläufen und nett gemeinten Versuchen, die alte Vertrautheit wieder zu gewinnen. Die beiden Freunde trotteten die Fußgängerzone entlang und suchten ein Café. Als sie eins gefunden hatten und Platz genommen hatten und wenige Minuten später ihre Bestellung erhielten, kam man sich langsam ein wenig näher.
„Du siehst echt fertig aus“, sagte Mark.
„Ich weiß, war ne lange Nacht gestern“, sagte Armin und wirkte auf einen Schlag ganz aufgeweckt, „hab mir bei der Tanke n’ Jacky für den schnellen Durst geholt. Hab dann zwei Kerle getroffen. Die waren korrekt. Sind ins Kasino. Ich hab dort so viel Geld gelassen, du glaubst es nicht.“
Er sagte es so, als wollte er Lob für seine Heldentaten kassieren. Doch Lob für solche Dinge konnte Armin nicht annehmen, er hasste es regelrecht. Genaugenommen gab es zwei Richtungen, die das Gespräch nun einschlagen konnte. Entweder Mark verhielt sich reserviert, doch dann bliebe das Gespräch äußerst leblos und der ganze Nachmittag wäre umsonst. Wenn er aber sein Interesse bekunden würde, so müsste er sich darauf einstellen, dass sein Gegenüber ihm die schmutzigsten Geschichten darüber aufdecken würde, was sich in der gestrigen Nacht noch alles zugetragen habe. Er entschied sich für die zweite Alternative.
„Bist du dann heimgegangen?“, fragte Mark, obwohl er genau wusste, dass Armin nach einem misslungenen Abend im Kasino überall hingehen würde, nur nicht heim.
„Nein. Dann ging’s erst richtig los“, sagte Armin folgerichtig, „ein paar Nasen und dann ging’s ab ins Rotlicht.“
Das Ganze schmückte er mit einem Schmunzeln
„Ach ja?“
„Ja, das war was, sag ich dir. Die Nutte war der absolute Oberhammer. Du willst nicht wissen, wie die drauf war. Total drauf war die! Hat Koks ohne Ende geschnüffelt, die Kleine.“
„Okay?“
„Was für ein Gesicht du machst. Ja, gekokst hat die Sau, aber du sollst nicht glauben, dass sie jetzt so junkymäßig aussah oder so. Die sah top aus.“
„Ja?“, fragte Mark, blickte etwas verlegen.
„Ja und wild war die, wild wie ein Tiger. Nach der ersten Runde, wollte die mich nicht mehr gehen lassen. So einen hatte die schon lange nicht mehr, da bin ich mir sicher.“
„Und bist du geblieben?“
„Ja natürlich, bin ich geblieben. Was denkst du denn.“
„Ich denke gar nicht’s, ich frag doch nur“, erwiderte Mark leicht gereizt. Armin machte ein überraschtes Gesicht, hatte wohl ganz vergessen, dass der da drüben auch empfindet und nicht nur denkt. Für einige Sekunden lastete eine beklemmende Stimmung auf den beiden. Keiner sprach weiter.
„Du weißt“, überwandte Mark sich schließlich und zwang sich eine sachliche Miene ab, „ich finde es nicht gut.“
„Hast ja recht, hast recht. Vergiss alles, was ich dir erzählt habe, vergiss es, okay.“
„Du hast doch eigentlich ganz andere Ziele oder?“, fragte er nun vorsichtig, um zu testen, ob Armin empfänglich war für diese Wende.
„Wie läuft denn dein Jurastudium?“
„Schlecht … wirklich schlecht, aber lass Thema wechseln.“
Er war also nicht bereit, versuchte abzublocken. Früher hatten sie sich noch gemeinsam Gedanken gemacht, über das Dilemma, in dem Armin sich befand. Das hatte sie verbunden. Heute war alles anders. Jetzt wollte Mark es aber wissen: „Wie fühlst du dich denn eigentlich nach solchen Aktionen?“
Armins Brauen zogen sich zusammen. Er tat, als wäre die Frage völlig belanglos: „Schlecht natürlich, schlecht, fühl ich mich, dass weißt du doch …“
Wieso hatte er überhaupt gefragt? Natürlich wusste er … Allah. Nicht das Mark etwas gegen den Islam oder gegen Religion im Allgemeinen hatte, es war nur die Art seiner Glaubenspraxis, dieses paradoxe, falsche Ausleben von Religion. Sie schwiegen. Armin schien Marks Verhalten nicht zu gefallen. Sein Gesicht begann sich zu verzerren, als hätte er irgendeinen pathologischen Tick. Konnte ihm überhaupt irgendein Verhalten gefallen? Wenn Mark Begeisterung zeigen würde, fände er es verwerflich und schwach. Wenn er ihm eine Moralpredigt hielte, würde er sich angegriffen fühlen und beginnen mit Gegenvorwürfen auszuweichen. Wie kam man weiter? Es blieb nur die neutrale Schiene. Doch auch das würde er durchschauen und hinter der Maske der Neutralität die wahre Meinung entdecken oder zumindest vermuten. Es kam wie erwartet. Nach dem Zahlen nahm alles seinen Anfang. Mark hatte kein Trinkgeld gegeben und Armin schnappte zu: „Bist du geizig?“
Marks Puls kam in Fahrt: „Natürlich nicht, aber der Kellner hat ja genügend Geld und du weißt doch, Frau, Kind und Studium.“
Gekonnt schwieg Armin nun und spielte den Verständnisvollen. Mark stieg die Hitze zu Kopf. Da sie Hunger hatten, suchten sie eine Dönerbude auf. Als sie am Tisch saßen und ihren Döner aßen, ging es weiter.
