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Ein gebrauchter Tag
Manchmal wäre es besser, morgens gar nicht erst aufzustehen.
Es gibt diese Tage, in denen von Anfang an der Wurm steckt. Kennt wohl irgendwie jeder. Gebrauchte Tage.
Gestern war für mich so ein Tag.
Es begann damit, dass mein Wecker nicht klingelte.
Obwohl ich ihn gestellt hatte, ehrlich!
Irgendwie bin ich dann doch wach geworden, allerdings zu spät.
Und wenn ich etwas hasse, dann sind es diese überstüzten, kaffeelosen, „Wasser- ins-Gesicht-spritzen, und Zähne putze ich im Büro“- Aufbrüche in einen Arbeitstag.
Natürlich fand ich meinen Autoschlüssel erst nach hektischer Suche und unter Ausstoßung wüstester Schimpfkanonaden in der Küche, wo ich ihn nie hinlege.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass mein Auto erst ansprang, als die Batterie schon fast leer war.
Kennen Sie das „Lippenstift-Gesetz“?
Eigentlich sind grundsätzlich alle Ampeln rot, wenn man es eilig hat.
Braucht man aber einmal im Leben eine rote Ampel, um sich die Lippen anzumalen, hat man konstant „grüne Welle“. Haben Sie schon einmal versucht, während der Fahrt einen Lippenstift zu benutzen? Können Sie vergessen, es geht nicht! Es wackelt einfach zu sehr.
Und dieses Gesetz griff unbarmherzig. Wütend warf ich irgendwann das Schminkutensil auf die Rückbank. Klar, dass die nächste Ampel rot war.
Und klar, dass mein Arm zu kurz war, es wieder hervor zu angeln!
Und die Rotphase war natürlich zu knapp, um schnell auszusteigen, und den Lippenstift zu holen.
Dass an meinem Arbeitsplatz mal wieder kein Parkplatz frei war, ist ja schon normal, es regte mich nicht einmal mehr auf.
Als ich dann endlich im absoluten Halteverbot einen BMW-Fahrer im Kampf um den Parkplatz besiegte, zeigte mir meine Armbanduhr an, dass ich bereits zwanzig Minuten zu spät dran war. Wütend sprang ich aus dem Auto, knallte die Tür ins Schloss und rannte zum Haupteingang. Atemlos erreichte ich den Fahrstuhl, und nach Luft ringend drückte ich mit letzter Kraft auf den Anforderungsknopf. Da blieb mein Blick an einem Schild hängen, das an der Fahrstuhltür angebracht war: „Fahrstuhl außer Betrieb“.
Verzweifelt drehte ich mich um, schluckte aufkeimende Tränen des Zornes herunter und ging zum Treppenhaus. Ich arbeite im zwölften Stockwerk, das nur nebenbei.
Mit zusammengebissenen Zähnen sprintete ich die Treppen hoch, bis fast in den zweiten Stock. Da verließ mich bereits meine Kondition, und meine Beine waren wie aus Wackelpudding. Ab dem achten Stockwerk schmerzte jeder Atemzug.
Mühsam zog ich mich am Geländer hoch, immer langsamer wurde mein Schritt.
Mit hervorquellenden Augen, völlig außer Atem erreichte ich die Stechuhr, und führte meine Karte ein.
Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, und versuchte, in so etwas wie einen Atemrhythmus zu kommen.
Nach einer halben Ewigkeit gelang es mit, die Sterne zu verscheuchen, die um meinen Kopf herumschwirrten, und ich trat ins Büro ein. Kopfschüttelnd musterten mich meine drei Arbeitskolleginnen, mit denen ich meinen Wirkungsbereich teilte. „Guten Morgen,“ schnaufte ich, und bekam prompt einen Hustenanfall. Schnell huschte ich an meinen Schreibtisch, wo ich mich hinter Aktenbergen versteckte.
Wollen Sie hören, wie mein Tag weiterverlief?
Als ich meinen PC einschaltete, fuhr er hoch, um gleich darauf abzustürzen. Systemabsturz, alle Daten der letzten Tage, die ich leichtsinniger Weise noch nicht gesichert hatte, waren weg. Unwiderruflich.
Bei dem Versuch, das CD-Laufwerk manuell zu öffnen, brach ich mir meinen Lieblingsfingernagel ab.
Der Kaffee, den mir eine mitfühlende Kollegin brachte, landete auf meinem Rock.
Als ich widerrechtlich ein Privatgespräch mit meiner besten Freundin Annemarie führte, um mich auszuheulen, stand plötzlich mein Chef hinter mir.
Mittags gab es in der Kantine Grützwurst, etwas ungeheuerlicheres kann ich mir nicht vorstellen. Also trank ich ein Wasser, ist ja auch besser für die Linie.
Am Nachmittag hatte ich viel zu kopieren, das Papier war in dem Moment verbraucht, als ich den Kopierraum betrat. Neues Papier gab es im ersten Stock, der Fahrstuhl war noch immer defekt!
Schließlich ließ mein Chef mich die Zeit nacharbeiten, die ich zu spät gekommen war.
Deshalb waren auch die Geschäfte bereits geschlossen, als ich endlich gehen durfte, und ich konnte nichts mehr einkaufen.
Mein Auto stand nicht mehr im absoluten Halteverbot, es war abgeschleppt worden!
Ich konnte es erst am nächsten Morgen auslösen!
Mit Bus und Bahn schlug ich mich mit dem Mut der Verzweifelten nach Hause durch , wo ich dann vor meiner Wohnungstür einen Weinkrampf erlitt, weil mein Haustürschlüssel in meinem Auto im Handschuhfach schlummerte.
Die Nachbarin mit dem Ersatzschlüssel war nicht zu Hause, und da ich im zweiten Stockwerk wohne, kam auch keine Fensterkletterei in Frage.
Aus der Telefonzelle zwei Strassen weiter rief ich den Schlüssel-Notdienst an.
Knappe zwei Stunden später kam Hilfe in Gestalt eines freundlichen jungen Mannes, der meine Wohnungstür demolierte. Gegen die Bezahlung einer restlos überteuerten Rechnung in Höhe von einhundert Euro für drei Minuten Arbeit gewährte er mir dann auch Einlass.
In meinem Kühlschrank verstarb eine einzelne Tomate, und mit knurrendem Magen legte ich mich mit einer Flasche Rotwein, die ich noch auf dem Balkon stehen hatte, ins Bett.
Also, wenn morgen auch wieder so ein Tag sein sollte, wie heute, dann stehe ich morgen gar nicht erst auf!