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Ein gefährlicher Hang

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28.05.2014
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Ein gefährlicher Hang

Er steht reglos am Fenster seiner Zelle, diesmal schon seit drei Stunden. Apathisch verfolgt er den schleichenden Schatten des rechten Gefängnisflügels bis er die oberste Fensterreihe des linken Flügels erreicht hat. Das macht er tagtäglich. Dann gibt es Abendessen, die Wärter durchstreifen die Korridore und bringen den Häftlingen trockenes Brot und Wurst auf die Zelle. Der Russe nimmt wortlos das Essen in die Hand und stellt Marks Teil auf den kleinen Tisch. Der zeigt keine Reaktion, sondern folgt weiter dem Lauf des Schattens, bis er den ganzen linken Flügel überzogen hat und die Dämmerung eintritt.
„Es gibt Essen“, sagt der Russe.
Mark schweigt.
Offensichtlich fühlt sich der Russe von dem Schweigen seines Zellengenossen provoziert, da er kurz darauf knurrt: „Wem willst du hier eigentlich was beweisen, du Pisser? Willst du vielleicht aus der Reihe tanzen, oder was? Setzt dich hin und iss.“

Richtig. Er musste immer aus der Reihe tanzen. Das hatte ihn ja auch Armin gesagt, an diesem Tag. Er erinnert sich an jeden Moment dieses Tages, als lebte er leibhaftig darin: An den Blick aus dem Bahnfenster, wie die ländliche Umgebung rasend, verschwenderisch an ihm vorbei geflogen war, an die Wachheit seines Bewusstsein, die Klarheit seiner Gedanken. Wie gerade wegen dieser Wachheit das Gegröle und Gelage der mitfahrenden Fußballfans umso unerträglicher gewirkt hatte. Der bierschwangere Gestank war abartig unter seiner Nase gehangen, sein Blut hatte heftig in den Adern pulsiert. Er hatte Angst von einem wichtigtuerischen Protz angepöbelt und herausgefordert zu werden. Er war in der Vergangenheit bereits wegen eines unglücklichen Vergehens aktenkundig geworden. Jetzt hatte er Frau und Kind und sein Leben geregelt.
Er war in die Bahn gestiegen, hatte sich dieser Masse ausgesetzt, um Armin zu sehen, seinen einzigen und letzten Freund. Es war schon lange her, Monate bereits, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten und abgesehen von den wenigen aussagelosen Telefongesprächen, in denen man nur seiner Pflicht die Ehre erwiesen hatte und statt einen Schritt näher, zwei Schritte zurück gewichen war, hatte man vom Anderen nichts Näheres erfahren. Sie waren sich beinahe fremd geworden. Mark wusste genau, was der Grund war, weshalb er sich von seinem Freund distanziert hatte. Er war ihm zu unethisch und in vielen Sachen gekünstelt und verdorben. Doch in letzter Zeit hatte er sich wieder besonnen, sich seine eigene verkorkste Vergangenheit ins Bewusstsein gerufen und sich schließlich die Frage gestellt, ob er überhaupt ein Recht dazu hätte, seinem Freund etwas vorzuwerfen. Deswegen war er in den Zug gestiegen und hatte sich das angetan. Er wollte diese Freundschaft vor dem endgültigen Zusammenbruch wahren, vor dem sie zweifelsohne stand.