„Bist du glücklich?“ fragte Armin.
„Natürlich bin ich das“, sagte Mark, während sein Blick zum Boden wanderte. Armin blickte ihn an, als hätte er ihn beim Lügen ertappt.
„Du kannst dich glücklich schätzen, Mark. Deine Frau ist super, du hast so ein Glück. Was wärst du nur ohne deine Frau.“
Mark verstand diese Anspielung nur zu gut. Er wollte sagen, dass er ohne seine Frau, geradezu wie er, ein verkorkstes Leben führen würde. Dass er sein Leben ausschließlich wegen der stützenden Rolle seiner Frau und seiner Verantwortung als Familienvater in den Griff bekommen hatte, konnte er sich nicht eingestehen.
„Ich glaube jeder Mann braucht eine Frau, um auf den rechten Weg zu gelangen“, setzte Armin hinzu.
Ihm war Marks Anspannung nicht entgangen. Er versuchte Mark zu besänftigen, indem er mit gespielter Höflichkeit einen schwarzen Tee brachte.
„Schreibst du eigentlich noch und liest so viel?“ fragte Armin ganz plötzlich.
„Ja, natürlich. Ich sitze manchmal stundenlang einfach nur da und lese.“
„Und Schreiben?“
„Ja, das auch.“
„Fühlst du dich nicht manchmal einsam?“
„Nein, ich liebe die Einsamkeit. Ich bin froh wenn ich meine Ruhe von Frau und Kind habe.“
„Weißt du Mark, ich habe ein bisschen Angst, dass du irgendwann den Zugang zur Gesellschaft verlierst. Du fühlst dich zu sehr als etwas Besonderes. Ich habe so das Gefühl“, fügte er noch hinzu, „du willst immer aus der Reihe tanzen.“
Mark versuchte ruhig zu wirken und versagte: „Ach ja? Ich habe wirklich nicht das Gefühl, dass das so ist.“
Schon zog Armin eine neue Maske auf und tat, als gäbe er sich damit zufrieden, wechselte geschickt das Thema.
„Komm wir zahlen, der Tee geht auf mich.“
Er war schon aufgestanden und zur Kasse gegangen, um zu bezahlen. Er kam sich äußerst spendabel vor. Mark nahm sich für unterwegs eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Beim Zahlen hinterließ er, ohne länger darüber nachzudenken, statt vier Euro fünfzig, fünf Euro.
„Du hast fünfzig Cent vergessen“, rief Armin und brachte ihm das Geld, „Beim Döner gibt man doch kein Trinkgeld.“
Mark knirschte mit den Zähnen. Ein Gespräch konnte sich unter diesen Umständen nicht mehr entwickeln. Armin nahm seine Gebetskette aus der Jackentasche und begann mit seiner rauen Stimme auffällig laut arabische Gebetsgesänge anzustimmen. Mark fiel eine Bibelstelle aus der Kindheit ein: „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann der Glaube ihn erretten?“ Armins ganzes Auftreten ging ihn so gegen den Strich, dass er ihm seinen Gedankengang mitteilte und auf seine gestrigen Ausschweifungen anspielte.
„Armin, du redest immer von Allah und so. Ich find das ja wirklich gut. Also echt jetzt. Aber hör mal, wo bleiben die Früchte? Wahrer Glaube muss Früchte tragen, findest du nicht?“
„Ach, Mark. Ich weiß, dass ich in diesen Momenten wie ein Tier bin. Das weiß ich, dazu steh ich. Was soll ich machen?“ Zu allem Überfluss quittierte er dieses lächerliche Geständnis noch mit einem Achselzucken.