Armin sah müde aus, als sie sich trafen. Seine Augen waren rötlich und matt. Nicht das leiseste Zeichen von Freude sprach aus seinen Blicken. Doch Mark hatte es nicht anders erwartet und er tat sich ebenfalls keinen Zwang an, ihm etwas vorzuspielen. Umso mehr wurmte ihn das falsche Höflichkeitslächeln, das Armins Lippen umspielte. Die Umarmung viel kurz und nüchtern aus. Die ersten Minuten des Wiedersehens waren geprägt von oberflächlichen Gesprächsverläufen und nett gemeinten Versuchen, die alte Vertrautheit wieder zu gewinnen. Die beiden Freunde trotteten die Fußgängerzone entlang und suchten ein Café. Als sie eins gefunden hatten und Platz genommen hatten und wenige Minuten später ihre Bestellung erhielten, kam man sich langsam ein wenig näher.
„Du siehst echt fertig aus“, sagte Mark.
„Ich weiß, war ne lange Nacht gestern“, sagte Armin und wirkte auf einen Schlag ganz aufgeweckt, „hab mir bei der Tanke n’ Jacky für den schnellen Durst geholt. Hab dann zwei Kerle getroffen. Die waren korrekt. Sind ins Kasino. Ich hab dort so viel Geld gelassen, du glaubst es nicht.“
Er sagte es so, als wollte er Lob für seine Heldentaten kassieren. Doch Lob für solche Dinge konnte Armin nicht annehmen, er hasste es regelrecht. Genaugenommen gab es zwei Richtungen, die das Gespräch nun einschlagen konnte. Entweder Mark verhielt sich reserviert, doch dann bliebe das Gespräch äußerst leblos und der ganze Nachmittag wäre umsonst. Wenn er aber sein Interesse bekunden würde, so müsste er sich darauf einstellen, dass sein Gegenüber ihm die schmutzigsten Geschichten darüber aufdecken würde, was sich in der gestrigen Nacht noch alles zugetragen habe. Er entschied sich für die zweite Alternative.
„Bist du dann heimgegangen?“, fragte Mark, obwohl er genau wusste, dass Armin nach einem misslungenen Abend im Kasino überall hingehen würde, nur nicht heim.
„Nein. Dann ging’s erst richtig los“, sagte Armin folgerichtig, „ein paar Nasen und dann ging’s ab ins Rotlicht.“
Das Ganze schmückte er mit einem Schmunzeln
„Ach ja?“
„Ja, das war was, sag ich dir. Die Nutte war der absolute Oberhammer. Du willst nicht wissen, wie die drauf war. Total drauf war die! Hat Koks ohne Ende geschnüffelt, die Kleine.“
„Okay?“
„Was für ein Gesicht du machst. Ja, gekokst hat die Sau, aber du sollst nicht glauben, dass sie jetzt so junkymäßig aussah oder so. Die sah top aus.“
„Ja?“, fragte Mark, blickte etwas verlegen.
„Ja und wild war die, wild wie ein Tiger. Nach der ersten Runde, wollte die mich nicht mehr gehen lassen. So einen hatte die schon lange nicht mehr, da bin ich mir sicher.“
„Und bist du geblieben?“
„Ja natürlich, bin ich geblieben. Was denkst du denn.“
„Ich denke gar nicht’s, ich frag doch nur“, erwiderte Mark leicht gereizt. Armin machte ein überraschtes Gesicht, hatte wohl ganz vergessen, dass der da drüben auch empfindet und nicht nur denkt. Für einige Sekunden lastete eine beklemmende Stimmung auf den beiden. Keiner sprach weiter.
„Du weißt“, überwandte Mark sich schließlich und zwang sich eine sachliche Miene ab, „ich finde es nicht gut.“
„Hast ja recht, hast recht. Vergiss alles, was ich dir erzählt habe, vergiss es, okay.“
„Du hast doch eigentlich ganz andere Ziele oder?“, fragte er nun vorsichtig, um zu testen, ob Armin empfänglich war für diese Wende.
„Wie läuft denn dein Jurastudium?“
„Schlecht … wirklich schlecht, aber lass Thema wechseln.“
Er war also nicht bereit, versuchte abzublocken. Früher hatten sie sich noch gemeinsam Gedanken gemacht, über das Dilemma, in dem Armin sich befand. Das hatte sie verbunden. Heute war alles anders. Jetzt wollte Mark es aber wissen: „Wie fühlst du dich denn eigentlich nach solchen Aktionen?“
Armins Brauen zogen sich zusammen. Er tat, als wäre die Frage völlig belanglos: „Schlecht natürlich, schlecht, fühl ich mich, dass weißt du doch …“
Wieso hatte er überhaupt gefragt? Natürlich wusste er … Allah. Nicht das Mark etwas gegen den Islam oder gegen Religion im Allgemeinen hatte, es war nur die Art seiner Glaubenspraxis, dieses paradoxe, falsche Ausleben von Religion. Sie schwiegen. Armin schien Marks Verhalten nicht zu gefallen. Sein Gesicht begann sich zu verzerren, als hätte er irgendeinen pathologischen Tick. Konnte ihm überhaupt irgendein Verhalten gefallen? Wenn Mark Begeisterung zeigen würde, fände er es verwerflich und schwach. Wenn er ihm eine Moralpredigt hielte, würde er sich angegriffen fühlen und beginnen mit Gegenvorwürfen auszuweichen. Wie kam man weiter? Es blieb nur die neutrale Schiene. Doch auch das würde er durchschauen und hinter der Maske der Neutralität die wahre Meinung entdecken oder zumindest vermuten. Es kam wie erwartet. Nach dem Zahlen nahm alles seinen Anfang. Mark hatte kein Trinkgeld gegeben und Armin schnappte zu: „Bist du geizig?“
Marks Puls kam in Fahrt: „Natürlich nicht, aber der Kellner hat ja genügend Geld und du weißt doch, Frau, Kind und Studium.“
Gekonnt schwieg Armin nun und spielte den Verständnisvollen. Mark stieg die Hitze zu Kopf. Da sie Hunger hatten, suchten sie eine Dönerbude auf. Als sie am Tisch saßen und ihren Döner aßen, ging es weiter.
„Bist du glücklich?“ fragte Armin.
„Natürlich bin ich das“, sagte Mark, während sein Blick zum Boden wanderte. Armin blickte ihn an, als hätte er ihn beim Lügen ertappt.
„Du kannst dich glücklich schätzen, Mark. Deine Frau ist super, du hast so ein Glück. Was wärst du nur ohne deine Frau.“
Mark verstand diese Anspielung nur zu gut. Er wollte sagen, dass er ohne seine Frau, geradezu wie er, ein verkorkstes Leben führen würde. Dass er sein Leben ausschließlich wegen der stützenden Rolle seiner Frau und seiner Verantwortung als Familienvater in den Griff bekommen hatte, konnte er sich nicht eingestehen.
„Ich glaube jeder Mann braucht eine Frau, um auf den rechten Weg zu gelangen“, setzte Armin hinzu.
Ihm war Marks Anspannung nicht entgangen. Er versuchte Mark zu besänftigen, indem er mit gespielter Höflichkeit einen schwarzen Tee brachte.
„Schreibst du eigentlich noch und liest so viel?“ fragte Armin ganz plötzlich.
„Ja, natürlich. Ich sitze manchmal stundenlang einfach nur da und lese.“
„Und Schreiben?“
„Ja, das auch.“
„Fühlst du dich nicht manchmal einsam?“
„Nein, ich liebe die Einsamkeit. Ich bin froh wenn ich meine Ruhe von Frau und Kind habe.“
„Weißt du Mark, ich habe ein bisschen Angst, dass du irgendwann den Zugang zur Gesellschaft verlierst. Du fühlst dich zu sehr als etwas Besonderes. Ich habe so das Gefühl“, fügte er noch hinzu, „du willst immer aus der Reihe tanzen.“
Mark versuchte ruhig zu wirken und versagte: „Ach ja? Ich habe wirklich nicht das Gefühl, dass das so ist.“
Schon zog Armin eine neue Maske auf und tat, als gäbe er sich damit zufrieden, wechselte geschickt das Thema.
„Komm wir zahlen, der Tee geht auf mich.“
Er war schon aufgestanden und zur Kasse gegangen, um zu bezahlen. Er kam sich äußerst spendabel vor. Mark nahm sich für unterwegs eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Beim Zahlen hinterließ er, ohne länger darüber nachzudenken, statt vier Euro fünfzig, fünf Euro.
„Du hast fünfzig Cent vergessen“, rief Armin und brachte ihm das Geld, „Beim Döner gibt man doch kein Trinkgeld.“
Mark knirschte mit den Zähnen. Ein Gespräch konnte sich unter diesen Umständen nicht mehr entwickeln. Armin nahm seine Gebetskette aus der Jackentasche und begann mit seiner rauen Stimme auffällig laut arabische Gebetsgesänge anzustimmen. Mark fiel eine Bibelstelle aus der Kindheit ein: „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann der Glaube ihn erretten?“ Armins ganzes Auftreten ging ihn so gegen den Strich, dass er ihm seinen Gedankengang mitteilte und auf seine gestrigen Ausschweifungen anspielte.
„Armin, du redest immer von Allah und so. Ich find das ja wirklich gut. Also echt jetzt. Aber hör mal, wo bleiben die Früchte? Wahrer Glaube muss Früchte tragen, findest du nicht?“
„Ach, Mark. Ich weiß, dass ich in diesen Momenten wie ein Tier bin. Das weiß ich, dazu steh ich. Was soll ich machen?“ Zu allem Überfluss quittierte er dieses lächerliche Geständnis noch mit einem Achselzucken.
Nichts sollst du machen du Schurke, nichts! Damit du deine Marotten auch schön züchtest, wollte er sagen und schwieg. Armin war jetzt völlig zum Clown mutiert. Er sang absichtlich laut und als zwei Jugendliche mit finsteren Mienen vorbeiliefen, sprach er sie an: „Hey Jungs, alles klar? Wisst ihr wo’s was zum Rauchen gibt.“
Es entwickelte sich ein kurzes Gespräch, in dem Armin den Gangster spielte. Wirklich etwas zu besorgen, lag niemals in seiner Absicht. Er wollte sich nur beweisen und aufspielen. Als sie wieder alleine waren und die Straße entlang schlenderten, sagte er zu Mark mit vor Stolz funkenden Augen: „Du siehst, wie leicht es mir fällt, selbst mit Leuten aus diesem Milieu ins Gespräch zu kommen.“
War das wieder eine Anspielung auf seine soziale Verelendung? Das konnte er doch nicht ernst meinen!
Um irgendetwas zu tun und davon abzulenken, nahm er einen Schluck von seiner Cola. Vergeblich. Armin hatte schon alles durchschaut. Er durchblickte jeden noch so kleinen Verstellungsversuch. Wie denn auch nicht, wenn sein ganzes Leben ein einziges Schauspiel war. Er musterte ihn nun provokant und auffällig von der Seite. Mark ignorierte ihn und umklammerte den Hals seiner Colaflasche, als wollte er ihn erwürgen. Aus der anderen Richtung kamen drei grölende Fußballfans auf sie zu. Sie waren in übler Laune und machten keine Anstalten den Weg frei zu machen. Marks Sicherungen brannten durch.
„Wer als Erster Platz macht, Armin.“
„Wir natürlich.“
„Hast du etwa Angst?“
„Ja, ein bisschen.“
Ohne mit der Wimper zu zucken bewegte sich Mark auf die drei Jungs zu. Armin war schon lange ausgewichen und stolperte gekrümmten Rückens neben seinem Freund einher. Davon bekam Mark nichts mehr mit. Der Zusammenprall war absolut sinnlos. Zwei völlig zusammenhangslose Welten stießen mit völlig fremden Problemen aufeinander. Vielleicht wäre ja alles glimpflich ausgegangen und bei einem bloßen Handgemenge geblieben, wenn Mark nicht eine Colaflasche zur Hand gehabt und in seinem Zustand völliger Unkontrolliertheit keinen Einfluss mehr auf sein Tun gehabt hätte. Dem Ersten zog er mir nichts dir nichts die Flasche über den Kopf. Den Rest der zersplitterten Flasche hielt er am Hals wie ein Messer umklammert. Da die Anderen zwei in Rage geraten waren und sich auf ihn stürzten, machte er von dieser Waffe Gebrauch und rammte die Splitterflasche in den Magen eines seiner Angreifer. Der Dritte war dann davon gerannt. Armin stand wie erstarrt ein wenig abseits des Geschehens. Als sich gegen Ende des Unglücks ihre Blicke trafen, sah er aus, als sähe er dem Teufel in die Augen. Er zuckte leicht und lief davon. Vermutlich hatte er den Rest des Tages wie ein Irrsinniger gebetet, um dann abends wieder im Rotlichtviertel zu enden.