Nichts sollst du machen du Schurke, nichts! Damit du deine Marotten auch schön züchtest, wollte er sagen und schwieg. Armin war jetzt völlig zum Clown mutiert. Er sang absichtlich laut und als zwei Jugendliche mit finsteren Mienen vorbeiliefen, sprach er sie an: „Hey Jungs, alles klar? Wisst ihr wo’s was zum Rauchen gibt.“
Es entwickelte sich ein kurzes Gespräch, in dem Armin den Gangster spielte. Wirklich etwas zu besorgen, lag niemals in seiner Absicht. Er wollte sich nur beweisen und aufspielen. Als sie wieder alleine waren und die Straße entlang schlenderten, sagte er zu Mark mit vor Stolz funkenden Augen: „Du siehst, wie leicht es mir fällt, selbst mit Leuten aus diesem Milieu ins Gespräch zu kommen.“
War das wieder eine Anspielung auf seine soziale Verelendung? Das konnte er doch nicht ernst meinen!
Um irgendetwas zu tun und davon abzulenken, nahm er einen Schluck von seiner Cola. Vergeblich. Armin hatte schon alles durchschaut. Er durchblickte jeden noch so kleinen Verstellungsversuch. Wie denn auch nicht, wenn sein ganzes Leben ein einziges Schauspiel war. Er musterte ihn nun provokant und auffällig von der Seite. Mark ignorierte ihn und umklammerte den Hals seiner Colaflasche, als wollte er ihn erwürgen. Aus der anderen Richtung kamen drei grölende Fußballfans auf sie zu. Sie waren in übler Laune und machten keine Anstalten den Weg frei zu machen. Marks Sicherungen brannten durch.
„Wer als Erster Platz macht, Armin.“
„Wir natürlich.“
„Hast du etwa Angst?“
„Ja, ein bisschen.“
Ohne mit der Wimper zu zucken bewegte sich Mark auf die drei Jungs zu. Armin war schon lange ausgewichen und stolperte gekrümmten Rückens neben seinem Freund einher. Davon bekam Mark nichts mehr mit. Der Zusammenprall war absolut sinnlos. Zwei völlig zusammenhangslose Welten stießen mit völlig fremden Problemen aufeinander. Vielleicht wäre ja alles glimpflich ausgegangen und bei einem bloßen Handgemenge geblieben, wenn Mark nicht eine Colaflasche zur Hand gehabt und in seinem Zustand völliger Unkontrolliertheit keinen Einfluss mehr auf sein Tun gehabt hätte. Dem Ersten zog er mir nichts dir nichts die Flasche über den Kopf. Den Rest der zersplitterten Flasche hielt er am Hals wie ein Messer umklammert. Da die Anderen zwei in Rage geraten waren und sich auf ihn stürzten, machte er von dieser Waffe Gebrauch und rammte die Splitterflasche in den Magen eines seiner Angreifer. Der Dritte war dann davon gerannt. Armin stand wie erstarrt ein wenig abseits des Geschehens. Als sich gegen Ende des Unglücks ihre Blicke trafen, sah er aus, als sähe er dem Teufel in die Augen. Er zuckte leicht und lief davon. Vermutlich hatte er den Rest des Tages wie ein Irrsinniger gebetet, um dann abends wieder im Rotlichtviertel zu enden.
„Du legst es darauf an oder?“ drohte der Russe.
„Nein, ich will nicht mehr aus der Reihe tanzen“, gab Mark schließlich ganz leise, wie in Trance zur Antwort.
„Was?!“
„Ich will nie wieder aus der Reihe tanzen“, wiederholte er, wandte sich um, seine Augen wurden ein wenig wacher und er schien sich zu erinnern.
„Essen, richtig?“ fragte er und lächelte seinem Zellengenossen zu.
Das Lächeln wirkte Wunder. Der ergrimmte Gesichtsausdruck des Russen wurde sanft und er schlug Mark leicht auf die Schulter.
„Wieso starrst du da jeden Tag ununterbrochen aus dem Fenster, man? Und dazu redest du kaum ein Wort. Das macht mich nervös, verstehst du?“
Er verstand es und entschuldigte sich. Er nahm einen großen Bissen von seinem Brot.
„Warum bist du eigentlich hier? Du schaust nicht aus wie ein Krimineller?“
Mark erzählte seine Geschichte.
„Alter, du bist ja voll der Psycho. Hat er überlebt?“
„Ja.“
„Und deine Frau?“
„Sie wartet. Sie kennt mich und weiß, dass ich im Kern gut bin.“