„Du legst es darauf an oder?“ drohte der Russe.
„Nein, ich will nicht mehr aus der Reihe tanzen“, gab Mark schließlich ganz leise, wie in Trance zur Antwort.
„Was?!“
„Ich will nie wieder aus der Reihe tanzen“, wiederholte er, wandte sich um, seine Augen wurden ein wenig wacher und er schien sich zu erinnern.
„Essen, richtig?“ fragte er und lächelte seinem Zellengenossen zu.
Das Lächeln wirkte Wunder. Der ergrimmte Gesichtsausdruck des Russen wurde sanft und er schlug Mark leicht auf die Schulter.
„Wieso starrst du da jeden Tag ununterbrochen aus dem Fenster, man? Und dazu redest du kaum ein Wort. Das macht mich nervös, verstehst du?“
Er verstand es und entschuldigte sich. Er nahm einen großen Bissen von seinem Brot.
„Warum bist du eigentlich hier? Du schaust nicht aus wie ein Krimineller?“
Mark erzählte seine Geschichte.
„Alter, du bist ja voll der Psycho. Hat er überlebt?“
„Ja.“
„Und deine Frau?“
„Sie wartet. Sie kennt mich und weiß, dass ich im Kern gut bin.“

 

Hallo meine Schreibgenossen,
hab meine neue Geschichte reingestellt. Hoffentlich viel Spaß beim Lesen :read:

 
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Hallo Danny,

ich habe Deine Geschichte sehr interessant gefunden! Das Thema der scheinbar grundlosen Gewalt bewegt mich sehr. Im Besonderen interessieren mich die Motive, die einen Menschen dazu bringen, andere (besonders, wenn es bloß wild aussehende Fußballfans sind) einfach lebensgefährlich zu verletzen.

Ich persönlich kann allerdings das Motiv für Marks Gewaltausbruch nicht nachvollziehen. Anfangs schreibst du noch

Dieser hatte sich seit Jahren im Griff, blickte zum Boden. Mittlerweile fiel es ihm ausgesprochen leicht.
Dann aber plötzlich brennen bei Mark die Sicherungen durch und er verletzt einen Fussballfan so schwer, dass er dafür im Knast landet. Dass Mark anscheinend frustiert ist, das reicht mir hier als Erklärung einfach nicht.

Überhaupt fällt es mir sehr schwer, mir ein klares Bild von Mark und Armin zu machen und zu verstehen, was für Typen sie sind. Vielleicht denke ich zu sehr in Klischees, und sollte einfach akzeptieren, dass die beiden nicht einfach so in eine Schublade passen. Trotzdem drängt sich mir der Verdacht auf, dass du sie noch besser charakterisieren könntest: einmal durch treffendere (und mehr) Dialoge und zum zweiten, indem du jedem von ihnen eine für ihn typische Sprechweise verpasst. Die wenigen (für meinen Geschmack zu wenigen) Dialoge wirken manchmal etwas hölzern, die Sprechweise der Protagonisten scheint mir etwas altertümlich oder gespreizt. Hier drei Beispiele:

„Und wie hast du dich danach gefühlt?“
Dachte immer, diese Frage nach den Gefühlen würden nur Frauen stellen :-)

Und:

Weißt du Mark, ich habe ein bisschen Angst, dass du irgendwann den Zugang zur Gesellschaft verlierst.
Für einen, der "Alter" zu seinem Freund sagt, ist mir das jetzt zu psychologisch-analytisch.
Das auch:
„Du siehst, wie leicht es mir fällt, selbst mit Leuten aus diesem Milieu ins Gespräch zu kommen.“

Damit komme ich schon zu den noch offenen Fragen, auf die ich im Text keine Antwort finden konnte. Aus welcher Schicht kommen Mark und Armin? Ich kann mir darauf keinen Reim machen. Anfangs dachte ich, Armin und Mark wären zwei Deutsche, die zum Islam übergetreten sind. Dann kam ich zum Schluss, dass Armin der Muslime war, Mark hingegen Student, Vater, Ehemann und ein äußerst bibelfester Christ. (Wer kann schon ganze Sätze aus der Bibel zitieren? Ich mit nicht, trotz meiner katholischen Erziehung.) Dieser Spruch, den Mark so aus dem Ärmel heraus zitiert hat, der war super. Der hat diese Bibelfestigkeit von Mark ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht! Aber was macht Armin? Warum ist er einerseits so strenggläubig, landet andererseits aber immer wieder im Rotlichtmilieu?
Ich hätte gern mehr über die Herkunft sowohl von Armin als auch von Mark erfahren.

An mehreren Stellen hätte ich es wirksamer gefunden, wenn die beschreibenden Sätze als Dialoge ausgearbeitet worden wären, weil das für meinen Geschmack die beiden Protagonisten klarer und eindeutiger charakterisiert hätte (Wie schon oben erwähnt). An diesen Stellen hat mein Leserinnenherz (oder mein Kritikerinnenherz?) gerufen: "Show, don`t tell!" Hier einige Beispiele:

Die ersten Minuten des Wiedersehens waren geprägt von oberflächlichen Gesprächsverläufen und nett gemeinten Versuchen, die alte Vertrautheit wieder zu gewinnen.
Zugegeben, so "leere" Gespräche können schon schwierig oder auch tendenziell langweilg sein, aber sie sind halt aussagekräftiger.

Noch ein Beispiel:

Armin erzählte schmunzelnd jedes noch so kleine Detail und schmückte das Ganze mit schmutzigen Redewendungen aus, während Mark sich den Anschein ungeheuchelten Interesses abzuzwingen bemühte.
Welche Details? Ich möchte die auch wissen! Was für schmutzige Redewendungen? Diese Informationen hätten ich mir gewünscht, damit ich mir ein runderes, vollständigeres Bild von Armin machen kann.

Auch beim folgenden Satz wäre es für mich als Leserin spannender und aufschlussreicher gewesen, wenn du Mark einen direkten, bissigen Kommentar in den Mund gelegt hättest, anstatt diesen beschreibenden Satz zu Papier zu bringen:

Armins ganzes Auftreten ging ihn so gegen den Strich, dass er ihm seinen Gedankengang mitteilte und auf seine gestrigen Ausschweifungen anspielte.
Was konkret hat Mark gesagt, um Armin seinen Gedankengang mitzuteilen?

Oder hier (letztes Beispiel, ich verspreche es):

Es entwickelte sich ein kurzes Gespräch, in dem Armin den Gangster spielte.
Wie spielt Armin den Gangster? Welche Worte verwendet er? Was macht er für ein Gesicht, was verwendet er für Gesten, in welcher Haltung steht er da? In welchem Tonfall sagt er es? U.s.w.
Ich muss allerdings zugeben, ich bin allgemein nicht so der Typ für dezente Anspielungen. Ich habs gern, wenn mir der Autor schwarz auf weiß in seinen Text reinschreibt, was Sache ist. :-)

Das ist mir auch aufgefallen: Warum ist der erste Abschnitt (im Gefängnis) im Präsens? Wenn das eine bewusste schriftstellerische Entscheidung ist, wäre es mir stimmiger vorgekommen, auch den letzten Abschnitt (wieder im Gefängnis) im Präsens zu schreiben, weil ja beide in der Gegenwart spielen. Schon klar, dass die Erzählzeit für die erzählte Gegenwart eigentlich das Präteritum ist.... ;-)

Das folgende finde ich vom Ausdruck her unglücklich gewählt, dann entweder ein Gesicht verzerrt sich natürlich, oder es verzerrt sich gar nicht. Vor allem hatte ich den Eindruck, dass sich in diesem Fall das Gesicht natürlich verzerrt hatte, also auf Grund einer entsprechend negativen Gefühlsregung:

Sein Gesicht begann sich künstlich zu verzerren

Die folgenden Adjektive sind für meinen Geschmack für einen Text aus der Gegenwart "zu mittelalterlich":

ein unsteter Rüpel
die liederlichsten Geschichten

Bei dieser Wendung würde ich auch sehr vorsichtig sein:
ein entartetes Leben
Das erinnert mich einfach zu sehr an den Nationalsozialismus, um den es hier aber nicht geht.

Hier noch ein Tippfehler:

Die Umarmung viel kurz und nüchtern aus.
*fiel*

Fazit: Thema auf jeden Fall top, Charaktere im Ansatz sehr interessant, an der Geschichte könnte man meiner Meinung nach noch etwas schleifen. Auf jeden Fall noch viel Spaß am Schreiben, Danny!

Marlene

 
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Hallo Marlene,
Wahnsinn, wie schnell du geantwortet hast :thumbsup: Viele deiner Kritikpunkte kann ich nachvollziehen, auch wenn es womöglich schwer wird, sie alle umzusetzen. Die veralteten Redewendungen werde ich morgen versuchen, zu ersetzen. Der letzte Abschnitt sollte, wie du richtig gemerkt hast, natürlich auch im Präsens verfasst sein, wird sofort verbessert.
Was die Dialoge angeht, so werde ich vorerst noch warten, ob sich andere Leser in ähnlicher Hinsicht äußern und die Informationen, die hier über die Personen gegeben werden, als zu wenig empfinden. Wenn ich es mir recht überlege, muss ich dir zustimmen, dass hier anscheinend etwas zu wenig in Erfahrung gebracht werden kann und die Personen dadurch etwas zu stereotypisch bleiben, was aber eigentlich nicht in meiner Intention lag. Hab da wohl die Lücken, die fremde Leser gerne schließen wollen, aufgrund meines eigenen Hintergrundwissens nicht so wahrgenommen. Den Text, inbesondere die Charakterisierung der Personen, muss ich also noch mal unter die Lupe nehmen.
Ursprünglich hatte ich auch vor, Passagen einzuführen, die über Armins Leben Auskunft geben, dachte aber irgendwie, es würde den Rahmen sprängen, da ich den Fokus eigentlich auf Mark setzten wollte. Es wird also meine Aufgabe sein, durch den Dialog mehr über Armin kund zu geben.

Wie es dazu kommt, dass Armin so eine paradoxe Glaubenspraxis betreibt, ist in einer Kurzgeschichte, die den Fokus eher auf seinen Gegenspieler setzen will, ebenfalls sehr schwer umzusetzen. Man müsste womöglich über die Kindheit und die Erziehung dieser Person Auskunft geben und das würde dann etwas aus dem Zusammenhang gerissen wirken. Aber ich werde mir Gedanken machen, wie man seinen Charakter dem Leser noch etwas näher bringen kann.
Ich hatte zumindest die Absicht, Armins Glauben als einen scheinbaren Glauben zu entlarven, der in Wirklichkeit eher als Mittel dient, sein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Die Zurschaustellung seiner Gebetskette und die auffälligen Gebetsgesänge, sollten einen Hinweis darauf geben, dass er den Glauben auch nach außen hin kundtun will, ohne jedoch religiöse Tiefe zu besitzen. Sein Glaube dient als Darstellung, sowie ja sein ganzes Verhalten bloße Darstellung ist, was ich mit den häufigen Hinweisen auf das Clownartige und Maskenhafte umzusetzen versucht habe.
Aber ich werde mir die Erzählung nochmals vorknüpfen müssen, da sie vielleicht wirklich zu viele Fragen offen lässt.

Zu deiner Frage nach dem Motiv kann ich zumindest noch eine erklärende Antwort zu geben versuchen, ob sie dir genügt, weiß ich nicht.

"Dieser hatte sich seit Jahren im Griff, blickte zum Boden. Mittlerweile fiel es ihm ausgesprochen leicht."
Hiermit soll angedeutet werden, dass er in seiner Vergangenheit bereits solchen gewalttätigen Ausschreitungen anheim gefallen ist. Bei vielen Männern ist das Motiv für solche Ausschreitungen verblüffend einfältig. Die Fußballfans provozieren ihn ja nur mit Blicken, sie kennen sich ja gar nicht. Sie suchen Streit. Eigentlich scheint jegliches Motiv zu fehlen, dennoch ereignen sich durchaus blutige Schlägereien allein aus dem Grund, da sich Männer von Blicken oder Körpersprache provoziert fühlen.
Er hat sich zwar mittlerweile in Griff, aber er hat nicht damit gerechnet, dass er durch Armin zur Weißglut getrieben wird. Er verliert ja die Kontrolle und findet sich unglücklicher Weise in einer ähnlichen Situation wieder wie am Anfang des Treffens. Doch jetzt kann er sich nicht mehr beherrschen. Seine Aggressionen gelten eigentlich Armin. Das Würgen der Flasche, sollte einen Hinweis darauf geben. Natürlich kann er seinen Freund nicht attackieren. Die Fußballfans sind auch in Pöbellaune.
Daher mein Satz: "Zwei völlig zusammenhangslose Welten, stießen mit völlig fremden Problemen aufeinander." Vielleicht sind die Fußballfans frustriert, weil sie ihr Spiel verloren haben. Mark ist auch völlig erhitzt. Es knallt.
Man kann mir natürlich vorwerfen, dass ich mich des Klischees des gewaltbereiten Fußballfans bediene. Na gut, das nehm ich in Kauf. Und man kann mir auch vorwerfen, dass die Dialoge nicht ausreichen, um Mark zu in solch eine Gewaltbereitschaft zu versetzen. Da müsste man aber natürlich das Gewaltpotential Marks kennen. Ich habe die Geschichte deswegen "ein gefährlicher Hang" genannt, da ich Mark als jmdn konzipieren wollte, der starke Aggressionsprobleme hat, denkt sie im Griff zu haben, durch unglückliche Umstände jedoch wieder rückfällig wird. Ich hoffe, dass ich wenigstens einige Fragen beantworten konnte. Bin auch schon müde. Werde morgen nochmal alles durch den Kopf gehen lassen.
Dass ich die Geschichte nach deiner einsehbaren Kritik nochmal revidieren muss, steht fest. Ich bin dir sehr dankbar, dass du dir soviel Zeit genommen hast.

Liebe Grüße,
Danny Freesen

 

Hallo!
Ich habe deine Geschichte interessiert gelesen. Mir gefiel die Thematik. Allerdings hat mir bei dem Inhalt etwas gefehlt. Du hattest geschrieben, dass Mark zu niemandem ausser Armin Kontakt gehalten hat. Die beiden kamen mir absolut nicht so vor, als wären sie auf einer Wellenlànge. Vielleicht liegt es an der Entfremdung, doch ich hätte es interessant gefunden, warum Armin der Einzige war mit dem Mark Kontakt hatte. Das ist aber auch der einzige "Kritikpunkt" meinerseits. Ich hoffe ich habe in dem Text nichts dergleichen überlesen.
Mfg
Chiarella

 

Hallo,

auf mich wirkt der Text unentschlossen, und die Dialoge wirken einfach geschrieben, da ist nichts Orales, nichts Lebendiges. Das wirkt, als wollte der Autor noch schnell seine Weltsicht erklären. Das größte Problem dieses Textes ist aber - der Autor mischt sich permanent ein. Die Figuren können sich nicht entwickeln, da ist kein Boden, kein backstory, die sprechen ja nicht mal echt, sondern in Schriftdeutsch. Da hilft auch kein geil geil Nutten Arsch was. Der Autor benutzt die Figuren als Inhaltsvermittler, nicht als eigenständige Charaktere, und das liest man halt in jeder Zeile.

Er war 25 Jahre alt und hatte eine Sozialphobie.

Das müsste der Leser als Prämisse nach dem Lesen selbst resümieren. Man sollte dem Leser zeigen, nicht alles erzählen. Dem Leser anhand Reaktionen und Dialog zeigen: Der hat eine Sozialphobie. Der Text hat extrem viel Ballast, den man szenisch auflösen müsste. So wirkt er langatmig und man beginnt, Teile zu überspringen.

Ich weiß auch nicht, wo der erzählerische Kern liegen soll. Das ist weder Fleisch noch Fisch. Eine konservative, aber an sich aufgezwungene Lebenseinstellung gepaart mit persönlicher Hybris, und als Kontrast der religiöse Eiferer, der seinen Glauben mißbraucht. Am Ende gibt es aufs Maul. Fussballfans, wer sonst? Also, der trieft vor Klischees, der Text, und das eigentliche Problematische ist, dass er auf nichts richtig eingeht, keinen wirklichen Grundkonflikt hat, die Prots durch nichts durch müssen, sich nicht entwickeln könne. Die bleiben immer Schablonen vor nebulösem Hintergrund.

Gruss, Jimmy

 
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Hallo Jimmy,

Hallo,
Der Autor benutzt die Figuren als Inhaltsvermittler, nicht als eigenständige Charaktere, und das liest man halt in jeder Zeile.

Da hast du aber einen außergewöhnlichen Spürsinn. Ich denke nicht, dass das in jeder Zeile herauszulesen ist. Genaugenommen verschwindet der Erzähler sogar hinter den Figuren. Dass was du als Weltansicht gelesen hast, ist die Interaktion der beiden Figuren und ihre eigene Weltansicht. Du fandest es nun mal nicht sehr überzeugend und oberflächlich. Okay, ist gut. Von der Weltansicht des Erzählers finde ich keine Spur.
Wäre nett wenn du auch Klartext sprechen könntest, anstatt solche Thesen in den Raum zu werfen. Wo beispielsweise ließt sich denn für dich die Weltansicht des Erzählers so offensichtlich aus den Zeilen? Damit könnt ich dann was anfangen. So wie du das vermittelst leider nicht.
Aber ich versteh. Wenn einem der Text nicht gefällt hat man auch keinen Nerv noch einzelne Passagen herauszupicken, würde ja auch zu lange dauern.

Mit einer Aussage von dir konnte ich wenigstens was anfangen. Hab die Sequenz mit der Sozialphobie und einigen anderen Informationen herausgenommen, weil ich dir da recht geben muss, dass es Aufgabe des Lesers sein sollte, diese Sachen zu erschließen. Dafür danke ich dir. Und auch dafür, dass du die Geschichte gelesen und rezensiert hast.
Dennoch finde ich solche Kritiken immer sehr lässig dahergesagt, an sich aber sehr inhaltslos.
Eine Überfülle von Klischees kann ich auch nicht erkennen.

Gruß, Danny

 

Autor:
Warum zum Teufel hatte er sich nur dieser homogenen, stumpfsinnigen Masse ausgesetzt?

"Zwei völlig zusammenhangslose Welten, stießen mit völlig fremden Problemen aufeinander."

Es geht auch nicht um den Erzähler, sondern um den Autoren, der kommentiert und sozusagen permanent eingreift. Man würde mehr Wirkung erzielen, war das alles wirklich szenisch aufbereitet. Es gibt Autoren, die empfinden ein "sagte leise" schon als eine Einmischung des Autoren. Warum? Wenn man Dialoge meisterhaft beherrscht, liest der Rezipient das so mit. Er kann dem Dialog mit all seinen Höhen und Tiefen folgen. Das meinte ich. Du hast da ein Anliegen im Kopf, und das legst du deinen Protagonisten in den Mund, und ich merke das als Leser. Deine Charaktere agieren in einem Auftrag, die sind nicht sie selbst. Da fehlt auch das Detail, und das Authentische. So sehe ich nur den Autoren, der etwas vermitteln will (mir ist halt auch nicht klar, was genau?), und dann kann ich den Figuren nichts mehr abnehmen, denn sie wirken eben durchsichtig, wie Schablonen.

Ich hoffe, das war Klartext genug.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy,

hab jetzt ein etwas besseres Bild davon, was du meinst. Danke.

Gruß, Danny

 

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